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Über dieses Buch:

Was ist der Sinn des Lebens? Liebe und Familie oder Geld und Karriere? Tatsächlich ist es für jeden etwas anderes … Annemarie Schoenle schreibt in bewegenden Geschichten von den schönsten und schlimmsten Momenten, die ein Leben verändern können: von Anna, die ihr Herz Tag für Tag und Schachzug um Schachzug an einen völlig Fremden verliert. Oder von Marlene, die immer dachte, dass der Job das Wichtigste für sie sei, bis sie eines Besseren belehrt wird …

Meisterhaft verbindet Annemarie Schoenle die kleinen Situationen des Lebens mit großen Gefühlen und zaubert daraus mitreißende Geschichten zum Lachen und Weinen.

Über die Autorin:

Die Romane Annemarie Schoenles werden millionenfach gelesen, zudem ist sie eine der begehrtesten Drehbuchautorinnen Deutschlands (u. a. Grimme-Preis). Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von München.

Bei dotbooks erschienen bereits Annemarie Schoenles Romane »Frauen lügen besser«, »Frühstück zu viert«, »Verdammt, er liebt mich«, »Nur eine kleine Affäre«, »Du gehörst mir«, »Eine ungehorsame Frau«, »Ringelblume sucht Löwenzahn«, »Ich habe nein gesagt«, »Familie ist was Wunderbares«, »Abends nur noch Mondschein« und die Sammelbände »Frauen lügen besser & Nur eine kleine Affäre«, »Ringelblume sucht Löwenzahn & Abends nur noch Mondschein« sowie die Erzählbände »Der Teufel steckt im Stöckelschuh«, »Die Rache kommt im Minirock«, »Die Luft ist wie Champagner«, »Das Leben ist ein Blumenstrauß«, »Dreitagebart trifft Minirock« und »Zuckerherz und Liebesapfel«.

Die Website der Autorin: www.annemarieschoenle.de

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Originalausgabe September 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/wildfloweret

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-801-4

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Annemarie Schoenle

Tanz im Regen

Bewegende Geschichten

dotbooks.

Annas Geheimnis

Anna war gerne Zimmermädchen, und dass sie es im schönsten Hotel der Stadt war, machte sie stolz. Sicher, es gab Leute, die meinten, das Palasthotel sei schicker und größer als das Residence. Aber sie wusste es besser. Schon ihr Großvater hatte voller Ehrfurcht vom Residence gesprochen, und sie beide waren oft daran vorbeigegangen, um verstohlen und nur aus den Augenwinkeln all die Pracht und den Luxus zu bewundern und um alles genau und akkurat in sich aufzunehmen.

»Sie essen dort nur aus goldenen Schüsseln, und Messer und Gabeln sind so schwer, dass man sie kaum halten kann«, meinte Großvater geheimnisvoll. »Und die Tischdecken … sie sind aus reinstem Damast!«

Anna lächelte in Gedanken daran. Großvater war schon lange tot. Und es gab natürlich keine goldenen Schüsseln, und die Tischdecken waren längst nicht mehr aus Damast. Aber gediegen war es schon, ihr Hotel, auch heute noch, gediegen und vornehm, und die alten Traditionen saßen als gewichtige, strenge Schatten in Ecken und Winkeln und passten auf. Jüngere Leute gingen eher in andere Hotels, mit Schwimmbad und Wellness und Spa, oder wie das ganze Zeug hieß. Tradition? Jaja, das klang ein wenig verstaubt. So verstaubt, wie Anna sich manchmal vorkam.

Sie arbeitete seit fünf Jahren hier, seit Wolfgangs Tod. Er war plötzlich gestorben, über Nacht, und die karge Pension reichte nicht hinten und vorne. Ein halbes Leben hatte Anna für ihren Mann gesorgt, hatte gekocht, sich um die Wohnung und um die Wäsche gekümmert und ihm, wie man so schön sagte, den Rücken freigehalten. Was also lag näher, ähnliche Arbeiten nun für andere zu tun? Und tun musste sie etwas, das wurde ihr nach einem kurzen Gespräch mit dem aalglatten Bankbeamten erschreckend klar.

