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NEAL SKYE

 

RICH & MYSTERIOUS: DER NIAGRA-FALL

 

Kriminalroman

 

 

 

 

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Buchumschlag: Jacqueline Spieweg

Gestaltung der Zeitungsmeldung & des farbigen Inhaltsverzeichnisses:

Jacqueline Spieweg nach einer Idee von Neal Skye

Biildlizenz: Pixabay

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Text ist der Autor Neal Skye

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag

Druck und Bindung: SDL, Berlin

 

ISBN 978-3-96050-003-2

2. Auflage

 

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2018 Franzius Verlag, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

 

Die Handlung der Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

 

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

BONUSMATERIAL

Interview mit Gina Lonardoni, Detective der Major Case Squad beim NYPD

Bonuskapitel

Interview mit Phil Harber, Mitglied der Geschäftsführung bei Niagara Chemical Solutions

Frontpage des NYC Mercury vom 19. Juni 2015

Interview mit Samantha Fatima Woolf, Galeriebesitzerin in Lower Manhattan

Personen von A-Z (ohne zu viel zu verraten)

Weitere Veröffentlichungen des Autors

Veröffentlichungen des Franzius Verlages:

 

Danksagung

 

Für Barbara, Janett, Imke, Kathrin, Dominique und all die anderen, die mich bei diesem Projekt so wunderbar unterstützt haben. Das werde ich nie vergessen!

 

Special thanks to Daritzya of the El Tio in Port Chester, NY and Essence and Joey of The Little Owl in Manhattan

 

Kapitel 1

 

»Ich bin Sara«, sagte sie. »Sara Maria Anderson.«

Ich wusste, das konnte nur Problem bedeuten. Noch bevor ich den Kopf hob und meine Augen, die in meinen jungen Jahren einmal stahlblau gewesen waren und nun eine verwaschene, nicht namentlich zu erfassende Farbe angenommen hatten, auf sie richtete, warf ich anhand ihrer fragilen, zierlichen, aber angenehmen Stimme ein Bild auf meine innere Leinwand. Anfang zwanzig und schon vom Leben gezeichnet. Hübsches Gesicht, aber vernarbtes Herz. Ich hob meinen Kopf und sah sie an. Vor mir stand eine sehr attraktive Lady in ihren Zwanzigern mit bildschönen, sanften Gesichtszügen. Aber ihre melancholischen Augen schienen, als verbargen sie eine Seele, die schon dunkle Schatten gesehen hatte. Was immer ihr Problem war, es war nicht ihr einziges.

Die Luft in meinem kleinen Schnüfflerbüro war warm und muffig. Ich hätte das Fenster geöffnet, wenn es sich hätte öffnen lassen. Nicht das einzige, was in dieser Bruchbude nicht mehr funktionierte. Gerade hatte ich den lästigen Morgenkater mit dem billigsten Whiskey heruntergespült, den man bei Craigs Circle kaufen konnte, als meine Nase in dem üblichen Luftgemisch aus trockener Büroluft und abgestandenem Geschirr aus der Büroküche plötzlich einen weiteren, blumigen, ziemlich aufdringlichen Duft eines Lavendel-Parfüms aufnahm, das meinen Kontostand weit überstieg.

»Von woher kommen Sie denn gerade?«, fragte ich, nachdem ich meinen Blick von ihren grünen Augen in Richtung Süden hatte schweifen lassen.

Sie trug ein smaragdgrünes Kleid aus fließendem Satin, das sich sanft um ihre fast makellosen Maße schmiegte. Wo trug man heutzutage noch so etwas? Im Theater, in der Oper?

»Vernissage«, sagte sie. Ich wollte erst antworten, dass ich mich mit französischen Komponisten nicht gut auskannte, aber das war kein guter Zeitpunkt für Scherze.

»Draußen auf dem Schild da«, sagte sie und deutete mit einem ihrer grünlackierten Fingernägel auf den Ausgang, »steht Baker & Doyle. Sind Sie Baker oder Doyle?«

»Weder noch«, grunzte ich. Sie hatte gleich den wunden Punkt getroffen. In den 80er und 90er Jahren war Baker & Doyle eine florierende Detektei gewesen, die bis weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewesen war. Der Hedderby-Fall hatte sogar Kreise gezogen bis nach Washington D.C. und ich hatte ihn geknackt, den Jackpot. Und mein Gewinn war die Eintrittskarte zu einem lukrativen Job bei Baker & Doyle gewesen. Kurz bevor es mit Baker zu Ende ging, womit damals aber noch keiner gerechnet hatte. Donald Aaron Baker war eigentlich Rechtsanwalt, kannte sich mit Gesetzen und Gesetzeslücken aus wie kein anderer und wenn er sich mal in einen Fall verbissen hatte, arbeitete sein Gehirn 24 Stunden am Tag auf Hochtouren. Kein noch so unwichtig scheinendes Detail ging da verloren und wenn dann irgendwann ein entscheidendes Zwischenstück gefunden war – BÄNG – kramte er aus den tiefsten Ordnern seiner Erinnerung die beiden Endstücke heraus und bastelte damit aus kaum vorhandenen Bausteinen wahre Monumente.

Doyle hatte, im Gegensatz zu Baker, große Stücke auf mich gehalten. Meine Recherchen zu dem Fall hatten mir damals zu einer Beförderung bei meinem Schmierblatt, wie Doyle es immer genannt hatte, verholfen. Zum Oberschmierer, hatte er gelacht, als wir uns auf der Pressekonferenz getroffen hatten, die der Hedderby-Konzern seinerzeit einberufen hatte und in der die Geschäftsführung ganz deutlich klarstellen wollte, dass Matthew Hedderby sich schon vor Jahren aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hatte und der Konzern keinerlei Kenntnisse von den Machenschaften ihres Firmeninhabers haben konnte. Daher wurde mit aller Deutlichkeit jeglicher Zusammenhang zwischen Hedderby Chemicals Inc. und den skandalösen Geschäftsgebaren von Matthew Hedderby zurückgewiesen. Die Schmierblätter, allen voran der Buffalo Star, für den ich damals arbeitete, mussten ihre Seiten eben vollkritzeln mit immer sensationslüsterneren Märchen und schadeten damit ehrlichen, amerikanischen Unternehmern, die ihren amerikanischen Traum lebten, damit ihre Familien etwas zu beißen hatten. Ehrlich, bei der Rede hatte ich seinerzeit fast eine Träne verdrückt. Doyle war es gewesen, der die Beweise dafür gesammelt hatte, dass der Firmeneigner Matthew Hedderby der Drahtzieher des Geschäfts gewesen war. Damit hatte Doyle den ersten Dominostein zu Fall gebracht. Einen nicht unerheblichen Hinweis hatte er dabei von einem Journalisten erhalten, der kurz vor seiner Beförderung gestanden hatte… Aber Baker & Doyle waren auch damit beauftragt worden, Beweise für die Beteiligung der Geschäftsführung zu sammeln. Und wer die beiden nicht im eigenen Team gewusst hatte, hatte definitiv schlechte Karten gehabt. Heute allerdings brächte der Laden kaum mehr als ein Butterbrot und ein Ei ein und selbst das klang verlockend, da ich seit Wochen nicht mehr so gut gegessen hatte …

