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JAN ASSMANN
Totale Religion

JAN ASSMANN

Totale Religion

Ursprünge und Formen
puritanischer Verschärfung

PICUS VERLAG WIEN

Für Jan-Heiner Tück

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG: POLYTHEISMUS UND DIE SPRACHE DER GEWALT

1. MONOTHEISMUS UND DIE SPRACHE DER GEWALT

Cultura facit saltus: Rhetorik des Bruchs und der radikalen Wende

Gottes Eifersucht und menschliches Eifern: Der Monotheismus der Treue

Antikanaanismus: Konversion und der Hass auf die eigene Vergangenheit

Der Monotheismus der Wahrheit und die Religionssatire

2. OFFENBARUNG UND WIDERSTAND: DIE TRAGISCHE SEITE DES GOTTESBUNDES

Der »Conflict zwischen Unglauben und Glauben« (Goethe)

Die Szenen des »Murrens«

Mose und das gewaltsame Geschick der Propheten

3. DIE TOTALE RELIGION UND DER RELIGIÖSE ERNSTFALL

Carl Schmitts Lehre vom Ernstfall

Im Zeichen des Ernstfalls: Der Zorn Gottes und die puritanische Verschärfung

Gewalt als Schrifterfüllung und Gottesdienst

Puritanismus und Zelotismus: Die Makkabäer

SCHLUSS: AUSGÄNGE AUS DER SPRACHE DER GEWALT

LITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

Im Jahre 2004 hielt ich im Wiener Rathaus auf Einladung Hubert Christian Ehalts eine Vorlesung über »Monotheismus und die Sprache der Gewalt«, die zwei Jahre später in der Reihe Wiener Vorlesungen im Picus Verlag erschien. Die ungeahnte Aktualität, die dieses Thema in den vergangenen zwölf Jahren gewonnen hat und die Debatten, die sich um das Thema »Monotheismus und Gewalt« entfaltet haben1, in deren Verlauf sich naturgemäß auch meine Position in diesen Fragen weiterentwickelt hat, ließen es sinnvoll erscheinen, die kleine Schrift nach der inzwischen vergriffenen 6.Auflage nicht noch einmal nachzudrucken, sondern durch ein Buch zu ersetzen, das sich dem Thema in wesentlich erweitertem Rahmen widmet. In das erste Kapitel sind Teile der damaligen Vorlesung eingegangen und im Licht neuer Forschungen ergänzt worden. Das zweite Kapitel, das den Widerstand beleuchtet, den die neue Religion der herrschenden Religion entgegensetzt und mit dem sie ihrerseits von dieser Seite konfrontiert wird, beruht zu Teilen auf dem 9.Kapitel meines Buches »Exodus. Die Revolution der Alten Welt« (2015). Dem dritten Kapitel schließlich, in dem es um die Beziehung zwischen Worten und Taten, einer Sprache der Gewalt und deren praktischer Umsetzung geht, liegen Studien zu den Makkabäerkriegen2 und zur Frage eines religiösen Totalitarismus3 zugrunde.

Ich danke Hubert Christian Ehalt für die Einladung, die den Anstoß zu dieser Arbeit gegeben hat, dem Picus Verlag, insbesondere Alexander Potyka und Barbara Giller, der die damalige kleine Publikation durch viele Auflagen hindurch präsent gehalten sowie die jetzige Ausarbeitung angeregt und betreut hat und schließlich auch dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaft (IFK) Wien, das mich 2004 für ein Semester einlud und 2016 durch eine Aleida Assmann gewährte Fellowship auch meinen jetzigen Aufenthalt in Wien ermöglicht hat. Besonders dankbar bin ich auch dem Dogmatiker der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Jan-Heiner Tück, der mich in den letzten Jahren regelmäßig zu Tagungen, Gesprächen und Vorträgen nach Wien geholt und mir dadurch Gelegenheit gegeben hat, die hier behandelten Themen und Thesen immer wieder neu zu durchdenken und zu entwickeln. Ihm ist daher dieses Buch gewidmet.