Also war sie jetzt im Hotel Residence, eine zierliche, kleine Frau Mitte der fünfzig, mit anziehendem, sympathischem Gesicht und den flinken Bewegungen eines jungen Mädchens. Manches Mal wünschte sie, etwas Wunderbares möge sich ereignen, das Grau ihrer Tage möge sich lichten und ein Stück Himmel sich zeigen.

Und dann ereignete sich tatsächlich etwas: Anna hatte plötzlich ein Geheimnis. Es hing mit Zimmer 212 zusammen.

Sie fühlte sich nicht wohl zu jener Zeit, Arme und Rücken schmerzten schon seit Tagen. Es war kalt und frostig, auf den Straßen lag grauer Matsch, und die Leute seufzten und sagten »Herrje, was für ein grässlicher Winter« oder »Wie gut, dass bald ein paar Feiertage kommen«. Angst überfiel Anna. Niemand wartete zu Hause auf sie, und im Hotel kannte sie alle und keinen. Nur mit Ina, einer jüngeren Kollegin, unterhielt sie sich ab und zu und mit der Hausdame, Frau Alt, die die Zimmer in kleine Reviere einteilte, um sie dann, jeden Mittag, streng und eilig zu überprüfen. Und sie kannte den alten Harry. Mit ihm stritt und lachte sie, und manches Mal schenkte sie ihm ein Stückchen Kuchen. Doch sonst?

Der Gast von Zimmer 212 war schon lange da, drei Wochen oder noch länger. Anna hatte ihn ein paarmal von Weitem gesehen, ein hagerer, älterer Mann, gekleidet in graue oder braune Anzüge und helle oder dunkle Trenchcoats. Er ging leicht gebeugt, hatte glattes, dunkelblondes Haar und eine lange, schmale Nase. Er ähnelte Wolfgang und hatte seine noble Art, sich zu bewegen. Dies fiel Anna als Erstes auf.

»Mein Wolfgang war etwas Besonderes, wir haben so gut zusammengepasst«, sagte sie nachdenklich zu Ina. »Er war Restaurator. Er hat fürs Museum gearbeitet. Hat alles über Bilder und Kunstwerke gewusst. Er schleppte mich in jede Galerie, wir gingen oft ins Theater, ins Kino, oder wir blieben zu Hause und lasen oder spielten Schach.« Sie seufzte und trug sehr schwer an ihren Erinnerungen.

Ja. Das war es. Abends spielten sie immer Schach … In Zimmer 212 aber stand, nahe dem Fenster, auf einem kleinen Couchtisch, ein wunderschönes altes Schachspiel. Als Anna die Figuren zum ersten Mal sah, stockte ihr Herz. Mein Gott, wie herrlich sie waren! Kein einfaches, billiges Holz war da verwendet, keine eilig fabrizierte Fließbandarbeit mit grünem, dünnem Filz beklebt worden. Nein. Es waren große, schwere Figuren aus Elfenbein, der schwarze König stand erhaben und düster, der weiße elegant und fröhlich, einem Märchenprinzen aus »Tausendundeiner Nacht« gleich. Die Damen dagegen reckten sich stolz, dunkel und ernst die eine, kühl und geheimnisvoll die andere, die weiße, die sich dicht neben ihrem König hielt und ihre Rivalin überlegen zu mustern schien.

Anna beugte sich über das Brett, nahm vorsichtig eine der Figuren auf und hielt sie ans Gesicht. Als ob sie lebte, dachte sie. Behutsam stellte sie sie zurück und bemerkte, dass das Spiel eröffnet, die Bauern bereits vorgezogen, und ein Springer schon in guter Position war. Anna starrte lange Zeit auf die Figuren, dann nahm sie den weißen Läufer und gebot dem schwarzen, erhabenen König Schach.