»Weder noch – das ist nur der Name. Ich habe auch einen«, sagte ich, erhob mich aus meinem Sessel und streckte der Lady meine Hand entgegen. »Darf ich mich vorstellen? Niclas Richmond, aber alle nennen mich Rich.«

War das ein verächtliches Schmunzeln auf ihrem Gesicht oder hatte sich der Vorhang bewegt und es war eine optische Täuschung? Wem wollte ich etwas vormachen? Wer sich im Büro umsah, dem kamen viele Worte in den Sinn: heruntergekommen, dunkel, muffig, aber nicht »Rich«.

»Sie waren also …«, schob ich meinen Gedanken an.

Sara Anderson antwortete nicht gleich, sondern wirkte, als müsste sie tatsächlich überlegen. Offensichtlich kramte sie Bilder aus ihrem Gedächtnis hervor und wahrscheinlich konnte sie diese nicht sofort einordnen.

»Ich war bei der Vernissage«, sagte sie. Sie war also eine Kunstliebhaberin. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre, aber ich war nicht mehr der verbissene Heißsporn vergangener Tage und es war inzwischen einer meiner Stärken, en passant vermeintliche Nebensächlichkeiten aufzuschnappen, um sie dann später auf Knopfdruck auszuspielen, wenn sie doch noch einmal wichtig wurden. Diese und andere Eigenschaften hatten mich dahin gebracht, wohin ich einst gekommen war: ganz nach oben. Andere brachten mich dann wieder hierher zurück.

»Was ist dann passiert?« Noch hatte ich nicht den Eindruck, dass es wert gewesen wäre, nüchtern zu werden.

»Das kann ich leider auch nicht sagen«, sagte sie mit einem Schulterzucken.

»Aber wie kamen Sie dann auf mich?«

Ich musste husten, was längst getrunkene Prozente auf unangenehme Weise meine Nase durchpusten ließ.

Sie sah mich an, ratlos, fast mitleidig, nach Worten suchend.

»Wie kommen Sie darauf, dass ich auf Sie gekommen bin?«

»Naja, zum einen sind Sie hier.« In meinen jungen Jahren hätte sie nun sehen können, wie ich meine Stirn runzelte, aber im Laufe der Zeit waren die Falten einfach dageblieben, so dass das Runzeln mit bloßem Auge kaum erkennbar war.

»Ich weiß, ich bin mit einem Taxi zur Vernissage gefahren. Ich entsinne mich auch, dass ich in die Galerie reingegangen bin oder zumindest die Tür dazu geöffnet habe – und dann erinnere ich mich erst wieder ab dem Moment, an dem ich in einem Taxi aufgewacht bin. Der Fahrer sagte, wir wären da. Und dann nannte er diese Adresse und dass er sie von meinem Mann hätte und dieser gesagt habe, er solle mich dorthin fahren. Ich sagte ihm, dass ich überhaupt nicht verheiratet sei. Da spuckte er nur sein Kaugummi aus dem Fenster und sagte, wie dem auch sei, die Reise sei beendet, bezahlt und ich solle aussteigen.«

Nannte er diese Adresse. Immer und immer wieder dröhnte dieser Satz in meinem Kopf wie ein nicht enden wollendes Echo. Was hatte es mit der Braut auf sich? Was konnte passiert sein? Und warum schickte sie jemand zu dieser Adresse?

Zu meiner Adresse, denn die Wohnung über der Detektei am Virginia Place stand seit Jahren leer und die Büroräume im Komplex hatten Baker und Doyle seinerzeit alle aufgekauft, falls die Detektei noch einmal expandieren würde. Das konnte nun nicht mehr passieren, aber vermietbar waren die Räume, die seit Jahrzehnten unbenutzt waren, auch nicht mehr. Jedenfalls nicht, ohne sie vorher einer Grundrenovierung zu unterziehen. Wer also führte die Lady in Green direkt in mein Leben? Einer, der mich kannte vielleicht. Der sie so gefunden hatte, bewusstlos nach einem schmutzigen Glas Wein oder einem getränkten Tuch vor der Nase, und gedacht hatte, sie zum Besten zu schicken. Schließlich, wenn einer einen so verworrenen Fall in dieser Stadt würde lösen können, dann ich, Niclas Richmond. Rich – ich nickte mir selber zu – ich hatte wieder einmal die wahrscheinlichste Lösung auf dem Tisch. Aber ich wäre nicht der Beste, wenn ich nicht auch akribisch alle weniger wahrscheinlichen Möglichkeiten bis ins kleinste Detail durchleuchten würde.

»Helfen Sie mir?« Türkisgrüne Augen sahen mich flehend an – bei der Frau passte farblich einfach alles zusammen, wenn auch sonst nichts. Ich vergesse manchmal, warum ich das tue, aber wenn so ein junges, hilfloses Ding vor meinen Schreibtisch erscheint und mich mit trauriger Miene um Hilfe bittet ... Ich wusste, ich war ihre letzte Hoffnung, der Strohhalm, nach dem die Ertrinkende griff. Ihre letzte Chance. Ihre einzige Chance.

»Ich kriege 200 Mäuse pro Tag plus Spesen.«

Kapitel 2

 

Nachdem ich Sara einen Kaffee angeboten hatte – schwarz, ohne Zucker, denn die Schnitte war verdammt nochmal schon süß genug –, zückte ich mein Tablet und begann, die wesentlichsten Dinge aufzuschreiben:

Erinnerungen

Das war das erste, was wir herausfinden mussten: Bis wann konnte Sara sich noch erinnern, ab wann konnte sie wieder klar denken und gab es irgendetwas, das dazwischen stattgefunden hatte, das noch in irgendeiner Form vorhanden war, sei es ein Geräusch, eine Farbe, ein Gefühl? Es konnte alles sein. Ich war mir sicher, dass mehr fehlte als nur die knappe Stunde, die nun inzwischen offensichtlich war. Wir mussten da ins Detail gehen, aber dafür hatten wir keine Zeit. Noch nicht.

Der vermeintliche Ehemann

Sara behauptete, nicht verheiratet zu sein. Sie würde den Mann, dem sie angeblich das Jawort gegeben hatte, kaum identifizieren können, oder doch? Sie erinnerte sich nicht, in das Taxi gestiegen zu sein, also war da auch kein Gesicht, das sie mit dem Unbekannten in Verbindung bringen konnte. Der Taxifahrer, der konnte ihn vielleicht beschreiben. Ziemlich sicher sogar, denn er hatte ja die Scheine kassiert. Das war erstmal die wichtigste Spur.