Jan Assmann
Wien, im April 2016

EINLEITUNG
POLYTHEISMUS UND
DIE SPRACHE DER GEWALT

Die Sprache der Gewalt ist kein Spezifikum des Monotheismus. Sie findet sich auch in den Texten polytheistischer Religionen in reicher Fülle. Ein besonders drastisches Beispiel bieten die ägyptischen Rituale zur Vernichtung von Gottesfeinden, etwa das »Ritual, Apopis zu fällen«.4 Auf diesen Text möchte ich einleitend etwas näher eingehen, um von vornherein klarzustellen, in welchem Sinne der Begriff einer religiösen Sprache der Gewalt in diesem Buch nicht gemeint ist. In der altägyptischen Vorstellungswelt ist Apopis eine riesige Wasserschlange, die sich Tag für Tag dem Sonnengott bei seiner Barkenfahrt über den Himmel entgegenstellt und damit droht, den Himmelsozean auszusaufen und die Sonnenbarke auf Sand laufen zu lassen. In dieser Schlange verkörpert sich eine Gravitation zu Chaos, Stillstand und Auflösung, gegen die der geordnete Lauf der Welt unablässig durchgesetzt werden muss. Diesem Kampf der Götter gegen das Chaos schauen die Menschen nicht gleichgültig zu, denn von seinem Ausgang hängt ihr Wohlergehen ab. Der Sonnenlauf wird daher auf Erden mit Riten begleitet, die einen doppelten Sinn haben: den Sonnengott zu preisen und Apopis zu bekämpfen. »Man jubelt der Uräusschlange zu und speit auf Apopis«, lehrt der weise Amenemope.5 Dem Sonnengott gelten Liebe, Entzücken, hingerissene Bewunderung; dem Apopis dagegen Hass, Abscheu und blanke Vernichtungswut.

Eines dieser Hassrituale gegen Apopis ist uns erhalten. Es handelt sich um einen für ägyptische Verhältnisse auffallend umfangreichen Text (52 Seiten autografierter Hiero­ glyphentext in der Edition Faulkner) und eine wahre Orgie an gewalttätigen Vernichtungsfantasien, die sich aber nicht auf einen irdischen, politischen Feind, sondern gegen ein Wachsbild des kosmischen Feindes richten, das in jeder erdenklichen Weise malträtiert und schließlich im Feuer vernichtet wird. Der erste Spruch wird rezitiert: »Auf Apopis zu spucken«, der zweite: »Die Harpune zu nehmen, um Apopis zu treffen«, der dritte: »Apopis zu binden«, der vierte: »das Messer zu nehmen, um Apopis zu stechen«, der fünfte: »Feuer an Apopis zu legen«, der sechste; »Apopis ins Feuer zu werfen« und so weiter. Die begleitenden Sprüche sind ein Musterbeispiel von »hate speech«. Es handelt sich um endlose Tiraden des Hasses und Vernichtungswunschs, die gegen den kosmischen Feind geschleudert werden. Das Ganze soll morgens, mittags, abends, nachts, sogar zu jeder Stunde rezitiert werden, natürlich auch an den hohen Festtagen und auch bei Bedarf, das heißt bei Sturm, Bewölkung, Unwetter, wenn sich der Osthimmel rötet oder ein Gewitter aufzieht. Auf diese Weise wird der Sonnenfeind abgewehrt und der Sonnenlauf in Gang gehalten. Dieses Ritual hat aber nicht nur eine kosmische, sondern auch eine politische Bedeutung. Der ganze Text ist durchgängig auf dem Parallelismus von Kosmos und Königtum aufgebaut. Die Unterscheidung von Freund und Feind wird in die Götterwelt projiziert und mit dem Wirken des Sonnengottes in Parallele gesetzt, der ebenfalls zwischen Freund und Feind unterscheidet, indem er seine lebensschaffende Wärme und Leuchtkraft den Guten zuwendet und seine vernichtende Glut gegen den Bösen richtet. Die Feinde Pharaos werden mit dem Sonnenfeind gleichgesetzt und dessen Schicksal ausgeliefert. Was Pharao dem Sonnenfeind antut, wird gleicherweise den Feinden Pharaos angetan. »Komm zu Pharao, Re, fälle ihm seine Feinde wie er dir Apopis gefällt und dir den Bösartigen bestraft hat«6; »Siehe, Pharao vertreibt dir alle deine Feinde, Re, vertreibe du auch alle seine Feinde unter Lebenden und Toten«7. Alle Kampfhandlungen von Göttern, die am Kampf gegen Apopis teilnehmen, um ihn mit Schwert und Feuer zu vernichten, richten sich gleichzeitig auch gegen die Feinde Pharaos. »Horus nimmt seine Harpune von Erz, um die Köpfe der Feinde des Re und der Feinde Pharaos zu zerschmettern«8, »die Schlächter nehmen ihre Messer, um die Feinde des Re zu fällen, um die Feinde Pharaos zu fällen«9 – so ist völlig klar, dass dieses Vernichtungsritual zugleich mit der kosmischen auch die politische »Wohlfahrt« befördert und mit dem Sonnenlauf auch die pharaonische Herrschaft in Gang hält. Entsprechende Rituale gelten auch dem Gott Seth, dem Mörder des Osiris, den die Griechen dem Typhon gleichsetzten.10 Daher die Furcht, dass die äußeren und inneren Feinde die Oberhand gewinnen, wenn die Wachsfiguren des Apopis-Drachens und des Seth-Typhon einmal nicht vorschriftsmäßig malträtiert werden:

