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Emmanuel Levinas zur Einführung

Werner Stegmaier

Emmanuel Levinas zur Einführung

Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

© 2009 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Verlag Karl Alber
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe Juli 2016
ISBN 978-3-96060-012-1
Basierend auf Print-Ausgabe:
ISBN 978-3-88506-672-9
2., unveränderte Aufl. 2013

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1. Andere Heimat: Der Litvak in Frankreich

2. Das Werk: Ein Grenzgang

3. Ausbruch aus der Ontologie: Jenseits von Husserl und Heidegger

4. Anderer Ansatz bei der Ethik: Trennung und Genuss

4.1 Wegweisende philosophische Erfahrungen

4.1.1 Auftauchen des Subjekts aus dem ›es gibt‹: Die Trennung

4.1.2 Brechung des Subjekt-Objekt-Bezugs am Andern

4.1.3 Vorrang des moralischen Bewusstseins

4.2 Systematische Orientierung: Totalität und Unendlichkeit

4.2.1 Übergang von Autonomie zu Heteronomie: Die Idee des Unendlichen bei Descartes

Exkurs: Levinas’ Methode

4.2.2 Ursprung des Ethischen – Durchbruch zur Heteronomie

4.2.3 Bedingung des Ethischen: Genuss in der Trennung

4.2.4 Unbedingtheit des Ethischen

4.3 Revision der Systematisierung: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht

Exkurs: Levinas’ Sprache

5. Der schweigende Logos des Gesichts des Andern: ›Du wirst nicht töten‹

5.1 Der Logos ›Du wirst nicht töten‹

5.2 Beispiele

5.2.1 Das Innehalten der Volkswut vor dem Gesicht des Opfers in Tolstois Krieg und Frieden

5.2.2 Das Verstummen des Volks vor den Verbrechen der Mächtigen in Puschkins Boris Godunow

5.2.3 Beispiele aus der hebräischen Bibel

5.3 Der philosophische Sinn des Logos ›Du wirst nicht töten‹: Nicht-In-Differenz

5.4 Nicht-In-Differenz in der modernen europäischen Philosophie: Kant und Nietzsche

5.5 Dostojewski, Nietzsche und Levinas: Unbegrenzte ethische Verantwortung

5.6 Judentum als ethische Bedingung des Menschseins: Rosenzweig

6. Schwierige Freiheit: Anderer Anfang der Philosophie nach der Shoa

6.1 Die ›jüdische Lebensform‹: ›Moral ohne Institutionen‹

6.2 Levinas’ philosophische Aktualisierung der jüdischen Tradition

6.3 Levinas’ ›Sonntags-Talmudismus‹: Philosophische Auslegungen des Talmud

7. Andere Universalität: Jüdische Singularität jenseits der griechischen Universalität

Anhang

Siglen

Literatur

Zeittafel

Über den Autor

Einleitung

… même si Dieu n’était pas mort, mais seulement exilé.
… als ob Gott nicht tot, sondern nur im Exil wäre (IH 148)
.

Emmanuel Levinas spricht ganz anders (tout autrement) als die andern. Mit ihm kam ein Ton in die Philosophie, den man zuvor nicht gehört hatte, ebenso befremdlich wie anziehend. Er kommt immer gleich zur Sache. Er gebraucht ohne Umschweife die anspruchsvollsten Begriffe der Philosophie, um die schlichtesten Phänomene zu verdeutlichen. Er stellt in kürzesten Anläufen die weitreichendsten und herausforderndsten Fragen. Er hält sich nicht mit Philologie auf. Er knüpft immer nur in wenigen Punkten an frühere Philosophien an und bewegt sich unter ihnen in waghalsigen Zeitsprüngen. Er wartet plötzlich mit Religion auf, wo man weiter mit Philosophie gerechnet hatte. Oft scheint er selbst überrascht von den Wegen, die sein Denken findet. Dennoch geht sein Denken in strenger Folgerichtigkeit voran, Argument für Argument, völlig nüchtern, ohne jeden Appell an Gefühle, manchmal, trotz oder wegen seines Ernstes, mit einem Anflug von Selbstironie. Es kommt zu schlüssigen, nachvollziehbaren Ergebnissen.

Es geht im Kern um die ethische Verantwortung, die das Leid eines Andern hervorruft. Leid, das Schmerz und Not sein kann, die mich nicht ruhen lassen, die von mir verlangen, etwas zu tun. Leid, das aber auch aus der bloßen Andersheit des Anderen kommen kann, die mich befremdet und feindselig macht und gegen die man nicht leicht etwas tun kann. Leid, das mich, auch wenn oder weil es nicht heilbar ist, trotzdem nicht in Ruhe lässt. Leid, das mich selbst infrage stellt, das mir Fragen stellt, die in die Tiefen der Philosophie reichen und die Grenzen zur Religion überspringen. Leid, das an den Grenzen zur Religion die Fragen der Philosophie neu und anders stellen lässt. Fragen, denen die Shoa den schwersten Ernst gegeben hat, in der Menschen, Angehörige eines Volkes, das für seine Philosophen gerühmt wurde, mitten im 20. Jahrhundert mitten in Europa Millionen von Menschen töten konnten allein deshalb, weil sie anders waren. Die europäische Philosophie, die sich doch als universale Hüterin des Seins und des Guten verstand, hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg, der unter neuen furchtbaren Opfern dem Hitler-Reich ein Ende machte, in der Shoa kaum einen Anlass gesehen, sich zu fragen, ob sie mit ihrer Art zu denken und zu unterscheiden nicht von langer Hand dazu beigetragen hatte, was geschehen war, ob ihre Begriffe von Sein und Nichtsein, Wahr und Falsch, Gut und Böse, Eigenem und Anderem nicht daran mitschuldig waren. Levinas hat das getan.