Taxifahrer

Diesen Punkt schob ich erstmal nach hinten, da es einiger Recherchen bedurfte, um ihn ausfindig machen zu können.

Die Vernissage

Wir mussten sicher in die Galerie zurückfahren, in der die Vernissage stattgefunden hatte. Sara wusste nicht mehr, ob sie in Begleitung gewesen war.

 

»Ich ging alleine rein«, sagte sie. »Da bin ich mir recht sicher. Ich überlege, wer sich dafür interessiert hätte – da fallen mir nicht viele ein.« Sie schien noch weiter zu grübeln und ich ließ sie, denn wenn sie nicht alleine zu der Veranstaltung gegangen war, musste sie sich doch erinnern, dass sie sich mit irgendwem verabredet hatte.

»Ein Freund vielleicht?«, fragte ich.

Sie nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Ich trank meinen Kaffee schwarz und stark, sonst erzielte er nicht die Wirkung. Und es sah so aus, also bräuchte ich einen klaren Kopf für diese Sache.

»Nein, mir fällt wirklich niemand ein, der sich dafür hätte interessieren können.«

Ich speicherte, was ich bislang hatte und sah Sara an. Zurück zur Vernissage zu fahren, war das Offensichtliche. Nur war die lauernde Gefahr nicht zu unterschätzen. Wenn derjenige wiederkäme, der für den Blackout von Sara verantwortlich war, war sie in großer Gefahr, da sie ihn nicht erkennen würde, und selbst wenn doch, würde sie möglicherweise in dieselbe Falle tappen wie beim ersten Mal. Gut, dieses Mal hätte sie einen Profi an ihrer Seite, aber genau das könnte denjenigen auch zu einer unbedachten Handlung veranlassen. Ich hatte schon viele vor mir hergejagt und kannte das Gefühl, jemanden in die Enge getrieben zu haben. Und ein Tier, das in die Enge getrieben wird, hat nichts zu verlieren und wenn das passierte, durfte ich mich nicht auch noch um die hübsche grüne Lady kümmern müssen. Wenn das passierte, waren es meine Glock 17 und ich gegen den Rest der Welt. Ich hatte meine Halbautomatik erst vor wenigen Jahren bei einem Pokerspiel gewonnen, das fast legal gewesen war. Jedenfalls war ein Ex-Bulle dabei gewesen. Ich hatte erst was für ein Spielzeug gedacht, denn sie lag viel zu leicht in der Hand, aber im Laufe der Zeit erkannte ich die Vorteile. Sie war handlich und zielgenau und ließ sich gut unbemerkt am Körper führen. Ich überprüfte das 33er Magazin auf Vollständigkeit und schob die Waffe zurück in den Halfter. Außerhalb des Schießstandes hatte ich noch keinen einzigen gezielten Schuss abgefeuert – aber wenn jemand einen falschen Plan hätte, würde meine Glock diesen durchkreuzen, soviel stand fest.

Am liebsten hätte ich die Spur bei dem Taxifahrer aufgenommen, aber die Spur war irgendwo da draußen und es war noch lausig kalt in meiner Nase. Wie groß waren die Chancen, dass jemand unten vor der Tür beobachtet hatte, wie sie aus dem Taxi stieg? Und sich dann sowas wie eine Automarke, ein Kennzeichen, den Namen oder die Nummer des Taxiunternehmens hatte merken können? Immerhin konnte Sara eine brauchbare Beschreibung des Fahrers abgeben. »Mitte bis Ende vierzig, schütteres, dünnes Haar, das einige Tage nicht gewaschen worden war, braune, abgewetzte Lederjacke, schwarzes Polohemd, unmodern«, erklärte sie mir und ich speicherte die Datei mit diesem vernichtenden Urteil über das Modebewusstsein der Taxifahrer-Gilde von Buffalo ab.

»Ja, unmodern«, wiederholte sie. Sie kam gerade aus der Toilette, wo sie gewesen war, um sich ein bisschen aufzufrischen und roch nun noch mehr nach Lavendel, als ich sie hinter mir stehend bemerkte. Offensichtlich las sie meine Stichworte.

Ich drehte mich um wie ein Schüler, der bei einer Klassenarbeit entdeckt, dass der Nachbar von einem abschreibt und sah, wie sich ihr Mund formte und »Ford, gelb« sagte. Als ich nicht sofort reagierte, schob sie ein »die Automarke« nach. Ford, okay, das grenzte es ein … Ein gelbes Taxi, ja … Super!

»Die Sitze waren beige, naja, es waren so Sitzbezüge, wie man sie im Supermarkt kaufen kann, mit so einem komischen Rautenmuster. Irgendwie pastellgelblich. Und als Schaltknüppel hatte er da eine Billardkugel draufgeschraubt.«

»Die schwarze Acht?«

Sie lachte, nein, sie lächelte, aber ohne ihre Zähne zu zeigen. Vielleicht zog sie auch nur ihre Augenbrauen hoch, aber sie zeigte eine Reaktion.

»Ja, Klischee, oder?«

Gut, einige wenige Informationen gab es nun, die ich streuen konnte. Seit einem Jahr etwa hatte ich die Möglichkeiten des World Wide Webs entdeckt, vor allem, was soziale Netzwerke betraf. Lange hatte ich mich gesträubt, gute alte Fußarbeit auf der Straße durch Surfen auf den Datenautobahnen auch nur zu ergänzen. Bis eines Tages mein Freund Vince sein Blackberry gegen ein iPhone tauschen wollte und mir sein altes Handy für einen Freundschaftspreis überließ. Es dauerte nicht lange, bis mein Equipment durch ein Tablet erweitert worden war. Ich hatte mir in den letzten Monaten durch gezielte Freundschaftsanfragen und Postings ein recht brauchbares Netz zusammengesponnen. Einige Male sinnlose, vermeintlich witzige Fotos mit einem einfachen LOL gewürdigt, schon bekam man von selbst Freundschaftsanfragen von Leuten, die man nie kennengelernt hatte. Ich loggte mich also bei Facebook ein und gab unter Was machst du gerade die Stichpunkte suche Taxifahrer, gelber Ford, schwarze 8, beige Sitzbezüge mit Rautenmuster, hat gerade Dienst ein und loggte mich wieder aus. Vielleicht ergab das was – man wusste nie.

»Sowas von Klischee«, antwortete ich übertrieben zustimmend. Frauen verstanden so etwas nicht. Ich kannte jedenfalls keine, die eine schwarze Billardkugel als Schaltknüppel cool fand.