Wenn man die Osiris-Zeremonien vernachlässigt

zu ihrer Zeit an diesem Ort […]

dann wird das Land seiner Gesetze beraubt sein

und der Pöbel wird seine Oberen im Stich lassen

und es gibt keine Befehle für die Menge.

Wenn man den Feind nicht köpft, den man vor sich hat

aus Wachs, auf Papyrus oder aus Holz nach den Vorschriften des Rituals,

dann werden sich die Fremdländer gegen Ägypten empören

und Bürgerkrieg und Revolution im ganzen Land entstehen.

Man wird auf den König in seinem Palast nicht hören

und das Land wird seiner Schutzwehr beraubt sein.11

Solche Rituale, in deren begleitenden Rezitationen auf kras­ seste Weise Hass und Vernichtungsfantasien zum Ausdruck kommen, hat es im Alten Ägypten in Fülle gegeben und in anderen »poly-« oder »kosmotheistischen« Religionen wird es nicht viel anders aussehen. Warum also gerade die dem Monotheismus eigentümliche Sprache der Gewalt zum Thema machen? Dazu möchte ich einleitend einige Punkte hervorheben, die mir wichtig erscheinen:

Die Sprache der Gewalt ist in den ägyptischen Texten strikt rituell gerahmt. Es handelt sich um symbolische Gewalt, die nicht an Menschen, sondern an Wachsfiguren und ähnlichen Bildern ausagiert wird. Adressaten dieser Hassreden sind Götterfeinde wie der Sonnenfeind Apopis und der Osiris-Feind Seth, in denen die Angst vor kosmischer Auflösung und politischem Zerfall Gestalt gewinnen. Rituale, die Angst, Hass und Feindschaft auf symbolische Weise ausagieren, gehören zu einem magisch-mythischen Weltbild, das durch den biblischen Monotheismus aus den Angeln gehoben wird. Der biblische Glaube an den Schöpfergott befreit von der ägyptischen Sorge, dass ohne Staat und Kult die Welt aus den Fugen geraten würde. Daher sollten Angst, Hass und Gewalt in dieser neuen Religion keinen Platz haben.

Indem der biblische Monotheismus Recht und Moral zu Gegenständen der Offenbarung macht und damit in das Zentrum der Beziehung zwischen Gott und Volk, Gott und Mensch rückt, hebt er die Grenze zwischen Ritual und Lebenswelt auf. Die biblischen Propheten werden nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass nicht Opferkult und Feste das Volk mit Gott versöhnen und wohlgefällig machen, sondern ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit, in treuer Befolgung der ihm gegebenen Gebote. Nicht allein der Kult, sondern das ganze Leben soll Gottesdienst sein. Damit ist ein entdifferenzierendes, totalisierendes Element in die Kultur gekommen, das in der deuteronomistischen Tradition zum ersten Mal geschichtlich hervortritt und in vielen späteren Formen von radikalem Puritanismus bis heute lebendig ist.12 Alle Bereiche der Kultur wie Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst werden der Tendenz nach von der Religion in den Dienst genommen. Damit verlässt auch die rituelle Sprache der Gewalt den Bereich des Kults und dringt in andere Bereiche der Lebenswelt ein (siehe hierzu das dritte Kapitel).