Seine Philosophie, die sich nur langsam, aber beharrlich Gehör verschaffte, gilt inzwischen als eine der großen des 20. Jahrhunderts. Im deutschen Sprachraum sind zunächst vor allem christliche Theologen auf sie aufmerksam geworden. Ihre Wahrnehmung wurde dadurch nachhaltig geprägt. Nach Martin Buber schien Emmanuel Levinas ein neues Angebot für den christlich-jüdischen Dialog zu machen. Aber Levinas hat sich deutlich von Buber und der Philosophie des Dialogs distanziert, und es geht ihm nicht um Ausgleich unter den Religionen. Sein Denken hält sich nicht in den Grenzen des Dialogs, seine Philosophie zielt nicht auf Gemeinsamkeit und Einheit. Es besteht auf der Andersheit.

Levinas, der Anfang 1906 in Litauen geboren wurde und Ende 1995 in Paris starb, setzt bei der ›Trennung‹ (séparation), dem ›Außereinander‹, der ›Exteriorität‹ an. Danach können wir nicht schon voraussetzen, dass wir mit andern irgendetwas gemeinsam haben, weder ein für alle einheitlich gegebenes ›Sein‹ noch eine ›Vernunft‹, die jenes Sein einheitlich bestimmt und festhält. Jede und jeder ist frei, alles anders zu erfahren und zu beurteilen als andere. Die europäische Philosophie hat sich nach Levinas vorschnell auf Einheit festgelegt, sei es in Gestalt eines Seins oder einer Vernunft oder in der Beziehung beider, einem reinen Vernehmen des Seins, der ›Theorie‹. Sie hat es sich dadurch mit dem Ethischen zu leicht gemacht und die Voraussetzung geschaffen, es zu verkehren.

Das Ethische ist nach Levinas etwas, das nur in der Trennung geschieht. Es ist ein Bezug zu andern, mit denen man nicht schon Gemeinsamkeiten hat, die man als immer anders erfährt und durch die man selbst immer anders wird, ein in nichts feststehender, sondern bewegender, mitnehmender, verunsichernder Bezug. Das Ethische schafft Verunsicherung, bevor es Sicherheit schafft. Es kommt dem eigenen Leben nicht zu Hilfe, sondern stört es. Es unterbricht die Sorge um sich selbst, öffnet für die Belange eines andern und ruft die Verantwortung für ihn wach. Ein anderer nötigt mich, ohne es zu wollen, mich von meinen Interessen ab- und seinem Leid zuzuwenden. Sein Leid lässt mir keine Wahl. Und nur wenn ich keine Wahl habe, nur wenn ich mir das Ethische nicht vorbehalte, mich nicht für oder gegen es entscheide, ist es das Ethische. Sich angesichts des Leids eines andern die Zuwendung zu ihm vorzubehalten, kann nicht ethisch sein. Danach entspringt das Ethische im unmittelbaren Bezug zu andern, im Bezug ohne ein vermittelndes Drittes, auch ohne eine vermittelnde allgemeine Moral. Im unmittelbaren Bezug ist jeder dem andern schutzlos ausgesetzt. Nach Levinas ruft die Schutzlosigkeit das Ethische hervor.

Es hat dann keine Stütze in einer Theorie und sofern es allem Theoretischen vorausgeht, kann es sie auch nicht darin haben. Es bleibt auch selbst immer unsicher. Die Trennung, der unmittelbare Bezug ohne ein vermittelndes Drittes, legt das Ethische weder fest noch gewährleistet sie es, sie fordert es nur heraus. Festlegen und gewährleisten lässt es sich nur aufgrund eines Gemeinsamen, eines einheitlichen Seins oder einer einheitlichen Vernunft. Es wird dann theoretisch formulierbar in Gesetzen, Normen oder Werten. So kann es der eine gegen den andern geltend machen, wird es wechselseitig einklagbar. Man kann dann den andern im Namen des Dritten, des Allgemeinen, zur Rechenschaft ziehen, ohne selbst dafür einstehen zu müssen. Der andere ›fällt‹ dann ›unter‹ ein Allgemeines, ein Gesetz, eine Norm, einen Wert, seine Andersheit wird ›unwesentlich‹, und man ist davon entlastet, sich auf sie einzustellen. Im Namen des Theoretisch-Ethischen kann man sich zum Richter anderer machen. Man kann von ›höheren‹ allgemeinen Maßstäben aus entscheiden, was an andern gut oder böse ist. Man kann in einem ›Wir‹ aufgehen, in dem alle eine ›Moral‹ teilen, die jedem das Recht und die Macht verleiht, über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu dieser Moralgemeinschaft, über Ein- oder Ausschluss zu entscheiden, und muss sich dabei nicht fragen lassen, ob dies seinerseits gut oder böse ist. Moralgemeinschaften bergen, weil sie ›in gutem Glauben‹ andere ein- und ausschließen, die Gefahr des Totalitarismus in sich. Europa ist im 20. Jahrhundert zu großen Teilen totalitär geworden. Die europäische Philosophie könnte, darauf hat besonders Hannah Arendt in ihren Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft aufmerksam gemacht, an diesen Totalitarismen mitschuldig geworden sein.