Wo ich gerade online war, konnte ich gleich mal nach Vernissage Buffalo googeln. Nach wenigen Klicks war ich schon ratlos, drehte mich um und sah in ein blasses Gesicht. Jetzt, wo die Schreibtischlampe ihren kühlen Schein auch auf die Stirn der Lady warf, schimmerte ihr Gesicht ebenfalls blassgrün.

»Wir sind nicht in New York …«, sagte sie mit schwacher Stimme und starrte mich mit großen Augen fassungslos an.

Kapitel 3

 

Das rötliche Licht der untergehenden Sonne drang nur noch schwach durch die Bürofenster. Die Fahrt nach New York würde um die sieben Stunden dauern – ein sofortiger Aufbruch machte also wenig Sinn. Die Chance, dass die Vernissage noch lief, wenn wir eintrafen, war gleich Null. Ich schlug Sara vor, sich ein wenig auszuruhen und zog meine Jacke an, um mir ein bisschen die Beine zu vertreten, während sich Sara ein wenig ausruhen wollte. Ich ging raus auf die Straße.

Vor ein paar Monaten wäre ich jetzt ins Scarlet gegangen und hätte mich dort nach dem Taxi umgehört. Direkt neben der Detektei lag das kleine Burger-Restaurant, in dem ich an manchem Abend nach getaner Arbeit das eine oder andere Lager gekippt hatte. Meistens mit Vince, der inzwischen bei einem Sicherheitsdienst angeheuert hatte. Kaum zu glauben, aber inklusive Nachtschichtzuschläge kam er da auf mehr Kies als noch zu seinen Zeiten als Cop und obwohl auch der neue Job durchaus einige Gefahren mit sich brachte, schlief seine Ellen seitdem ruhiger, wenn er nachts unterwegs war, um die Stadt ein kleines bisschen sicherer zu machen. Und die beiden hatten zwei großartige Kinder, die vor einigen Jahren flügge geworden waren: Stuart war Drummer in einer Indie-Rockband und mit dieser ständig auf Tour, was Ellen gar nicht gefiel. Bis rauf nach Boston und runter nach Philly waren die Chubby Ankles in jeder Bar ein angesagter Act. Val schrieb im Lokalteil für eine kleine Zeitung in Brooklyn. Immer, wenn ich davon erzählte, tat ich das mit stolzgeschwellter Brust, meist aber ohne zu erwähnen, dass ich schon einen nicht unerheblichen Anteil daran hatte, dass aus ihr eine durchaus angesagte Journalistin geworden war. Naja, zumindest hatte sie gleich zwischen drei Angeboten wählen können und hatte sich glücklicherweise für das richtige Blatt entschieden, nämlich für das, das ich ihr empfohlen hatte.

Als die beiden noch Kinder waren, hatte ich mich manchmal um sie gekümmert, damit Vince und Ellen mal Zeit für sich hatten. Ich war seit der Sache damals in Kenmore nie wieder etwas Ernstes eingegangen und hatte manchmal einfach nichts Besseres vor. Nicht, dass es an Gelegenheiten gemangelt hätte, wenn vielleicht auch nicht mehr so viele wie in den guten alten 90er Jahren, in denen ich erst Oberschmierer bei einem Schmierblatt geworden war, das sich aber zufällig – und auch daran hatte ich einen nicht unerheblichen Anteil – sehr gut verkaufte und Spitzenleuten wie mir ein anständiges Gehalt bieten konnte. Und nach einigen Jahren bei Baker & Doyle, bei denen ich mit meinem ersten, seinerzeit gelb-schwarzen 69er GTX vorgefahren war, lebte ich zwar mehr von Provisionen, die wir für erfolgreich abgeschlossene Fälle erhielten, als vom Gehalt, aber das verdammt gut. Einige Jahre lang zumindest, aber auf den Gedanken, dass der Lauf, den ich seinerzeit zweifellos hatte, zeitlich begrenzt sein würde, war ich nicht gekommen. Oder ich hatte ihn nicht zugelassen. Und das sollte ich kurz darauf mit aller Macht zu spüren bekommen. Zuviel hart verdiente Dollars hatte mein GTX geschluckt – und letztlich meine Leber. Nicht zu vergessen die Jennifers, Angelinas, Reginas, Tiffanys und wie sie alle hießen. Bis dann der Dollarnachschub immer mehr versiegt war und die Bars, in denen ich abgehangen hatte, immer billiger geworden waren. Aber selbst dann konnte von Zeit zu Zeit die eine oder andere Schnitte meinem unnachahmlichen Charme nicht widerstehen. Mir hing der maskuline Duft der Straße an und manche verloren sich darin, wenn sie in meine Augen blickten, den Augen, denen der ganzen Schmerz und Dreck der Gossen nichts anhaben konnte. Augen, die aber zeigten, dass die Seele dahinter schon Kämpfe ausgetragen haben musste, von denen die Betrachterinnen nicht den Hauch einer Ahnung haben konnten. Augen, die sagten: »Trotz des ganzen Gegenwindes blickst du in die Augen eines Siegers.« Und doch aber auch alle Melancholie nach außen transportierten, die sich im Laufe der Jahre dahinter angesammelt hatte. Diese Mischung war explosiv und ich konnte es den Mädels nicht verübeln.

Aber sowie eine von ihnen Pläne mit mir machen wollte, von gemeinsam Wegfahren sprach oder gar auf die absurde Idee kam, ich sollte ihre Freunde oder sogar – Gott behüte – Familie kennenlernen, bewegte ich mich eilig in Richtung Ausgang auf dem Weg nach Nimmerwiedersehen. Ich hatte es nie verstanden – ich hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich kein Material für eine feste Beziehung war. Manche von ihnen hatten mich Arschloch genannt und Schlimmeres, aber sie konnten mir vorwerfen, was sie wollten: Ich hatte immer mit offenen Karten gespielt. Vielleicht war genau das der Punkt, warum die Fische immer wieder anbissen, selbst, wenn ich gar nicht angelte. So manche dachten sicher, sie könnten mich umkrempeln, könnten die Wunden in meiner Erinnerung heilen, könnten verhindern, dass sie manchmal nachts aufbrachen in endlosen Nächten, in denen ich schweißgebadet wach lag. In denen meine Augen brannten und ich panisch nach Luft rang, bis ich merkte, dass um mich herum alles ruhig war, dass ein kühler Luftzug durch das offene Fenster wehte und dass das Mondlicht nur einen leichten Schein in mein Schlafzimmer ließ. Nächte, in denen ich Angst hatte, wieder einzuschlafen.