Das frühe Judentum ist in einem Akt revolutionärer Abkehr aus einer Religion hervorgegangen, die es mit den Metaphern des Ehebruchs und der Hurerei als unrein, treulos und sündhaft anklagt (zum Beispiel Lev 17,7; Hos 3,3; Hos 4,10.11–15.18; Hos 5,3; Hos 9,1, Ezechiel widmet zwei ganze Kapitel, 16 und 23, diesem Thema). Dieser Akt, der im Jahre 622 vor Christus stattgefunden haben soll, wird im 2.Buch der Könige geschildert und mit König Joschija verbunden. Wie immer man die Historizität der »Joschijanischen Kultreform« einschätzen will, in ihrer sprachlichen Darstellung wird sie mit brutaler Gewalt im Zeichen der Reinheit durchgeführt. Es handelt sich um die erste radikal-puritanische Säuberungsaktion, von der die Geschichte weiß. Gerechtfertigt wird diese Aktion durch den Bezug auf ein »Buch des Mose«, in dem die reine Lehre (Torah) niedergelegt ist, das heißt die von JHWH am Sinai offenbarten Regeln des Bundes und ihre Auslegung. In diesem Buch erblickt man allgemein das Deuteronomium (Devarîm).13 Der Abkehr der puritanischen Deuteronomisten von der herrschenden Religion ging also in dieser Geschichtsdarstellung die Abkehr der herrschenden Religion von der ursprünglichen Torah des Mose voraus. Der radikale Puritanismus14 versteht sich in seinen verschiedenen Erscheinungsformen bis heute nicht nur als Abkehr, sondern auch und vor allem als Rückkehr zur Reinheit des Ursprungs (salaf im Arabischen).

Reinheit liegt als Ideal allen Religionen zugrunde. In allen gibt es die Unterscheidung rein/unrein. Im Alten Ägypten ist wcb, »der Reine«, der allgemeinste Priestertitel. Das Ideal der Reinheit verbindet sich aber in den »heidnischen« Religionen der alten Welt mit dem Kult und dem Priestertum, das durch eine Fülle von Vorschriften körperlicher und moralischer Reinheit aus der alltäglichen Lebenswelt ausgegrenzt wurde. Puritanismus ist in diesen Religionen undenkbar, weil die Reinheitsgebote allein Kult und Priestertum, aber nicht Kultur und Gesellschaft betreffen. Auch Echnatons Umsturz, der um die Mitte des 14.Jahrhunderts in Ägypten die traditionelle Götterwelt abschaffte, die Tempel schloss, die Priester entließ, die Feste und Riten einstellte, womit zweifellos ein hohes Maß an Gewalt einherging, hat nichts mit einem Ideal von Reinheit zu tun, sondern mit einem neuen Weltbild, das nur noch die eine Sonne als Ursprung von Leben und Wirklichkeit anerkannte. Der prophetische, deuteronomistische Puritanismus, der die Grenze zwischen Kult und Alltag einreißt, weitet die priesterlichen Reinheitsregeln auf das ganze Volk aus: »Ihr sollt mir sein ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk.« (Ex 19,6) »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig« (Lev 11,44.45; 20,26). So wie bisher die Priester von der profanen Lebenswelt, sollte sich das ganze Volk Israel von der übrigen Völkerwelt abgrenzen und nach Regeln der Reinheit leben, die ihm allein gegeben wurden. Dieses globale Priesteramt auf sich zu nehmen, erfordert eine ungeheure Entscheidung. Der Bund, den JHWH den Israeliten anbietet, wird immer wieder gebrochen, muss immer wieder erneuert, muss vor allem ständig innerlich nachvollzogen werden. Er fordert einen neuen Menschen und verbindet sich zwar mit großen Verheißungen, aber auch mit einer Gewalt, die der neue Mensch vor allem sich selbst antun muss, um nicht in seinen früheren Zustand zurückzufallen. Dieser innere Nachvollzug der Unterscheidung von Reinheit und Profanität und der Entscheidung für ein Leben im Zeichen der Reinheit erfordert eine Anstrengung, die im Islam djihad heißt. Die Religion, die hier entsteht, hebt die traditionelle Einheit von Abstammung, Kultur und Religion aus den Angeln. Dass doch auch das Judentum an seiner ethnischen Definition (Abstammung von Abraham) festhält, ist nicht der Punkt, sondern dass fortan das Prinzip der Zugehörigkeit zur Religion durch das Gesetz definiert wird, sodass zwischen ethnischen und religiösen Juden unterschieden wird und man als Jude geboren sein und trotzdem nicht als Jude im religiösen Sinn gelten kann. Was zählt, ist nicht die Geburt, sondern die Gesetzestreue. So gilt bereits für die Juden, was Tertullian von den Christen gesagt hat: Fiunt, non nascuntur Iudaei, Juden werden gemacht, nicht geboren.15