Opfer der europäischen Totalitarismen wurden, neben vielen anderen, vor allem die Juden. Die Juden haben eine andere Tradition des Denkens hervorgebracht und trotz aller Verfolgungen an ihr festgehalten. In ihr wurden nach Levinas die Anderen im Ansatz anders, nicht von einem Einheitlichen und Gemeinsamen her, sondern aus der Trennung heraus als ›ganz Andere‹ erfahren. Dahinter stand und steht der Gedanke eines Gottes, der in seinem ersten Gebot verlangt, sich keine Bilder, keine Begriffe von ihm zu machen, der immer noch anders ist, als Bilder und Begriffe ihn fassen können, der kein Gegenstand der Theorie sein kann und soll. Dieser Gott sollte allein Gut und Böse hinreichend unterscheiden können. So konnte auch Gut und Böse kein Gegenstand der Theorie sein. Das Theoretische, in dem die Andersheit der Einzelnen zurücktritt und für das sie keine Verantwortung zu haben scheinen, blieb auf diese Weise von Anfang an durch das Ethische begrenzt, in dem die Einzelnen gefordert und füreinander verantwortlich sind. Hier trennt sich die jüdische Tradition, wie Levinas sie sieht, von der europäischen Philosophie des Seins und der Vernunft, die er die ›griechische‹ oder die ›westliche‹ nennt. Diese nahm in ihrem Hauptstrom an, das Tun des Guten setze ein Wissen des Guten voraus, und vertraute darauf, dass dem Wissen des Guten, wenn es nur hinreichend klar sei, das Tun des Guten folgt. Die jüdische Tradition, die Levinas als Tradition der Auslegung der hebräischen Bibel, der Thora, versteht, teilte dieses Vertrauen in ihrem Hauptstrom nicht. Sie rechnete nicht mit einem hinreichend zu klärenden und allgemein festlegbaren Wissen des Guten und erhoffte sich davon auch nicht die Verbesserung des Handelns der Menschen. Weil sie hier im Ansatz anders dachte und sich von hier aus ganz anders entwickelte, ist sie der europäischen Philosophie des Seins und der Vernunft immer fremd geblieben, erschien ihr Denken dem europäischen Denken willkürlich und darum gefährlich. So könnte auch aus der Sicht der Philosophie verständlich werden, dass die europäischen Juden zu Opfern wurden.

Das Denken der jüdischen Tradition ist, so Levinas, weiterhin ›schwierig‹, auch für Juden. Levinas, der in Frankreich seine philosophische Bildung erwarb, hat von der europäischen oder ›westlichen‹ Tradition des Denkens aus zu zeigen versucht, wie Europa, das gegenwärtige Europa, von den Juden lernen, wie es sein Denken vom ›jüdischen Denken‹ her infrage stellen kann. Darin gingen ihm andere, vor allem Hermann Cohen (1842–1918) und Franz Rosenzweig (1886–1929), zu Beginn des 20. Jahrhunderts voraus. Aber erst nach der Shoa wurde das Lebensentscheidende dieses Lernens deutlich. Levinas suchte nicht mehr wie Cohen die beiden Traditionen auseinander zu begründen oder wie Rosenzweig zusammenzuführen, sondern hielt auch sie getrennt, um sie aus ihrer Trennung heraus aufeinander zu beziehen. Mit einer Radikalität, die er bei Platon, Descartes, Kant, Nietzsche und neu und persönlich bei Husserl und Heidegger erfahren hatte, führte er auf der einen Seite die kritische Tradition der europäischen Philosophie bis dorthin fort, wo sie die jüdische berührte, und trug auf der andern Seite dieses kritische Denken in die jüdische Tradition der Auslegung der hebräischen Bibel ein. Das ›westliche‹ Denken blieb so das westliche und das ›jüdische‹ das jüdische, aber beide ließen sich in der Berührung mit dem andern vom andern her neu denken.

Levinas versuchte bewusst einen Grenzgang. Er zeigte auf der einen Seite, wie Heidegger, der in der Kritik der europäischen Philosophie und ihres Bestehens auf einem einheitlichen fassbaren Grund alles Wissens zuletzt am weitesten gegangen war, in seinem Denken noch immer einer ›Neutralität‹ des Seins anhing, die zwar nicht mehr objektiv fassbar sein, aber dennoch das Denken aller in Einem ›versammeln‹ sollte. Auch Heidegger habe damit noch am Denken eines Dritten jenseits der Einzelnen, die immer anders sind, festgehalten, einem Dritten, das für alle gleich gültig sein sollte, für das aber eben darum die Einzelnen und ihr Anderes gleichgültig waren. Gegen diese ›Gleichgültigkeit‹ (indifférence) des Objektiven, Allgemeinen, Neutralen gegenüber den Einzelnen und ihrer Andersheit machte Levinas deren ›Nicht-Gleichgültigkeit‹ (non-in-différence) in ihrer Andersheit geltend. In der jüdischen Tradition der Auslegung der Thora waren die Einzelnen und ihr Anderes niemals gleichgültig. Gegenüber jenem Gott, der alles bestimmte und selbst unbestimmbar blieb, war in der Auslegung seiner Thora, die er nach der jüdischen Tradition selbst geschrieben hatte, keine allgemeine Feststellung an und für sich gültig, sondern jede ging auf die Verantwortung eines Einzelnen. Im Talmud, der Sammlung von Auslegungen der Thora, werden die Auslegungen in der Regel mit den Namen der Verantwortlichen angeführt. Angesichts der unübersehbaren Fülle und Vielfalt der Thora konnte jedes andere Allgemeine, das ein anderer Ausleger vorschlug, ebenso aufschlussreich sein; so bewahrte man auch abweichende, in die Sammlung zunächst nicht aufgenommene Auslegungen (baraitot) auf. Der Einzelne wurde so niemals gleichgültig für die Auslegung der Thora, und jede einzelne Auslegung blieb auch und gerade dann von Bedeutung, wenn sie anders war als die anderen. Die Auslegungen Einzelner im Namen von Einzelnen konnten wohl von vielen oder allen angenommen und dadurch allgemein gültig werden; aber jeder, der sie annahm oder nicht, trug dafür wieder als Einzelner die Verantwortung. So wurde denk- und annehmbar, dass die Einzelnen nicht durch ein Drittes, von ihnen scheinbar unabhängiges Theoretisches und Objektives, sondern allein durch ihr Antworten aufeinander und ihre Verantwortung füreinander verbunden sind, dass ihre Beziehung eine Beziehung von Getrennten und darum immer zuerst eine ethische Beziehung ist. Die jüdische Tradition, die sich vor theoretischen Sicherheiten im Ethischen zurückgehalten und den Anfang des Ethischen in der unmittelbaren Verantwortung gegenüber dem Andern wachgehalten hat, war besser gegen Totalitarismen gefeit.