Vince war der einzige, mit dem ich reden konnte. Ohne viel zu reden. Manchmal saßen wir einfach nur zusammen und schauten gemeinsam ein Football-Spiel an, tranken Lager und redeten kaum ein Wort. Aber das waren die besten Gespräche, es war wie eine Football-Lager-Therapie. Schätze, bei den Mengen an Alkohol auch nicht billiger als eine von denen, die inzwischen an jeder Ecke angeboten wurden. Es gehörte ja vor ein paar Jahren fast zum guten Ton, sich Therapiestunden reinzuziehen. Aber aus keiner Therapiestunde bin ich je mit so einem guten Gefühl herausgegangen, wie in jenen Tagen aus dem Scarlet nach ein paar Lager mit Vince. Und das komische war: Je öfter ich mit Vince einen trinken ging, desto weniger Alkohol floss. Bis aus dem Saufkumpanen, wie mich Ellen viele Jahre lang ohne mein Wissen abfällig abgestempelt hatte, ein gern gesehener Gast im Hause Watson wurde. Und so entwickelte sich auch zu den Kindern Stuart und Val ein gutes Verhältnis. Ich hatte die beiden nie wirklich wie Kinder behandelt – ich wusste auch gar nicht, wie man das machte. Vor allem Val entwickelte schnell ein Talent für das Schreiben. Sie schrieb komische Geschichten über Schlümpfe in Entenhausen oder einen fiktiven Außerirdischen, der von einer Kindergang gejagt wurde, bis plötzlich ein echter Außerirdischer auftauchte. Ich liebte diese naive Art, die Dinge zu sehen, und gab ihr viele Tipps, wie man Spannungsbögen ausreizen, durch Veränderung des Blickwinkels vielleicht neue Frische in eine Geschichte bringen konnte, die drohte, in einer Sackgasse zu enden.

Auch meine Überlegungen in dem Fall der grünen Lady drohten in einer Sackgasse zu enden. Ich zwängte mich in das kleine Restaurant gegenüber des Scarlet, das vor einigen Monaten seine Türen geschlossen hatte. Obwohl es direkt neben der Detektei lag, konnte es das Scarlet nicht ersetzen. Zu voll, zu wenig Leute aus der Gegend, dachte ich. Speisen wie bei Muttern war das Motto. Ein paar Mal hatte ich das gefüllte Hähnchen und die Frikadellen probiert und war nicht enttäuscht worden. Die kleine Gruppe von Rauchern, die vor dem Restaurant stand und lautstark über American Football, vor allem über den Verkauf der Buffalo Bills diskutierte, war nach eigenem Bekunden erst vor ein paar Minuten eingetroffen. So kämpfte ich mich zu Keith durch, der hinter dem Tresen gerade ein frisches Lager zapfte. Nachdem geklärt war, dass er nichts gesehen hatte, das mir hätte weiterhelfen können, bat ich ihn, sich im Laufe des Abends bei seinen Gästen doch mal umzuhören und drückte ihm einen Zehner in die Hand. Er nickte und ich machte mir keine großen Hoffnungen, dass dieser Schein gut investiert sein würde.

Nur ein paar Meter weiter war ich diesbezüglich optimistischer. Seit das Scarlet geschlossen war, trafen sich Vince und ich meistens in einem etwas größeren BBQ-Schuppen mit einer exzellenten Küche und einer großen Auswahl amerikanischer, mexikanischer und britischer Biere. Ich hatte dort mein erstes Newcastle getrunken und war seitdem meist dabei geblieben. Aber nun war mein Magen eher flau – er brauchte etwas zum Arbeiten. Ich bestellte zwei BBQ Bacon Burger, einen mit extra Käse und Jalapeños. Jake hatte mich an der Tür schon abgefangen und meine Bestellung aufgenommen. Ihm gehörte der Laden zwar nicht, aber er schmiss ihn fast alleine. Für sein Alter – er mochte gerade Ende zwanzig sein – hatten sich schon eine nicht unerhebliche Anzahl von Ringen unter seinen Augen platziert. Aber er verstand seinen Job, hatte einen der besten BBQ Köche der Stadt eingestellt und ein gutes Konzept. Wer allerdings BBQ mit Grillen verglich, musste sich auf einen langen Vortrag gefasst machen. »Eine Praline«, hatte er mir mal gesagt, »schluckst du auch nicht in einem Stück herunter. Du lässt sie langsam auf der Zunge zergehen, nur dann kann sie ihren Geschmack voll entfalten. Dasselbe ist es mit dem Fleisch auf einem BBQ – du musst es langsam erhitzen. Wer Fast Food will, geht zur Konkurrenz. Die Franzosen essen vier Stunden lang und länger und manche von uns meinen, von der Bestellung bis zur Bezahlung mit weniger als einer halben Stunde auskommen zu wollen.« Jake hatte den Kopf geschüttelt. »Alles Barbaren!«

An jenem Tag aber war Jake weniger gesprächig. Dennoch bat ich ihn, sich mal umzuhören. Den toten Präsidenten konnte ich diesmal steckenlassen, als Stammgast half Jake mir gerne. Es war der erste Fall, der direkt eine Spur hier am Virginia Place hinterließ und auch wenn ich mir keine großen Hoffnungen machte, einen entscheidenden Hinweis zu erhalten, so hatte ich es doch in der Nase, dass, wenn jemand etwas zu dem ominösen Taxi beisteuern konnte, es Jake sein würde.

Er war eine echte Plaudertasche – er begrüßte jeden Gast wie einen Freund, den er lange nicht mehr gesehen hatte und über dessen Besuch er sich ganz besonders freute. Das war eine spezielle Gabe von Jake – man hatte gar nicht das Gefühl, in einem Restaurant zu sitzen, sondern bei einem Kumpel, der an einem warmen Sommerabend das BBQ anschmiss und mit dem man zusammen auf etwas anstieß: auf den Frieden oder dass die Bills das nächste Spiel gewannen oder einfach nur auf einen schönen Abend. Tatsächlich lohnte sich die Warterei auf die Burger, denn einer jungen Frau mit krausen, brünetten Haaren, die provisorisch mit einer Klammer nach oben gesteckt waren, war das Taxi tatsächlich aufgefallen.

»Ein New Yorker Taxi in Buffalo«, sagte sie, als sei sie immer noch überrascht. »Das sieht man ja nicht alle Tage.«

Ich zückte mein Blackberry und schrieb die wichtigsten Beobachtungen auf. Leider waren es nicht sehr viele. Der Ford war offensichtlich ein Crown Victoria – das hatte ich erwartet und das half nicht wirklich weiter. Sehr gut beschreiben konnte sie die blonde Frau in dem auffälligen Kleid, die aus dem Taxi gestiegen war, zögerlich und ratlos noch verharrte, wo der Crown längst kehrtgemacht und wahrscheinlich seine lange Fahrt zurück zum Big Apple begonnen hatte. Aber die Beschreibung nutzte auch nichts – wie Sara aussah, wusste ich ja bereits. Zum Taxi konnte sie auch nicht mehr sagen – auf die Werbung darauf hatte sie nicht geachtet.

