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Über das Buch

In seinen Aufsätzen und Reden hat sich Canetti vielfältig mit den Künsten auseinandergesetzt, mit der Literatur von Johann Peter Hebel über Gottfried Keller bis zu Franz Kafka, Marcel Proust und James Joyce, mit der Bildhauerei und Malerei von Georg Merkel über Fritz Wotruba bis zu Alfred Hrdlicka, und immer wieder mit dem Theater. Diese Sammlung ergänzt den von ihm selbst zusammengestellten Band Das Gewissen der Worte.

 

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Elias Canetti

Aufsätze

Reden

 

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

Upton Sinclair wird fünfzig Jahre alt

Naivität, zu simple Darstellung längst als kompliziert erkannter Vorgänge, unbeirrbare Gleichgültigkeit den »Mysterien« des einzelnen gegenüber sind die Hauptvorwürfe, mit denen ein ästhetisiertes Europa Upton Sinclair abtut. Amerikas Antipathie gegen ihn hat sehr reale und direkte Ursachen. Ein Europäer, also Zyniker, sieht Sinclair einfach hohnlächelnd zu und schlägt aus diesem seltenen harten Stein seine Geistesblitze: »Schmutz ist uninteressant. Aufgewirbelt verpestet er auch noch die Luft. Und was erreicht man schon!« Der Amerikaner, also Praktiker, findet ganz im Gegenteil, daß damit genug erreicht wird, jedenfalls mehr, als ihm lieb ist. Er verbietet drum ›Petroleum‹ wegen unsittlicher Szenen, wobei sogar er ahnen dürfte, daß die Liebesszenen das wenigst Aufreizende an Sinclairs Werk sind.

Im dritten Weltteil, Rußland, entspricht die Verbreitung der Bücher Sinclairs fast jener der Bibel in den angelsächsischen Ländern. Der Russe, das heißt der kraftvolle Schwächling, zu dem im Westen die kraftlosen Schwächlinge beteten, stirbt zum Glück in Rußland aus. Die Bolschewisten, bekanntlich Dogmatiker – aber praktische –, finden den friedfertigen Materialisten Sinclair geeignet genug, um obigen Russen zur Strecke zu bringen.

Die Wirkung Sinclairs auf Europa wird mit seinem größten Roman ›Boston‹, der den Fall Sacco-Vanzetti behandelt, ihren Kulminationspunkt erreichen. Wem es bisher nicht klar war, der wird an diesem Werk erkennen, wie elementar Sinclairs Naivität ist. Man hat sie also ebenso ernst zu nehmen, wie sie sich gibt. In einer Zeit, wo die wissenschaftliche Entdeckung des Unterbewußtseins sich allzu bewußt in der Kunst breitmacht, werden die einfachsten, primärsten und notwendigsten Tatsachen nicht mehr der Aufnahme für wert gehalten. Welcher Hochmut der aufstoßenden Komplexe! Welch gefährliche Rache der aufgedrängten Verdrängtheiten! Sinclair weiß sehr gut um den analytischen Spuk, das heißt er nahm ihn zur Kenntnis und ließ sich nicht von ihm vergewaltigen. Wer könnte das hier von sich behaupten?