Levinas hat das Antworten und die Verantwortung in der Trennung phänomenologisch an der Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht aufgewiesen und ist dafür vor allem berühmt geworden. Blicke ich in das Gesicht des anderen, wird mein theoretischer Zugriff auf ihn irritiert, gestört, und in diesem Augen-Blick kann mein Zugriff mir als Anmaßung bewusst werden. Das Von-Angesicht-zu-Angesicht schafft in jeder alltäglichen Begegnung eine starke Spannung, zu deren Bewältigung es komplexer Rituale des wechselnden Hin- und Wegsehens bedarf. Das spannungsvolle Dem-andern-in-die-Augen-Sehen lässt, so deutet es Levinas, für einen kurzen Moment im unwillkürlichen theoretischen Zugriff auf den andern zögern und kann so veranlassen, in ihm innezuhalten und von ihm zurückzutreten. Es kann nur, es muss nicht, es gewährleistet das Ethische nicht, es eröffnet es nur und immer nur für einen Moment. Aber es lässt den Zugriff doch zögern, während ihn theoretische Sicherheiten bestärken. Das Von-Angesicht-zu-Angesicht ist so die Chance, vielleicht die letzte Chance des Ethischen im Bezug zu anderen, gerade dann, wenn die Sicherheiten in einverständigen Moralgemeinschaften überhandnehmen. In der ›westlichen‹ Philosophie kam das Von-Angesicht-zu-Angesicht kaum zur Sprache (das renommierte Historische Wörterbuch der Philosophie führt bis heute keinen Artikel ›Angesicht‹, ›Antlitz‹, ›Gesicht‹). Dagegen beherrscht es die Thora.

Das Denken des Ethischen vom unmittelbaren Bezug zum andern her könnte der alltäglichen Orientierung näher sein als das Denken des Ethischen, das aus der ›westlichen‹ philosophischen Tradition vertraut ist. Levinas’ Philosophie ist dadurch über die Antwort auf die Shoa hinaus philosophisch aktuell. In der alltäglichen Orientierung, in der man sich immer neu auf immer neue Situationen einzustellen hat, rechnet man stets damit, dass man es überall, selbst in den auf Objektivität drängenden Wissenschaften, mit immer anderen Einzelnen zu tun hat, die zustimmen oder widersprechen können. Die alltägliche Orientierung könnte auch nach wie vor offener für Religion sein, wenn darunter der Bezug des Denkens zu etwas verstanden wird, was sich dem Denken zugleich entzieht. Levinas versteht sie so im Anschluss an Cohen und Rosenzweig. Die europäische Philosophie und Wissenschaft dagegen ist sich in ihrem Hauptstrom heute auch darin sicher, dass sie sich im Namen der Aufklärung resolut gegen alle Religion abzugrenzen hat.

Was das für alle gleich gültige Allgemeine unter Menschen dennoch notwendig macht, ist das Recht und damit auch der Staat, der es gewährleisten kann. Levinas und mit ihm Jacques Derrida haben das Recht und den Staat konsequent von der Beziehung unter Einzelnen her gedacht als das, was diese Beziehung wohl überschreitet, sich aber eben darum nicht von ihr lösen darf. Mit dem Recht im Staat wird Verantwortung über den einen Anderen hinaus für weitere Andere möglich. Es ermöglicht Gleichheit und Allgemeinheit, verlangt darum aber nicht Gleichgültigkeit. In jeder richterlichen und jeder politischen und jeder bürokratischen Entscheidung haben wieder Einzelne für Einzelne Verantwortung. Wird von dieser Verantwortung von Einzelnen für Einzelne abgesehen, werden Menschen als Objekte behandelt, wird wieder Totalitarismen Vorschub geleistet.

Die Juden in Europa und der ganzen Welt hatten über Jahrtausende ohne eigenen Staat zu leben. Ihr Denken konnte sich in dieser Zeit in kritischer Distanz nicht nur zum Theoretischen in Philosophie und Wissenschaft, sondern auch zur staatlichen Organisation eines Gemeinwillens halten, der, wenn er dazu begabte und gewillte Führer findet, immer auch entgleisen kann. Die Geschichte hat nach der Shoa zu einem Staat Israel geführt. Er ist sowohl aus der jüdisch-talmudischen Tradition als auch aus der europäisch-philosophischen Tradition heraus auf weitestgehende Liberalität eingestellt. Unter den Zwängen der politisch-militärischen Auseinandersetzungen in Palästina ist er aber auch immer wieder zu harten Machtdemonstrationen übergegangen. Sie drohen das andere Denken der jüdischen Tradition erneut zu diskreditieren. Levinas blieb dem Staat Israel gegenüber wohlwollend skeptisch, und im Staat Israel ist man skeptisch gegen ihn geblieben.