»Haben Sie denn die Nummer sehen können an der Tür?« Madame Kraushaar kratze sich im selbigen und schüttelte den Kopf. »Nein – ich würde denken, irgendwas mit 90 am Ende, aber es kann auch 30 gewesen sein oder 99?«

Irgendwas mit … – das grenzte es ein. Noch hatte ich keine Ahnung, wie mir die dürftigen Informationen weiterhelfen konnten, aber es waren manchmal einfach auch die Informationen, die man nicht bekam, die eine höhere Bedeutung hatten als die, die man erhielt. So war offenbar kein zweites Fahrzeug im Spiel gewesen. Madame Kraushaar sagte klar und deutlich, dass es eine Weile gedauert hatte, bis die Dame letztlich ausgestiegen war und dass kein Fahrzeug dahinter gewartet hätte. Damit war nun auch klar: Die Dame war wirklich allein nach Buffalo gekommen. Niemand hatte sie erwartet oder sie gar auf dem Weg in mein Büro begleitet. Ihre Geschichte schien zu stimmen, aber das war keine Überraschung. Es war nicht nur ihr unschuldiger Blick, es war auch die Angst in diesem, die Verzweiflung darüber, die er nicht verbergen konnte, in eine Situation geraten zu sein, die Sara nicht unter Kontrolle hatte. Meryl Streep mochte so etwas spielen können, Sara Anderson nicht. Da war ich mir sicher.

Es war ein Anfang. Es fing ja immer so an, aber wenn ich nur einen Fetzen erwischen konnte, war ich wie eine Bulldogge, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis der Job getan war.

Ich bezahlte die beiden Burger und ging zurück in die Detektei. Ich beschloss, Vince anzurufen und ihn zu fragen, ob er Ellen vielleicht um etwas bequemere Kleidung bitten konnte, die sie Sara ausleihen konnte. So in etwa müsste die Größe stimmen und so scharf die Schnitte in ihrem Abendkleid auch aussah – so konnte ich unmöglich mit ihr in New York herumlaufen.

Als ich zurück ins Büro ging, lag Saras Kopf auf ihrer Handtasche, die wiederum auf meinem Schreibtisch lag. Leicht hob sie ihn, als sie mich bemerkte. Mit müden Augen schaute sie mich an, bis sie diese nach der Entdeckung des Burgers weit aufriss. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich hatte den Eindruck, ihr Gesicht hatte inzwischen auch ohne den Schein der Schreibtischlampe eine blassgrünliche Farbe angenommen.

»Ich bin hundemüde«, gähnte sie. »Aber den Burger schickt ein Engel.« Und auch das sagte sie ohne eine Spur von einem Lächeln.

»Möchten Sie jemanden anrufen?«, fragte ich sie. »Sie werden doch sicher in New York vermisst.«

»Danke«, erwiderte sie und nickte in Richtung ihrer Handtasche. »Ich wollte eben einer Freundin Bescheid geben, wo ich bin, aber mein iPhone ist leer. Ich würde gerne sagen, sie soll sich keine Sorgen machen. Ich würde ihr morgen erklären, was passiert ist. Und im Büro erwartet man mich eh erst wieder am Montag.«

Nachdem wir das ungesunde Zeugs heruntergedrückt hatten, griff ich wieder zu meinem Blackberry, das mir Sara nach einem kurzen Gespräch zurückgegeben hatte und wählte eine wohlbekannte Nummer.

»Ellen Watson«, meldete sich eine dunkle Frauenstimme. Ellens Stimme hatte einen warmen, freundlichen Klang, der nicht zu der Förmlichkeit ihres Tons passte. Offensichtlich hatte sie nicht auf das Display geschaut und sie rechnete ja auch nicht mit meinem Anruf. Vince war nicht zu Hause, aber gut, ich benötigte für Sara ja auch keinen von Vince´ Anzügen, so konnte ich Ellen direkt fragen.

»Der war gut«, schmatzte Sara. Mindestens seit Fahrtbeginn aus New York hatte sie nichts Essbares mehr zwischen die Zähne bekommen und ich fragte mich, ob dieser eine Burger ihr reichte. Aber am Ende hatte sie ihn zwar fast doppelt so schnell verdrückt wie ich, aber sie lehnte sich dann erschöpft zurück und schien erstmal zufrieden zu sein.

Zum ersten Mal, seit sie vorsichtig und voller Spannung den Raum betreten hatte, lag so etwas wie ein tiefer Atemzug in der Luft. Zwar nur wie eine kurze Pause, wie im Ring während eines Boxkampfes, dessen Ausgang keiner vorhersehen kann, aber immerhin. Ich betrachtete ihr Gesicht, das für einen kurzen Moment satt und zufrieden aussah. Sie hatte dunkelblondes Haar, dem, obwohl es recht kurz geschnitten war, ihre Frisur doch eindeutig eine feminine Note verlieh. Ihre grünen Augen wirkten die ganze Zeit über verloren und ich fragte mich, ob sich das ändern würde, wenn man sie mit so etwas wie einem Lächeln kombinierte. Ob sie enger werden würden, wenn sie wütend war? Aber ich hätte nicht darauf gewettet, sondern war der festen Überzeugung, sie würden dieselben hilflosen Signale aussenden, wie sie es taten, als ihre türkisfarbenen Pumps sie in mein Büro geführt hatten. Ihre Wangen wirkten kantig und weich zugleich, ein Zusammenspiel zweier Eigenschaften, die normalerweise kein Team bildeten. Genau das aber war das Faszinierende an ihrem Gesicht. Und ihre Lippen – manche Frauen gaben jedes Jahr Unmengen von Geld aus, damit ihre Lippen so voll wirken würden und verfehlten damit meist das Ziel, denn die Natürlichkeit ging dann fast immer den Bach runter (genauso wie der Kontostand der dazugehörigen Ehemänner). Ich war da immer schon eigen gewesen – wenn ich Botox im Gesicht sah, kam mir das Essen von vor drei Tagen wieder hoch und es verdarb mir jeglichen Appetit auf neues. Und mein Magen knurrte eigentlich immer, so dass Hunger und Appetit für mich nur noch sowas wie Synonyme waren. Aber ihre Lippen waren auf eine ganz natürliche Weise voll und verführerisch, ein Brigitte Bardot–Gedächtnis-Schmollmund. Man wusste gar nicht, wohin man als erstes schauen sollte – das ganze Gesicht war ein einziges Kunstwerk. Sie musste die Männerherzen im Akkord brechen.