Bereits am nächsten Morgen machte sie sich Vorwürfe. Was nun, wenn der Gast sich beschwerte? Wenn sie sich in ein Spiel gedrängt hatte, das er mit einem Besucher führte, einem, der öfter kam, ein Glas mit ihm zusammen trank, zum kleinen Tisch schlenderte, eine der Figuren verschob, um dann, leise und verschmitzt, seinen Partner anzulächeln?

Ihr wurde ganz heiß bei diesem Gedanken. Nervös zählte sie Handtücher und Bettlaken ab, schlüpfte in ihre Schürze und schob mit kräftigen Schritten den Wäschewagen zum großen Materiallift.

»Zimmer 212 mache ich alleine«, sagte sie zu Ina. »Bring du nur mal die Getränkezettel zu Harry an die Bar.«

Das Schachspiel stand am gleichen Platz. Alles war wie tags zuvor. Nein. Nicht alles. Der dunkle König stand nicht mehr im Schach. Er hatte sich mit dem rassigen Springer geschützt, und dieser Springer bedrohte nun einen weißen Turm. Anna biss sich auf die Lippen und überlegte. Mechanisch und grübelnd überzog sie das Bett, wandte ab und zu den Kopf, fuhr mit der Hand über ihr Kinn, um sich dann wieder umzudrehen und Tücher und Decken zu straffen, die kleine Konsole abzustauben und Bad und Toilette zu putzen und zu polieren, bis alles spiegelte und glänzte. Immer aber sah sie das Schachbrett vor sich. Eines war klar: Wollte sie den Turm retten, musste sie selbst angreifen. Oder aber sie opferte den kostbaren Turm und versuchte, eine Falle zu stellen.

Sorgfältig trocknete sie sich die Hände ab und machte einen neuen Zug. Sie kontrollierte, überlegte und nickte. Ja. Das war gut. Auch Wolfgang hätte diesen Zug gelobt.

So begann es also. Und so ging es weiter. Anna freute sich auf jeden neuen Tag.

»Was machst du nur immer alleine in Zimmer 212?«, fragte Ina neugierig.

Anna lächelte. »Es ist mein Lieblingszimmer«, antwortete sie.

Doch eines Tages hatte ihr Gegner nicht mehr gezogen. Als Anna sich umblickte, sah sie, dass sein Bett unberührt und sein Pyjama immer noch, ordentlich gefaltet, auf dem Kissen lag. Sie machte sich Sorgen. Dieser Gast war klug, und sie schätzte ihn. Und er erinnerte sie an Wolfgang.

Sie fragte die Hausdame.

»Soviel ich weiß, liegt er im Krankenhaus«, antwortete diese nervös und hakte Nummern auf ihrem Zettel ab. Also redete Anna mit Harry. Harry, der Barmann, kannte Gott und die Welt.

»Sonderbarer Typ«, meinte er. »Man erzählt, er habe zu viele Schlafmittel genommen. Man weiß nicht, ob aus Versehen oder mit Absicht. Er liegt in der Uniklinik.«

»Kennst du seinen Namen?«

»Warum?«

»Nur so«, antwortete sie leichthin.

Er hieß Schubert. Peter Schubert. Anna nahm eine der Karten vom Hotel. »Mit den besten Empfehlungen des Hauses«, stand in schön geschwungener Schrift darauf. Diese kleinen Karten lagen auf den Konsolen, die Anna immer abstaubte. Daneben stand gewöhnlich eine Schale mit Obst. Wie schön das klang … »Mit den besten Empfehlungen des Hauses« …

Sie kaufte einen Blumenstrauß und stellte ihn selbst zusammen: rote Christsterne, ein paar Mistelzweige und zartes Schleierkraut.

Als sie Peter Schuberts Krankenzimmer betrat, war sie nervös und aufgeregt.

»Ich komme vom Hotel«, sagte sie, und ihre Stimme brach ein wenig. Sie räusperte sich und legte Blumen und Karte auf die weiß überzogene Decke. »Mit den besten Empfehlungen des Hauses«, setzte sie verlegen hinzu.