Die folgenden Kapitel wollen den Ursprüngen dieses Denkens nachgehen und konzentrieren sich daher auf die Passagen der hebräischen Bibel, in denen erstmals der radikale Puritanismus greifbar wird. Damit steht also weder die gesamte Bibel im Blick, die eine im höchsten Maße vielstimmige und pluralistische Bibliothek ist, noch das, was man im religionswissenschaftlichen Diskurs unter Begriffen wie Judentum, Christentum, Islam oder gar Polytheismus und Monotheismus zusammenfasst. Es geht um eine semantische Formation, die zum ersten Mal in bestimmten biblischen Texten greifbar wird und die Welt bis heute in Atem hält.

1
MONOTHEISMUS UND
DIE SPRACHE DER GEWALT

CULTURA FACIT SALTUS: RHETORIK
DES BRUCHS UND DER RADIKALEN WENDE

Natura non facit saltus – »die Natur macht keine Sprünge«. Dieses Credo Charles Darwins wird Leibniz zugeschrieben; der Gedanke geht auf Aristoteles zurück, Maimonides aber, der große jüdische Philosoph des 12.Jahrhunderts, hat ihn ausgerechnet im Zusammenhang mit Monotheismus und Offenbarung entwickelt.16 Wenn wir wissen wollen, wie Gott in der Geschichte wirkt, schreibt er, müssen wir schauen, wie er in der Natur wirkt. Hier geht alles in gleitenden Übergängen auseinander hervor. Von einem Extrem kommt man nur durch eine Folge unendlich feiner Übergänge und umständlicher Umwege zum anderen. So hat man sich nach Maimonides auch die Offenbarung vorzustellen: als einen Prozess gleitenden Wandels und natürlichen Wachstums. Evolution, nicht Revolution, ist das Prinzip der Natur und damit auch das Prinzip göttlichen Wirkens. Die Logik gleitender Übergänge zeigt sich in allen »Werken Gottes (peulot ha-elohijot) oder der Natur (tiwcijot)«. Darin besteht die »List«, »Weisheit« und »Strategie« göttlichen Handelns, seine Akkommodation an die irdischen Verhältnisse.17 Damit destruiert Maimonides die konventionelle Unterscheidung zwischen Natur und Offenbarung. Als geschichtliches Phänomen ist auch die Offenbarung »natürlich gewachsen«. Natürliche und religiöse Evolution gelten Maimonides beide als Offenbarung göttlichen Handels. Die Formel von den »göttlichen oder natürlichen Werken Gottes« nimmt Spinozas Deus sive Natura vorweg. Der Gott der Philosophen hat sich seinem Volk zunächst als der Gott der Väter offenbart, um sich seinen rationalen, emotionalen und imaginativen Möglichkeiten anzupassen, aber den Weisen Winke gegeben, hinter dieser Maske die Wahrheit zu ahnen.