In dieser Einführung soll vor allem der Grenzgang zwischen der ›westlichen‹ und der jüdischen Tradition deutlich werden, die Levinas in ihrer Trennung aufeinander bezog, und zugleich die Bedeutung, die er für unsere alltägliche ethische Orientierung haben kann. Sie strebt keine vollständige Übersicht über Levinas’ Themen und Begriffe, überhaupt keine Übersicht von einem ›neutralen‹ Standpunkt aus an. Sie soll stattdessen helfen, sich auf seine ›schwierigen‹ Grundgedanken einzulassen. Wir halten uns dabei an Levinas selbst. Er hatte sein erstes Buch und das einzige, das er einem andern Philosophen gewidmet hat, seine Dissertation über die Phänomenologie Husserls, damit eingeleitet, dass es darum gehe, dessen Gedankengänge von der Sache her zu verstehen, um die es sich handelt. Bloße historische Zuordnungen ließen allzu leicht mit ihr fertig werden (vgl. PH 14). Levinas’ eigenes Denken verbietet noch mehr als das husserlsche leichtfertige Einordnungen in Rubriken und Schemata, wie sie die Philosophiegeschichtsschreibung bereithält. Wir werden Levinas’ Philosophie hier auch nicht der ›Kritik‹ unterwerfen. Dies müsste, wenn es weiterführen sollte, von einem weitergehenden philosophischen Ansatz aus geschehen, der sich in einer Einführung in das Denken eines andern nicht darstellen lässt. Aus demselben Grund verzichten wir auch auf eine ›Wirkungsgeschichte‹. Levinas’ Denken hat inzwischen viele stark berührt, unter anderem, um nur wenige zu nennen, Maurice Blanchot, Edmond Jabès, Jacques Derrida, Jean-Paul Sartre, Jean-François Lyotard, Paul Ricœur, Tzvetan Todorov, Jean Greisch, Jean-Luc Marion, Karol Wojtyla (Papst Johannes Paul II.), Gianni Vattimo, Giorgio Agamben, Zygmunt Bauman, Slavoij Žižek. Um zu zeigen, wie sie Levinas in der Sache weiterdenken, müssten wir ihr Denken ebenfalls darstellen. Auch das verbietet sich hier. Und es ist noch nicht abzusehen, wie jemand Levinas so weitergedacht hätte, wie er selbst Husserl und Heidegger, Cohen und Rosenzweig weitergedacht hat.

Levinas hat selbst prägnant zusammengefasst, was er an seinem Philosophieren für ausschlaggebend hielt. Er hat 1963, nach Erscheinen seines ersten umfassenden Werks, Totalité et Infini (Totalität und Unendlichkeit), für eine Sammlung von Autobiographies de la philosophie française contemporaine (Autobiographien der zeitgenössischen französischen Philosophie) einen kurzen und dichten Text verfasst und mit ihm noch in demselben Jahr seine Sammlung von Essais sur le judaïsme (Versuche über das Judentum) beschlossen, die er Difficile liberté (Schwierige Freiheit) überschrieb. Er gab ihm dort den Titel Signature (Unterschrift). Er unterschrieb sein Werk mit ihm (Signature war in Frankreich ein klingender Titel: Blaise Pascal hatte im Zug der Auseinandersetzung mit den Jesuiten ein Écrit sur la signature, eine Schrift über die Unterschrift, verfasst, in der er ihm zugemutete Glaubensverpflichtungen verweigerte). 1976, nach Erscheinen seines zweiten umfassenden Werks, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht), schrieb Levinas den Text fort. Wir werden uns in einem ersten Teil dieser Einführung in sein Denken von diesem Text leiten lassen, ihn abschnittsweise wiedergeben und erläutern. Die Leserinnen und Leser werden so unmittelbar Levinas’ ebenso anspruchsvoller wie ungewohnter Sprache begegnen und sich ihr selbst aussetzen können, einer Sprache, in der sich auf erstaunliche Weise Begeisterung mit Sprödigkeit, Anziehungskraft und Abweisung verbinden und die dadurch sehr genau die ethische Beziehung zum Andern wiedergibt, die in ihr gedacht ist. In den Erläuterungen wird der biografische Abriss, den Levinas dort zunächst gibt, nach dem Stand der Forschung ergänzt, eine Übersicht über das Werk gegeben und in aller Knappheit das Denken derer skizziert, denen sich Levinas vor allem verpflichtet wusste, Edmund Husserl und Martin Heidegger. Danach wird, von Levinas’ Text aus, sein eigener philosophischer Ansatz in den Grundzügen entfaltet.

In einem zweiten, mittleren Teil werden wir den ›Logos‹, der nach Levinas von dem Gesicht des Andern ausgeht, wenn ich ihm in die Augen sehe, das ›Du wirst nicht töten‹, an Beispielen erläutern, zunächst an Beispielen aus der russischen Literatur, auf die Levinas selbst verweist, dann durch Beispiele aus der hebräischen Bibel, die er vermeidet. Anschließend setzen wir den philosophischen Sinn jenes ›Logos‹ zum Denken des Ethischen bei Kant, Nietzsche und Dostojewski in Bezug. Mit Rosenzweig, der sich seinerseits stark auf Nietzsche bezog, gehen wir dann zur Bedeutung des Judentums für das ethische Denken von Levinas über.

Sie wird im dritten, in der Sache herausforderndsten und schwierigsten Teil dargestellt. Wir eröffnen ihn wieder mit einem kurzen Text, den Levinas 1966 verfasste, mit dem er später seinen Band Noms Propres (Eigennamen) beschloss und dem er den Titel Sans nom (Namenlos) gab (in der deutschen Übersetzung ist er vor Signature abgedruckt). Levinas umreißt dort in einer Nüchternheit, die zum Aufschrei wird, was es heißt, nach der Shoa als Jude das Jüdische zu denken. Der Text steht für sich selbst, er lässt sich nicht kommentieren. Im Anschluss an ihn soll anhand von Levinas’ Talmud-Auslegungen und seinen Versuchen über das Judentum deutlich werden, wie er die jüdische Tradition philosophisch aktualisiert. Levinas führt von der ›griechischen Universalität‹ aus über sie hinaus zur ›jüdischen Singularität‹. Die griechische Tradition des philosophischen Denkens war stets versucht, so Levinas, universale Theorie zu sein und zu bleiben. Die jüdische Tradition dagegen sei gekennzeichnet durch »ein Denken, in dem die Begriffe ihren letzten Sinn aus einem ethischen Kontext beziehen« (une pensée où les concepts reçoivent leur sens ultime d’un contexte éthique, NLT 27/23). Im ethischen Kontext ist jeder singulär, weil ihm niemand seine Verantwortung abnehmen kann, auch nicht für Theorien.

