Über das Buch

Auf einer langen Autofahrt berichtet Schaul vom Drama seines Lebens: Seit vielen Jahren ist er mehr oder weniger glücklich verheiratet, doch Elisheva hat einen Geliebten. Schaul brennt vor Eifersucht. Er führt sich die Begegnungen der beiden bis in die intimsten Details vor Augen. Das geheime Liebesleben seiner Frau erregt ihn unerhört. Sein reales Leben verblasst darüber mehr und mehr. Ist er noch Herr seiner Vorstellungen oder beherrschen sie ihn?

Rotem ist Schriftstellerin und liest ihrer Mutter am Sterbebett eine Geschichte vor, in der sie an ein lange zurückliegendes Geheimnis im Leben der Mutter rührt: das intensive Verhältnis zu einem 15-Jährigen. Die Mutter war Yoga-Lehrerin und der Junge ihr Schüler. Alles, was die Tochter sich von der Mutter ersehnte, hat diese dem fremden Jungen gewährt. Ein tragisches Tochterschicksal – oder das Trugbild einer obsessiven Phantasie?

David Grossman

Das Gedächtnis der Haut

Zwei Novellen

Aus dem Hebräischen von
Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel baguf ani mevinabei ha-kibbutz ha-meuchad in Tel Aviv.

ISBN 978-3-446-25518-0

© David Grossman 2002

Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München Wien 2004/2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Foto: © Stacy Apikos-Boge/photonica

Satz: Gaby Michel, Hamburg

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Raserei

Wie hält sie das nur aus, denkt er, immer wieder diese Rituale, die sie akribisch befolgen muß, das nervöse Gerenne durch die Wohnung, bevor sie geht, Schranktüren, die zugeknallt werden, aufgerissene und zugeschobene Schubladen, etwas Enges und Verschlossenes ergreift in solchen Momenten von ihrem hübschen Gesicht Besitz, nur nichts übersehen, ein vergessener Kamm, ein Buch oder das Shampoo, und schon bricht das Ganze in sich zusammen. Er setzt sich an seinen leeren Schreibtisch und stützt den Kopf in die Hände, während sie ihm an der Tür ein hektisches »Schalom« hinwirft, und sein Herz wird schwer, sie kam nicht mal zu ihm, um sich zu verabschieden, heute steht dort etwas Besonderes an, und schon hastet sie auf die Straße, die Augen gesenkt, um keinem Blick zu begegnen und in kein überflüssiges Gespräch verwickelt zu werden. Wie kann sie nur so weitermachen, woher nimmt sie die Kraft, das Tag für Tag aufs neue durchzustehen.

Als habe er sich bei einer Unachtsamkeit ertappt, schließt er jetzt die Augen und eilt ihr hinterher, während sie in ihr Auto, einen kleinen, sehr grünen Polo, steigt. Er hatte sie mit dem Wagen überrascht. Sie hatte entsetzt reagiert, wegen der Farbe, und sauer wegen der Geldverschwendung. Doch sie sollte ihren eigenen Wagen haben, damit du unabhängig bist, damit wir nicht dauernd wegen des Wagens streiten müssen. Und er sollte so grün sein. Er hatte sich den Wagen wie eine dieser Leuchtdioden vorgestellt, die man in die Blutbahnen schleust und mit der Kamera verfolgt. Langsam lehnt er den Kopf zurück, während sie fährt. Ihr Gesicht ist angespannt und zu dicht an der Windschutzscheibe. Sie braucht acht bis neun Minuten. Unvorhersehbare Verzögerungen kommen hinzu (ein Stau, eine defekte Ampelanlage, der Mann, der sie dort erwartet, kann den Schlüssel nicht finden und öffnet ihr nicht gleich), und schon sind vier bis fünf weitere kostbare Minuten vergeudet. Elischeva, sagt er laut, langsam, artikuliert jede Silbe

Und noch einmal, für den anderen,

der Zeit schinden will, schade um jede Minute, und während sie den Wagen durch das Geflecht der kleinen Straßen lenkt, die die Wohnung hier mit der Wohnung dort verbinden, zieht er sich schon mal aus, schlüpft im Schlafzimmer oder an der Wohnungstür aus der braunen, lässigen Cordhose, streift das weite, verwaschene Hemd ab, das einmal orange oder braun gewesen war, oder sogar rosa, er ist durchaus imstande, ein rosafarbenes Hemd zu tragen, was kümmert es ihn, was andere von ihm halten, das ist das Gute an ihm, denkt Schaul, daß es ihn nicht juckt, was andere meinen und was andere sagen, das ist seine Stärke, das ist sein gesundes inneres Gleichgewicht, zu dem sie sich anscheinend so hingezogen fühlt.