Die Kultur gehorcht jedoch anderen Gesetzen.18 Hier gilt: Cultura facit saltus. Es mag ja sein, dass auch die großen kulturellen Wenden und Wandlungen sich in gleitenden Übergängen unmerklich vorbereitet haben. Wahrgenommen, inszeniert und vor allem nachträglich im kulturellen Gedächtnis erinnert werden sie aber als Sprünge. So mag auch der Monotheismus sich in Wirklichkeit allmählich aus dem Polytheismus entwickelt haben. In der biblischen Darstellung aber inszeniert er sich als ein Sprung und revolutionärer Bruch, wie er radikaler gar nicht gedacht werden kann.19 Der vierhundertdreißigjährige Aufenthalt Israels in Ägypten löscht jede Kontinuität zur vorhergehenden Väterzeit aus, der Auszug aus Ägypten ist ein Bruch mit allen inzwischen angenommenen ägyptischen Traditionen, die Offenbarung des Gesetzes am Sinai ist ein totaler Neubeginn, das Gegenteil jeder allmählichen Entwicklung, ein wunderbares und in jeder Hinsicht außer-ordentliches Eingreifen Gottes in die Geschichte, das quer zum langsamen Ablauf der Zeiten und zur natürlichen Entwicklung steht und, diese durchschneidend, neue Epochen setzt. So funktioniert die Kultur, was ihre Selbstwahrnehmung, Selbstinszenierung und vor allem ihre Erinnerung angeht. Cultura facit saltus.

Der Sprung, um den es hier geht, die Offenbarung, in der Gott sich ein Sklavenvolk aus Ägypten befreit, um es in die vollkommen neue Welt des Gottesbundes einzuführen, ist vermutlich der radikalste Sprung, den die Kultur jemals gemacht hat, handelt es sich doch hier um die Wende vom Poly- zum Monotheismus und zu dem, was wir heute unter »Religion« verstehen. In der biblischen Rückerinnerung der Bücher Exodus bis Deuteronomium hat sie die narrative Form eines alles wendenden Ereignisses angenommen. Aleida Assmann hat in ihrem Buch »Ist die Zeit aus den Fugen?« (2013) die Semantik und Rhetorik des Bruchs als ein besonderes Merkmal der Moderne herausgestellt und schreibt: »Der Urknall der Modernisierung vollzog sich mit dem Auszug aus Ägypten.«20 Entscheidend aber für das Verständnis der biblischen Texte, die diesen »Urknall« der Moderne schildern, ist die Kategorie der Nachträglichkeit. Die Offenbarung des Gesetzes am Sinai erging nach biblischer Chronologie im Jahre 2453 der Welt oder 1531 vor Christus.21 Die verbindliche sprachliche Fassung dieses Ereignisses aber fällt in eine gut tausend Jahre spätere Zeit und lässt sich nur im Rahmen der kulturellen Semantik und der historischen Bedingungen des frühen Judentums verstehen, als es nach der Katastrophe darum ging, das untergegangene »Israel« als religiöses und politisches Gemeinwesen neu zu erfinden. »Das Leben muss im Blick nach vorn gelebt, aber kann nur in der Rückschau verstanden werden.« Dieses Kierkegaard zugeschriebene Gesetz gilt auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Mit der Metapher des Urknalls hat Aleida Assmann zugleich auch etwas von der Gewaltsamkeit eingefangen, mit der sich dieser »Sprung« in der verstehenden Rekonstruktion der Erzählung verbindet.

In dieser narrativen Rekonstruktion liegt vielleicht auch der Schlüssel zu dem Problem, das uns hier beschäftigt: Der Monotheismus und die Sprache der Gewalt. Warum beschreiben die biblischen Texte die Gründung und Durchsetzung der monotheistischen Religion in so gewaltsamen Bildern? Haftet der monotheistischen Idee, der ausschließlichen Verehrung eines einzigen Gottes anstelle einer Götterwelt oder der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion, einem wahren Gott und den falschen Göttern etwas Gewaltsames an?

Die Aktualität dieser Fragen liegt auf der Hand, denn nicht die Vergangenheit als solche, sondern die Form unserer Erinnerung daran treibt uns um und orientiert unser Handeln. Die »Wiederkehr der Religion«, die wir seit einigen Jahrzehnten erleben, ist in beängstigender Weise mit Gewalt, Bedrohungsbewusstsein, Hass, Angst und der Produktion von Feindbildern verbunden. Daher können wir der Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Monotheismus und Gewalt nicht ausweichen.