1. Andere Heimat: Der Litvak in Frankreich

Levinas beginnt seinen Text Signature so: »Die hebräische Bibel, schon im frühen Alter, in Litauen; Puschkin und Tolstoi, dann die Russische Revolution von 1917, erlebt vom 11jährigen, in der Ukraine.« Levinas sagt, ungewöhnlich in einem autobiografischen Text, niemals ›ich‹ – bis zum Ende. Stattdessen der Verweis auf die hebräische Bibel, dann eine Reihe bloßer Namen, Namen von Orten, Dichtern, historischen Ereignissen. Verzicht auf Charakterisierungen und Wertungen. Diese »Biografie« ist, so kommentiert sie Levinas weiter unten, ein »inventaire disparate«, eine unzusammenhängende Bestandsaufnahme.

Levinas stellt sein Leben nicht dar, als ob er selbst es ›geführt‹, ihm von sich aus Einheit, Gestalt und Sinn gegeben hätte. Er erinnert stattdessen an das, was ihn zu dem gemacht hat, der er ist, dem er verdankt, was er geworden ist, dem er besonders verpflichtet ist. Er ›unterschreibt‹, ›zeichnet verantwortlich‹ für die Verpflichtungen, die ihm durch andere zugefallen sind.

Am Anfang steht die hebräische Bibel. Levinas’ autobiografische Skizze ist vor allem die Selbstdarstellung eines der Tradition verpflichteten Juden. Sie ist, so schließt er sie ab, beherrscht »von der Vorahnung des Nazigrauens und der Erinnerung daran«. Levinas erwähnt nicht, was ihn von diesem Grauen selbst betraf, seine Gefangenschaft in Speziallagern für jüdische Kriegsgefangene während des Zweiten Weltkriegs, die Ermordung all seiner Verwandten in Litauen. Er hat nach der Shoa nie mehr deutschen Boden betreten.

Levinas war ein ›Litvak‹, am 12. Januar 1906 (nach dem in Russland gebräuchlichen julianischen Kalender am 30. Dezember 1905) in Kowno (litauisch Kaunas, jiddisch Kovne) in Litauen geboren, das Teil des zaristischen Russland war. Russland hatte den Juden 1791 einen ›Ansiedlungsrayon‹ von Litauen im Norden bis zur Ukraine im Süden zugewiesen. So gab es dort einen höheren jüdischen Bevölkerungsanteil; er machte dennoch nur etwa ein Neuntel der Gesamtbevölkerung aus. Insbesondere auf dem Land hielt sich ein traditionell geprägtes Judentum, das später, nach seiner Vernichtung, oft verklärte Leben im ›Schtetl‹. Es bewahrte sich dort vielerorts fast unberührt bis ins 20. Jahrhundert. Litauen wurde im Ansiedlungsrayon von Juden besonders bevorzugt. Verfolgung und Gewalt waren dort weniger drückend gewesen als im alten Russland und der Ukraine. Die jüdischen Gemeinden hatten alte Privilegien. So wurde Litauen zu einem wichtigen Zentrum jüdischer Kultur. Wilna, das nach einer wechselvollen Geschichte 1861 alle Wohnrechtsbeschränkungen für Juden aufgehoben hatte, galt als ›Jerusalem des Nordens‹. Die litauischen Jeschiwot (Talmud-Schulen) erlangten seit dem 17. Jahrhundert Berühmtheit; sie bildeten Rabbiner für ganz Russland und für jüdische Gemeinden im Ausland aus. Seit dem 18. Jahrhundert hatte sich in Litauen eine eigene, ›litauische Aufklärung‹ (Haskala) entwickelt. Im Gegensatz zur ›westlichen Aufklärung‹ um Moses Mendelssohn, der auf eine Öffnung des traditionellen Judentums zur modernen europäischen Kultur hinarbeitete und dadurch die ›Assimilation‹ und ›Akkulturation‹ der Juden im 19. Jahrhundert einleitete, war sie eine Aufklärung im Rahmen des Judentums. Sie suchte die nüchterne Rationalität des Judentums zu bewahren und verstand sich als Gegenbewegung (›Mitnaggismus‹) gegen den Enthusiasmus des vom Süden her aufkommenden (und später von Martin Buber bewegt geschilderten und von Marc Chagall veranschaulichten) Chassidismus. Die ›litauische Aufklärung‹ brachte mehrere bedeutende jüdische Denker hervor, die nach der Shoa wesentlich zur ›Erneuerung des Judentums‹ (renouveau juif) im ›Westen‹ beitrugen. Levinas blieb ihr immer dankbar.

Die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung im russischen Ansiedlungsrayon blieben bei alldem dennoch erbärmlich. Großenteils arm, war sie weiterhin alltäglicher Willkür, Demütigung und Auspressung ausgesetzt, die man hinzunehmen hatte. Stetige Abwanderung, besonders nach den USA, war die Folge. Levinas wurde in eine vergleichsweise wohlhabende Familie hineingeboren. Sie betrieb eine Buchhandlung, besaß außerhalb des jüdischen Viertels ein Haus vor der Stadt, konnte sich ein christliches Dienstmädchen halten und machte Ferien auf dem Lande. Der Familienname lautete vor seiner Litauisierung Levyne. Litauisch wird er ohne französischen accent aigu geschrieben und das End-s gesprochen; Levinas hielt auch in Frankreich daran fest. Sein Vorname Emmanuel/Immanuel bedeutet ›Mit uns ist Gott‹. In jüdischer Tradition wurde er auch als ›neues Israel‹, ›neuer Mensch‹, ›Messias‹ verstanden. Die Familie Levinas achtete die jüdische Tradition und ihre Riten und Feste. Der junge Emmanuel erhielt Hebräisch-Unterricht von sechs Jahren an; er lernte Hebräisch am Lesen der Bibel.