»Vom Hotel?«, fragte er verwundert und musterte sie. Sie trug ein blaues Kostüm und hochhackige Schuhe.

»Ja. Ich heiße Anna Geisler. Ich bin Ihr Zimmermädchen. Und ich habe …« Sie stockte. »Ich habe gegen Sie Schach gespielt«, beendete sie dann.

»Sie waren das?« Er richtete sich auf. Anna sah, dass seine Hände schmal und sensibel waren und feine blaue Adern wie wirre Straßen sich bis unter den Ärmelrand des Schlafanzugs schoben.

»Sie spielen ausgezeichnet«, sagte er.

»Ich habe immer gegen meinen Mann gespielt. Als er noch lebte.«

»Bitte nehmen Sie doch einen Stuhl …« Er deutete auf einen kleinen Hocker. »Ist … ist sie anstrengend, die Arbeit im Hotel?«

Anna bemerkte, wie schwer es ihm fiel, irgendetwas zu sagen. »Ja. Aber ich mache es gern.«

»Sind die Gäste spendabel?«

Er fragte nur, um zu reden, dachte sie. Er war lediglich höflich bemüht.

»Meistens nur die, die selbst nicht so viel haben. Die Betuchten geben nichts oder ganz selten.«

Er schwieg. Eine Fliege surrte und setzte sich auf den Rand eines Glases, das mit trüb gelbem Tee gefüllt war.

»Man lernt viel über die Menschen in einem so großen Hotel«, meinte sie, nur um etwas zu sagen und um die Stille auszufüllen.

Er schwieg noch immer.

»Geht es Ihnen wieder besser?«

»Ja.« Sein Gesicht verschloss sich. Es mutete sonderbar an. Sein Mund schnappte ein, schmal und verdrossen, und die lange Nase bewachte den schmalen, eingeschnappten Mund.

»War es Zufall … waren die Tabletten Zufall?«, fragte Anna leise und starrte auf ihren Schoß, weil die Frage so indiskret war und weil sie es hasste, indiskret zu sein. Aber er hatte seine schwarzen Figuren gegen ihre weißen gesetzt, seinen Verstand gegen ihren gebraucht. Sie fühlte sich ihm näher als fast allen Menschen, die sie noch kannte.

»Ich bin Studienrat«, sagte er plötzlich. »Ich stehe kurz vor der Pensionierung. Meine Schüler … sie haben mich immer abgelehnt, ich weiß nicht, warum. Ich lebe hier in dieser Stadt, schon immer, aber ich habe eigentlich keine Freunde. Es liegt an mir, glaube ich. Vor vier Wochen starb meine Mutter, ich hatte sie bei mir in einer großen Wohnung. Sie war ein Pflegefall zuletzt. … Ja …« Er atmete tief durch. »Und nun löse ich diese große Wohnung auf und gehe in eine kleinere. Deshalb das Hotel …« Sein Blick wanderte zum Fenster. Ein paar Tauben ließen sich auf einem Mauervorsprung nieder. Es begann, leicht zu nieseln. Die dürren Äste der Bäume im Park streckten ihre Zweige kalt und abweisend gegen den dunklen Himmel.

»Vorgestern sah ich eine junge Frau«, sagte er nachdenklich und blickte noch immer an Anna vorbei. »Sie überquerte gerade die Straße und summte leise vor sich hin. Ihr Gesicht war so frisch und lebendig, und sie lächelte mich an. Ja … sie lächelte mich an … Es gibt so Gefühle der Traurigkeit, wissen Sie …«

Anna nickte. »Man fragt sich, warum man nicht zurückgelächelt hat«, sagte sie.

Er sah sie erfreut an, und sie nickte ihm noch mal zu. Dann erhob sie sich.