Ich weiß aber auch nur allzu gut, dass ich mich mit diesem Thema in vermintes Gelände begebe. Seit den Zeiten der Aufklärung, mindestens seit dreihundert Jahren, wird der Bibel und insbesondere dem Alten Testament die Sprache der Gewalt vorgehalten.22 Viele Argumente der philosophischen Religionskritik sind später von den Antisemiten des 19. und 20.Jahrhunderts beerbt und in antijüdische Klischees wie zum Beispiel die unsägliche Rede vom »alttestamentarischen Rachegott«23 umgemünzt worden, sodass man heute die biblischen Stellen kaum mehr zitieren kann, ohne nicht sofort in diesem Sinne missverstanden zu werden. Nichts liegt mir jedoch ferner, als diese abgestandene und unfruchtbare Polemik (Stichwort »Aufkläricht«) wieder aufwärmen zu wollen. Andererseits ist das Problem, das diese Passagen darstellen, nicht dadurch zu lösen, dass man sie tabuisiert. Die Sprache der Gewalt in den heiligen Schriften der Juden, Christen, Muslime und vieler anderer auf Offenbarung, Glauben und einen exklusiven Wahrheitsbegriff gegründeter Religionen ist ein Phänomen, das zunächst einmal jenseits aller Polemik und Apologetik verstanden werden will. Das gilt umso mehr, als, wie gesagt, die heutige Welt in bislang unbekanntem und von niemandem vorhergesehenem Umfang von einer Gewalt heimgesucht wird, die sich auf Gott und die heiligen Schriften beruft. Angesichts der aktuellen Weltlage können wir es uns nicht leisten, unsere Augen vor der Frage zu verschließen, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem exklusiven Wahrheitsbegriff des Monotheismus und der Sprache der Gewalt geben könnte und wie dieser Zusammenhang zu analysieren – um nicht zu sagen: zu therapieren – sei. In der Tat hatte ja bereits Sigmund Freud in seinem letzten Buch den Monotheismus gewissermaßen auf die Couch gelegt und einer analytisch-archäologischen Erinnerungsarbeit unterzogen.24

Daran möchte ich anknüpfen und versuchen, die biblische Sprache der Gewalt mit aller gebotenen Schonung und Behutsamkeit einer – nicht theologischen, sondern – kulturwissenschaftlichen, historischen Reflexion zu unterziehen. Dabei beziehe ich mich auf etwas, das ich »kulturelle Semantik« nenne, einen Begriff, den ich meinem Buch »Ägypten – eine Sinngeschichte« zugrunde gelegt habe.25 Darunter verstehe ich die großen Erzählungen und Leitunterscheidungen, mithilfe derer sich eine Gesellschaft in der Welt und in der Zeit orientiert und die sich in ihren fundierenden Mythen, Symbolen, Bildern und literarischen Texten ausprägt. Kulturelle Semantiken verändern und überlagern sich; man darf sich darunter kein monolithisches, wasserdichtes Gehäuse vorstellen. Dennoch bestimmen sie das Handeln und Erleben, Denken, Erinnern und Planen derer, die in ihren Horizonten leben, auf eine entscheidende und vielfach unbewusste Weise. Auch der Monotheismus stellt eine solche kulturelle Semantik, ein semantisches Paradigma dar, das sich in großen Erzählungen und Leitunterscheidungen artikuliert. Mein Thema ist nicht das »Wesen« des Judentums, Christentums, Islams und so weiter, sondern die Ursprünge einer bis heute lebendigen kulturellen Semantik, in deren Rahmen Menschen gedacht und gehandelt haben.

Meine Frage ist also, welche Funktion das Thema Gewalt in den Texten erfüllt, in denen der biblische Monotheismus seine Entstehung und Durchsetzung erzählt und erinnert. Wohlgemerkt: Ich frage nicht »Warum wurde der Monotheismus so gewaltsam durchgesetzt?«, sondern »Warum wurde seine Durchsetzung in der Sprache der Gewalt dargestellt und erinnert?« Das Problem, von dem ich ausgehe, ist nicht die Gewalt selbst, als historisches Ereignis, sondern die Sprache26