Reiß dich zusammen, Rich, wies ich mich selbst an, als mein Blick wieder auf ihr Abendkleid herunterfuhr. Du bist Profi, mahnte mich eine innere Stimme und eine andere fügte ein hämisches ein ALTER Profi hinzu. Das Mädchen könnte gut und gerne meine Tochter sein und wenn ich an meine Aktivitäten zu besseren Zeiten zurückdachte, bestand dafür sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Außerdem war sie eine Kundin und wir brauchten beide einen kühlen Kopf.

 

Kapitel 4

 

Ich wohnte in einem kleinen Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert in der Cornelia Street, gleich gegenüber von einem Center für Verkauf und Schärfen von Sägeblättern. Das Haus hatte ich damals als Notlösung gekauft und es sollte eigentlich als Übergang dienen. Es hatte leer gestanden und das war das Hauptkriterium gewesen, da Wohnraum knapp gewesen war. Außerdem war ich ohnehin nur zum Schlafen zuhause. Zu den besten Zeiten von Baker & Doyle waren 14-Stunden-Tage keine Seltenheit. Meist ging man danach noch ins Mulligan’s, um runterzukommen, vielleicht noch, um Einzelheiten eines Falles bei zwei, drei Glas Honker's Ale zu besprechen oder auch nur, um die Gelegenheit zu suchen, die Nacht nicht alleine verbringen zu müssen. Der Pub lag zwar einige Minuten vom Büro entfernt, aber die Musik war cool, das Ale kalt und es hingen immer ein paar heiße Schnitten da herum. Essen servierte man dort damals schon nicht, aber wir hatten ohnehin unsere Sandwiches oder Hot Dogs meist tagsüber nebenbei verdrückt. Irgendwann aber hatten sich unsere Ansprüche diesbezüglich gewandelt, weswegen wir dann immer seltener ins Mulligan’s gegangen waren. Deswegen und vielleicht aufgrund der Tatsache, dass die Freundin vom Wirt seinerzeit ein kleines Techtelmechtel nebenher hatte mit einem gutaussehenden, erfolgreichen Privatdetektiv, was mir sowas wie Hausverbot eingebracht hatte. Und eine Nacht im Knast, weil ich vielleicht etwas zu hart zurückgeschlagen hatte, als mir der Wirt eine Lektion erteilen wollte und danach den Kollegen von der Streife den Verlust eines Schneidezahnes melden musste. Ich war immer schon ein friedfertiger Mensch gewesen, aber angegriffen funktionierte mein Körper wie eine Präzisionswaffe. Ich hatte noch nie jemanden so fluchen hören wie ihn in jener Nacht, in der er die psychischen Schmerzen für einen Moment vergessen konnte, weil die physischen sie übertrumpft hatten. Ich war selber auch nicht glücklich gewesen, denn so viele coole Bars hatten wir in der Stadt nicht und vor allem Doyle war eine Weile muffig gewesen, weil er ungern auf sein Honker's Ale verzichten wollte und dort danach auch kein so gern gesehener Gast mehr war.

Sex hatte ich an den seltsamsten Orten gehabt und oft genug damit geprahlt, aber nie im eigenen Bett. Seit ich in Babcock wohnte, hatte nie eine Schnitte einen Fuß in mein Schlafzimmer gesetzt. Das würde auch heute nicht passieren. Zum einen war die Kleine viel zu jung. Das hatte mich zwar bei der einen oder anderen Barbekanntschaft nicht gehindert – meine Formel war da ganz einfach wenn legal dann egal, aber das hier war kein Bierflirt, das war keine Frau, mit der man die Welt um sich herum einfach mal vergessen konnte für eine Nacht, der man danach sagen konnte: Das war toll, das sollten wir irgendwann nochmal machen – ich ruf dich an und sie sagt dann Unbedingt! und denkt Wenn du glaubst, dass ich dir meine richtige Telefonnummer geben würde, bist du noch naiver, als ich dachte. Wobei, die falsche Telefonnummer zu hinterlassen, das hab´ ich ja wohl erfunden, naja, zumindest perfektioniert. Manchmal hinterließ ich Telefonnummern von irgendwelchen Leuten, die mir auf die Nerven gegangen waren. Dieser Winkeladvokat zum Beispiel, der beinahe dafür gesorgt hatte, dass sein Klient mit seiner Schwarzarbeitervermittlung uns von der Schippe gesprungen wäre. Der Typ war auf der auf-den-Zeiger-gehen-Skala im blutroten Bereich. Oder als ich gerade ein gutes Jahr bei Baker & Doyle war, stellten die so einen studierten, schnöseligen Kanadier ein, der meinte, sich beliebt zu machen mit wahnsinnig komischen Witzen über unser Land. Amerikanisches Bier sei der Versuch, Wasser zu verdünnen – hallo? Doyle hatte mal gesagt: »Die Kanadier hatten das größte Potential aller Nationen. Sie könnten die Kultur der Briten haben, die Küche der Franzosen und die Technologie der Amerikaner. Stattdessen haben sie die Kultur der Amerikaner, die Küche der Briten und die Technologie der Franzosen ...« Ich hatte nur gelacht und denke noch heute darüber nach, wie er das mit der Kultur gemeint haben könnte. Heute, nachdem ich den Spruch mal bei Facebook geschickt bekommen habe, bin ich mir nicht mehr so sicher, dass er sich das selber ausgedacht hat.

Nein, ich wusste noch nicht, wer diese Sara war, aber so eine war sie nicht. Obwohl mir nicht entgangen war, wie sie mich ansah. Wie konnte man einen Typen auch schon anders ansehen, in den man seine ganze Hoffnung legte? Dass sich da Hormone bilden mussten, lag fast auf der Hand. Aber ich wollte die Situation nicht ausnutzen. Offenbar hatte die Lady etwas Kleingeld und ich hatte nicht nur endlich mal wieder einen vielversprechenden Auftrag, sondern auch erhöhten Bedarf, dass ein paar Scheinchen mal wieder die Richtung wechselten.

Aber ich musste ihr anbieten, bei mir zu übernachten, denn meinen Vorschlag, ihr ein Zimmer in einem der vielen Hotels in Buffalo zu besorgen, beantwortete sie mit Kopfschütteln. Hoffentlich, dachte ich in jenem Moment, werde ich sie wieder los, wenn der Fall vorbei ist.

Ich hatte eine recht bequeme Couch, auf der mich auch schon viele Male der Schlaf übermannt hatte. Für eine Nacht sollte das gehen, zumal ich den Eindruck hatte, dass, sowie sie sich hinlegte, sie im Reich der Träume landen würde. Im Büro konnte ich nicht bleiben. Die Fenster ließen sich nur noch in der kleinen Küche öffnen und ich schlief nur noch bei offenem Fenster.