»Gute Besserung also …«

»Es war nett, dass Sie kamen … im Namen des Hotels.«

Sie wurde rot. »Und für Sie war es gut, dass Sie eine Pause einlegten. Ihr König stand schlecht, wissen Sie …«

Jetzt lächelte er doch. Seine Nase gab den Mund frei, sein Gesicht wirkte nun weit und offen und überaus nett.

Drei Tage später war Annas Geburtstag. Es wurde viel Aufhebens gemacht. Alle hatten sich in einem kleinen Raum, in dem auch Wäsche und Putzmittel gestapelt lagen, versammelt: die Hausdame, die Zimmermädchen, die gerade Dienst taten, sogar Harry kam und entkorkte ein paar Flaschen Prosecco. Man schenkte ihr Blumen, Rotwein und einen Schal mit verrücktem Muster und langen Fransen.

Es klopfte. »Darf ich eintreten?«, fragte Peter Schubert verlegen. Er sah immer noch blass aus und trug ein kleines Paket. »Ich habe gehört, dass Sie Geburtstag haben.« Er drückte ihr das Paket in die Hand.

»Für mich?«, fragte Anna überrascht.

»Ja. Und nochmals herzlichen Dank. Übrigens … die Blumen … die waren doch nicht tatsächlich vom Hotel?«

»Ich bin auch das Hotel«, antwortete Anna. Sie legte sich den Schal um die Schultern. »Na, was sagen Sie?«

Das Paket öffnete sie erst am Abend. Sorgfältig löste sie Papier und Schleife und starrte auf einen flachen, glänzenden Holzkasten mit feiner Maserung und vergoldeten Beschlägen.

Er hatte ihr sein Schachspiel geschenkt! Mein Gott, dachte sie ein ums andere Mal. Sein Schachspiel … Sie erschrak. Er … er würde doch nicht …? Aber nein. Nein, er hatte eigentlich ruhig gewirkt, ruhig, entspannt und ausgeglichen. Wieder nahm sie, wie schon einmal, eine der Figuren auf und hielt sie ans Gesicht.

Eine Karte flatterte zu Boden. Anna bückte sich. »Ich hoffe, mein König steht nächstes Mal besser«, las sie. Als sie die Karte wendete, sah sie, dass er seine Adresse angegeben hatte und seine Telefonnummer.

Sie war so erleichtert, dass sie lachte. Sie zögerte keinen Augenblick, ging zum Telefon und wählte.

Augenbinde

Jo hat ein flaches Gesicht, schräge Augen und einen Mund wie verwischt. Sie ernährt sich von Salat, Mineralwasser, Weißwein und Tabletten. Sie raucht wie ein Schlot. Sie ist Fotomodell.

Jetzt liegt sie im Bett, eine Maske auf den Augen. Sie hat morgen einen wichtigen Termin, da muss sie tipptopp aussehen, nicht so verheult und verfroren wie das letzte Mal, als die Geschichte mit Sascha zu Ende ging. Da hat sie die halbe Nacht vor Kummer Pinot Grigio gesoffen und zwei Schachteln Zigaretten geraucht. Eine ganze Farbpalette hatte sie am nächsten Morgen gebraucht, um ihr kaputtes Leben wegzuschminken. Und das Wetter in Mailand! Wind und Regen und sie nur Chiffon auf den mageren Knochen.

Sie denkt an Sascha. War schön gewesen mit ihm. Sie hat das Gefühl gehabt, an einem Gummiband zu hängen und immer wieder zu ihm zurückgeschleudert zu werden. Bis das Band riss und er sich in Frankreich mit einer Anwältin verlobte. Aus Toulouse. Das passte zu Sascha, dass die Anwältin nicht aus Paris kam oder aus Lyon. Nein. Toulouse. Die hat mehr im Kopf als Mode, hat Sascha gesagt. Was war mehr-im-Kopf? Paragrafen? Voller Trotz hat Jo den Auftrag von MIGNON angenommen. MIGNON ist fast so bekannt wie die VOGUE und wird auch in Frankreich gelesen. Sogar in Toulouse.