Als zweites Element seiner Erziehung nennt er die russische Kultur, die Kultur der Umgebung, in der er aufwuchs. Man war offen auch für sie, sprach in der Familie wohl Jiddisch, mit den Kindern jedoch Russisch und sandte sie auf das russische Gymnasium; eine Tante leitete die russische Bibliothek der Stadt Kowno. In seinem biografischen Abriss hebt Levinas als prägende Erfahrungen das Werk Alexander Puschkins (1799 – 1837) heraus, der Züge Shakespeares, Goethes und Byrons in sich vereinte und mit seinem Werk die große russische Literatur des 19. Jahrhunderts begründete, und das Werk Leo Tolstois (1828–1910), der mit seiner eindringlichen Psychologie und seiner ethisch-religiösen Unerbittlichkeit neben Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) den russischen Roman zum Höhepunkt führte. Der Roman war in Russland zur bedeutsamsten Form einer bis heute wirksamen spezifisch russischen Philosophie geworden. Tolstoi und Dostojewski trugen in ihm ein zugleich scharf reflektiertes und spirituelles Christentum vor. Dostojewski sollte Levinas später die Formulierung der extremsten Forderung seiner Ethik vorgeben. Die wenigen Beispiele, die Levinas für die ethische Schlüsselerfahrung des Von-Angesicht-zu-Angesicht gibt, stammen aus einem Drama Puschkins und einem Roman Tolstois.

Vor dem Einbruch des Ersten Weltkriegs nach Litauen floh die Familie nach Karkow in der Ukraine. Der Vater sorgte dort zuerst wieder für einen Hebräisch-Lehrer und verstand es, den begabten Sohn unter einer eng begrenzten Zahl jüdischer Mitschüler im russischen Gymnasium unterzubringen. Die Revolution von 1917 kam für Juden, die sich zu einem bürgerlichen Leben emporgearbeitet hatten, als Juden aber weiterhin Beschränkungen dulden mussten, halb als Schrecken, halb als Hoffnung. Levinas ist zum Kommunismus auch später, im Unterschied etwa zu Jean-Paul Sartre, immer auf Abstand geblieben. Als mit dem Ende des Krieges Litauen selbständig wird, kehrt die Familie nach Kowno, jetzt Kaunas, zurück, hat dort aber allen Besitz verloren. Emmanuel und seine beiden jüngeren Brüder Boris und Aminadab besuchen nun das Jüdische Gymnasium, das einen Deutschen, Dr. Moses Schwabe, zum Direktor hat, der sie mit Enthusiasmus in die deutsche Literatur, vor allem Goethe, einführt. Levinas macht dort sein Abitur. Die Weltoffenheit seiner Familie ermöglicht es ihm, zum Studium in den ›Westen‹ zu gehen. In Deutschland wollte man das Abiturzeugnis eines litauischen Jüdischen Gymnasiums nicht anerkennen. So ging Levinas 1923 an die Universität Straßburg an der Grenze von Deutschland und Frankreich.

In seiner autobiografischen Skizze heißt es nun weiter:

»Seit 1923 Universität Straßburg, wo damals Charles Blondel, Halbwachs, Pradines, Carteron und, später, Guéroult unterrichteten. Maurice Blanchots Freundschaft, und die durch die Lehrer, die zur Zeit der Affäre Dreyfus Heranwachsende gewesen waren, vermittelte, für einen Neuankömmling überwältigende Anschauung eines Volkes, das für Menschlichkeit steht, und einer Nation, der man sich durch Geist und Herz ebenso stark zugehörig fühlen kann wie durch Abstammung. 1928/29 Aufenthalt in Freiburg und das ein Jahr zuvor mit Jean Hering begonnene Erlernen der Phänomenologie. Die Sorbonne und Léon Brunschvicg. Die philosophische Avantgarde bei Gabriel Marcels Samstagabenden. Das intellektuelle – und anti-intellektualistische – Raffinement Jean Wahls und dessen großzügige Freundschaft, die nach langer Gefangenschaft in Deutschland nicht verlorengegangen war; [...]«

Wieder nur Namen, nun von Lehrern, Autoritäten, Freunden. Betonung der geistigen Avantgarde und eines intellektuellen, doch nicht intellektualistischen Raffinements während seiner philosophischen Lehrjahre. Hervorhebung Frankreichs, das durch seine Menschlichkeit (humanité) zur neuen Heimat wird, eine Menschlichkeit, die besonders in der Dreyfus-Affäre deutlich geworden ist.