Bevor wir losfuhren, nahm ich mein Blackberry aus dem Jackett und loggte mich ins Internet ein. Ich hatte eine Nachricht von BlackDragon, einem Typen, aus dem ich nicht wirklich schlau wurde. Keine Ahnung, warum ich eines Tages eine Freundschaftsanfrage von ihm erhalten hatte. Er schien auch wenig auf Facebook unterwegs zu sein, war niemand, der sein Mittagessen postete, irgendwelche Urlaubsbilder oder youtube-Links zu irgendwelchen Rockklassikern oder zu witzigen oder sozialkritischen Geschichten. Und auch sonst gab er nichts von sich preis. Aber er schien ein verdammter Computerfreak zu sein. Und er hatte einen Hang zum Wesentlichen, was ihn mir sehr sympathisch machte. So bestand seine Gegenfrage zu meinem Taxisuchaufruf aus einem einzigen Wort.

Wofür?

Soviel Zeit musste sein. Ich gab ihm eine kurze Erklärung und erhielt von ihm ein Gesehen. Ich hätte wetten können, ein okay hielt er für überflüssig, da er wusste, dass Facebook die Information selbst rausschickte, wenn die Nachricht gelesen worden war. Warum also eine Bestätigung bestätigen?

Interessanter hätte die Nachricht von Rafael sein können, der in einem Pizza Star-Laden in der Elmwood Ave arbeitete, denn tatsächlich hatte er den gelben Ford Crown gesehen, als er nordwärts an seinem Laden vorbeigefahren war. Er konnte sogar ziemlich genau sagen, zu welcher Uhrzeit das passiert war. Leider waren damit seine Beobachtungen erschöpft und das einzige, was ich mir notierte, war, dass die tatsächliche, zeitliche Abfolge zumindest innerhalb Buffalos der erwarteten entsprach. Eine große Überraschung war das leider nicht.

Der Aufenthalt bei Ellen war kurz. Vince war immer noch auf Schicht und Ellen hatte Besuch von einer Freundin. Sie sahen sich gerade eine dieser modernen Krimiserien an, in denen Fälle gelöst wurden, weil irgend so ein ungeliebter Nerd in einem Labor aus einem pixeligen, verwackelten Foto einen gestochen scharfen Ausschnitt basteln konnte, der ganz klar bewies, dass die Reifenspuren zu einem 89er Sedan gehörten, auf sechs Millimeter heruntergefahren waren und ein Muster hinterließen, das darauf schließen ließ, dass die Reifen zwischen dem 16.04.1994 und dem 17.03.1995 gekauft worden waren, und zwar in einem Laden Ecke irgendwas, weil nur zwei Läden diese Reifenmarke führten und der andere Laden zu dem Zeitpunkt wegen eines Wasserrohrbruchs geschlossen gewesen war. Das hatte ein anderer Nerd mit unfassbar umfassenden Computerkenntnissen herausgefunden. Ich hasste diese Serien, weil sie mir auf unverblümter Weise verdeutlichten, dass ich zu einer aussterbenden Gattung zählte. Die Vieraugen von damals, denen wir früher auf dem Schulhof die Lunchpakete geklaut hatten, beherrschten heute die Szene. Verrückte Welt.

Wie sich herausstellte, waren die Hosen, in die Sara schlüpfte, überraschenderweise alle etwa eine Nummer zu groß – ich musste mich da verschätzt haben. So blieb am Ende doch nur ein schwarzer, wadenlanger Rock übrig, den Ellen eigentlich schon aussortiert hatte, aber noch behielt in der Hoffnung, dass sich irgendwann das regelmäßige Fitnesstraining in Kleidergrößen auszahlen würde. Bei Sara saß er wie angegossen und auch wenn sie immer noch chic aussah, so doch weit weniger auffällig als in dem Abendkleid.

Tatsächlich hatte Ellen dann ein hellblaues T-Shirt in der Auswahl, auf dem die Freiheitsstatue zu sehen war. Darunter stand in fetten Lettern I LOVE NY. Sara lächelte, mehr aus Höflichkeit als über den Scherz, und entschied sich für ein malvenfarbenes, leicht eingelaufenes T-Shirt mit der schwarzen Wolkenkratzer-Silhouette einer fiktiven Metropole, unter der in kaputten Buchstaben SUBURBANISATION stand. Die Suche nach einem geeigneten Schuh erwies sich als weitaus schwieriger, bis Ellen dann doch noch auf ein Paar schlichte, schwarze Ballerina stieß, die Val gehörten. Mit einem schönen Gruß an Vince verabschiedeten wir uns und ich steuerte meinen GTX wieder südwärts.

Als wir dann in meinem kleinen, aber eigenen Haus ankamen, spürte ich einen fragenden, etwas mitleidigen Blick von der Seite. Oh, ich war sicher, die Lady war besseres gewohnt, wobei New York ja auch nicht gerade bekannt war für Schnäppchen-Villen. Trotzdem musste allein ihr Kleid teurer gewesen sein als meine gesamte Wohnzimmereinrichtung. Ich bot ihr noch einen Tee an, den sie aber dankend ablehnte. Sie wollte nur noch schlafen.

Es wurde dann wieder eine dieser Nächte. Bestimmt drei oder vier Mal wurde ich wach, hatte mich etwas geweckt, das nicht da war. Und jedes Mal konnte ich erst wieder die Augen schließen, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass alles ruhig und in Ordnung war. Und jedes Mal zog ich auch mein Blackberry und sah nach, ob jemand etwas gesendet hatte, das mir weiterhelfen konnte. Es war seit einiger Zeit immer so. Es diente mehr der Beruhigung als der Befriedigung meiner Neugier. Gegen drei Uhr morgens war ich dann allerdings hellwach. Der schwedische Drache. Der Tattoo-Freak sandte mir einen Link. Ein Typ mit einem Profilbild eines 65er GTOs hatte ein Foto gepostet. Ein Foto eines gelben Ford Crown Victoria auf dem Niagara Thru-way von heute Nachmittag, 17 Uhr. Die Nummer auf dem Ford war klar erkennbar und endete mit 39. Aber die Nummer war gar nicht mehr wichtig, denn der Teufelskerl hatte sich in die Behörde der Stadtverwaltung von New York City reingehackt und wir hatten einen Namen: Der Ford war zugelassen auf Ricardo Pelayo Torres. Jetzt hatte die Bulldogge den ersten Fetzen fest zwischen den Zähnen und würde nicht mehr loslassen.

Ich war am Abend zuvor schon neugierig gewesen, mehr von Sara Maria Anderson zu erfahren, aber sie war ja fast schon auf der Fahrt zu mir eingeschlafen und wir würden ja am nächsten Tag Zeit haben auf dem Weg nach New York.

Sara behauptete, tief und fest geschlafen, aber wirres Zeug geträumt zu haben. Leider hatte sie keinerlei Erinnerungen mehr daran, aber das war ja auch nichts Neues ...