Die qualvolle Affäre um den Hauptmann Alfred Dreyfus lag, als Levinas zum Studium nach Straßburg kam, vierzehn Jahre zurück. Sie hatte sich von 1894 bis 1909 hingezogen, am Ende befreiend gewirkt und die intellektuelle Atmosphäre in Frankreich nachhaltig aufgehellt. Sie hatte die bedrückende Macht des Antisemitismus bis in die höchsten Behörden der Republik hinein offenbart, zugleich aber gezeigt, dass man ihm in Frankreich wirksam entgegenzutreten verstand. Marcel Proust hatte sie in seiner Suche nach der verlorenen Zeit, die von 1913 bis 1927 Band für Band erschien, zum immer gegenwärtigen Hintergrund gemacht. Dreyfus war einer der ersten jüdischen Offiziere in der französischen Armee, wurde der Spionage für Deutschland bezichtigt mit, wie sich nach und nach herausstellte, gefälschten Indizien und in einem regelwidrigen militärgerichtlichen Prozess zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinsel verurteilt. Dies rief den öffentlichen Widerstand vieler Intellektueller hervor, der wuchs, als die Fälschungen entlarvt und Dreyfus mit neuerlich gefälschten Indizien ›nur noch‹ zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Die Affäre wuchs sich zur Staatskrise aus, die der Präsident der Republik durch eine Begnadigung beizulegen suchte. Dreyfus gab sich damit jedoch nicht zufrieden. Nach weiteren sieben Jahren erreichte er seine Rehabilitierung, der die Beförderung zum Major und die Aufnahme in die Ehrenlegion folgten. Ein Litvak wie Levinas erfuhr hier die Wirklichkeit einer Aufklärung, die sich in seiner Heimat noch nicht einmal als Möglichkeit abgezeichnet hatte.

Die alte, im Zuge der Französischen Revolution geschlossene und 1872, nach dem deutsch-französischen Krieg neu eröffnete Universität Straßburg wurde bis zur Jahrhundertwende vorzüglich ausgebaut und gewann hohen wissenschaftlichen Rang. Ihre Philosophische Fakultät war innovationsfreudig und hervorragend besetzt. Sie ermöglichte Levinas ein breit angelegtes, in Geschichte, Soziologie und Theologie ausgreifendes Studium der Philosophie. Sie führte ihn auch an die Phänomenologie heran, die Edmund Husserl (1859 – 1938) seit dem Beginn des Jahrhunderts ausgebildet hatte, die in Frankreich, wo sie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts immer neue produktive Anstöße geben sollte, aber noch fast unbekannt war. 1928 wechselte Levinas nach dem nahen Freiburg, um Husserl selbst zu hören. Husserl hielt seine letzten Vorlesungen und widmete sie dem – für Levinas später besonders bedeutsamen – Thema Intersubjektivität. Zugleich aber stieß Levinas in Freiburg auf Martin Heidegger (1889–1976), der im Jahr zuvor Sein und Zeit veröffentlicht hatte und eben Husserls Nachfolger geworden war. Beide wurden zu Levinas’ stärksten philosophischen Erfahrungen. Husserls Phänomenologie und Heideggers Sein und Zeit blieben ständige Bezugs- und Angriffspunkte seines Philosophierens. Zum Abschluss seines Studiums ging Levinas den Königsweg französischer Studenten an die Sorbonne nach Paris und legte dort 1930 eine (in einem bewundernswerten Französisch verfasste) Dissertation über Die Theorie der Intuition in der Phänomenologie Husserls vor, mit der er promoviert wurde. Levinas stellte Husserls Phänomenologie nicht historisch und nicht referierend dar, sondern »wie man eine lebendige Philosophie studiert und [der Reflexion und Kritik] aussetzt« (comme on étudie et expose une philosophie vivante). Er suchte in ihr keine »feststehenden Lehrsätze« (propositions arrêtées), sondern wusste sich hier »einem Denken gegenüber, das lebt und sich umgestaltet und in dessen Mitte man sich umsehen (se jeter) und [selbst] philosophieren muß« (PH 14). Seine Darstellung machte Husserl in Frankreich nachhaltig bekannt. Frankreich seinerseits wurde Levinas’ neue und endgültige Heimat, 1931 wurde er französischer Staatsbürger.

Neben der Philosophie blieb er seinem Judentum immer treu. In seiner autobiografischen Skizze fährt er fort:

»seit 1947 regelmäßige Vorlesungen im philosophischen Colloquium, das von Wahl gegründet und mit Leben erfüllt wurde. Leitung der hundert Jahre alten École Normale Israélite Orientale, Ausbildung von Französischlehrern für die Alliance Israélite Universelle des Mittelmeerraumes. Tägliche Gemeinschaft mit dem Schriftgelehrten Henri Nerson, Kontakt mit Chouchani, dem berühmten – und unerbittlichen – Meister der Exegese und des Talmud. Seit 1957 jährliche Vorlesungen über talmudische Texte bei den Colloquien der Jüdischen Intellektuellen französischer Sprache. 1961 Habilitation. Professur an der Universität Poitiers. Seit 1967 Professur an der Universität Paris-Nanterre und seit 1973 an der Sorbonne.«

Daran fügt Levinas die schon zitierten Bemerkungen an: »Diese unzusammenhängende Bestandsaufnahme ist eine Biographie. Beherrscht wird sie von der Vorahnung des Nazigrauens und der Erinnerung daran« und schließt damit den autobiografischen Teil von Signature.

Levinas widmete den Großteil seines Lebens der Alliance Israélite Universelle, einer internationalen jüdischen Hilfsorganisation mit Sitz in Paris. Sie kämpfte gegen den Antisemitismus besonders in Osteuropa an, leistete in den betroffenen Ländern humanitäre Hilfe, errichtete Waisenhäuser und baute ein Netz von Schulen und Lehrwerkstätten auf, das von Marokko über Palästina und Osteuropa bis nach Asien hineinreichte. 1946 wurde Levinas, inzwischen verheiratet mit Raïssa, der Tochter eines Nachbarn aus Kovno, Leiter der École Normale Israélite Orientale, die Lehrer für jüdische Schulen im Mittelmeerraum ausbildete. Er war an ihr schon seit 1934 tätig gewesen. Als Direktor unterrichtete er einerseits Grundfragen des Judentums, andererseits Philosophie und hielt in kleinerem Kreis Talmud-Lektüren ab.

Sie führten ihn über ›seine‹ Hochschule hinaus. Er beteiligte sich 1957 an der Gründung der Colloquien der Jüdischen Intellektuellen französischer SpracheColloquien der Jüdischen Intellektuellenwie