Sie fährt zu ihm, fährt, rast nahezu zu ihm, ihre Augen kleben an der Fahrbahn, ihr Mund ist verkrampft, schon bald wird er geküßt werden, wird weich werden, wird schwellen und brennen, Lippen werden über diese Lippen gleiten, werden sie anfangs nur streifen, werden berühren und doch nicht berühren, dann wird eine Zunge ausgestreckt werden und die Konturen nachzeichnen, welche sich ein Lächeln verkneifen, denn gleich wird er knurren, halt still, wenn ich male, und sie wird ergeben gurren, und bald werden seine Lippen auf ihren ruhen, werden mit der ganzen Fülle ihrer rauhen, männlichen Entschlossenheit auf ihnen liegen, werden sie verschlingen, sich in ihnen suhlen, werden kurz von diesen Lippen ablassen, über die warmer Atem huschen wird, und dann werden seine Lippen langsam an ihren Lippen lutschen, mit dem Ernst wahrhaft großer Leidenschaft, Zungen werden sich ineinander winden wie Kreaturen mit Eigenleben, und ihre Augen werden sich zu einem schwachen Seufzen kurz öffnen, ihre Augäpfel werden sich verdrehen, werden verbleichen, verschwinden. Durch geschlitzte Lider wird nur leeres, schauriges Weiß zu sehen sein.

Elischeva ist eine große Frau, großzügig auch ihr Körper. Sie ist sogar ein wenig zu groß für diese Art von Kleinwagen, vielleicht war sie auch deshalb sauer, daß er ihr ausgerechnet einen Polo gekauft hat, und vielleicht hat er sich gerade aus diesem Grund für diesen Wagen entschieden, wer weiß, erst jetzt kommt es ihm, wegen des Gefühls, daß sie auf ihrem Weg dorthin aus ihrer Schale zu bersten scheint, daß sie regelrecht dorthin platzt, während sie sich angestrengt auf die Straße konzentriert und sich die Fahrt mit der Ahnung süßt, daß der dort auf sie wartende Mann die gleichen Gedanken hegt wie sie, so gewinnen wir noch ein paar gemeinsame Minuten, hat sie ihm einmal gesagt.

Sie rast, sie trabt, der grüne Wagen blinkt auf in dem Adernetz, das sich von hier bis zu ihm erstreckt, und bis Schaul sich aus der Schmerzwelle befreit hat, ist sie schon dort, bei ihm, Schaul sieht ihn schemenhaft vor sich, ein großer, breiter Hitzefleck, starke Arme, und ihre Geschicklichkeit, wenn sie sich mit einer Hand an seiner Schulter festhält und sich zur Seite neigt, um sich, ohne die Schnalle zu öffnen, den Stoffschuh vom Fuß zu streifen, sie krallt sich mit vor Sehnsucht steifen Fingern an den nackten Körper, während seine Klamotten schon zu seinen Füßen verstreut liegen, und ihre Kleider fallen auf die seinen, und Schaul schließt die Augen und nimmt den Schlag entgegen, den der Kontakt der Gewebe ihm versetzt, und es tut so weh, daß er seinen Blick von den Kleidern auf den Mann lenken muß, denn einen Augenblick lang ist selbst der Mann an sich weniger quälend als diese Kleidungsstücke, die übereinander sinken, der Mann, der sich schon mal ausgezogen hat, um noch ein paar kostbare Sekunden rauszuschlagen, und der verspannt auf sie gewartet hat, und nackt und hitzig vor Erregung durch die Wohnung stolziert ist, befeuert von Gedanken an die große, schöne, entschlossene Frau, die zu ihm vorstößt mit ihrem grünen Wagen, der so scharf ist – der dunkelhäutige junge Autohändler hatte bei dieser Formulierung gegrinst, und darum war Schaul keine andere Wahl geblieben, er hatte ihn kaufen müssen – splitternackt ist dieser Mann durch die kleine Wohnung gerannt, obwohl er charakterlich und in seiner Gesamterscheinung ein eher lahmer Typ ist, und Schaul sieht ihn buchstäblich vor sich, Bewegung um Bewegung, eine nach der anderen, seine Gangart, seine etwas schwerfällige, akzentuierte Sprache, doch nun gerät er mächtig in Wallung, denn ihre Schritte jagen bereits über die Stufen, da ist sie, sie kommt, und er öffnet die Tür und nimmt die Position ein, in der er vor ihr auftauchen will, denn seine Nacktheit, wie soll man sagen, ist gewiß nicht dazu geeignet, Elischeva in allzu große Verzückung zu versetzen, schon gar nicht im Stehen, schon gar nicht bei Tageslicht, und die vielen Muttermale, die seine Wampe und seine Brust übersäen, und diese großen, herrischen, männlichen Brüste mit dem dort üppig sprießenden grauen Haar, nicht gerade schmeichelhaft, doch es stellt sich heraus, daß er die Tür heute nur einen Spalt breit öffnet, während ihre Schritte durch das Treppenhaus fliegen, und er flitzt zu dem Bett in dem sorgfältig abgedunkelten Raum, wo er sich in eine vorteilhaftere Pose begibt, bäuchlings, ein Knie ein wenig angewinkelt, als ob ihn, just nachdem er ihr die Tür geöffnet hat, ein kleines, vergnügliches Nickerchen übermannt hätte und er nun friedlich schlummere, wie einer von der Gesundheit eines Ochsen, den weder die Verdauung noch das Gewissen plagt, so daß ihr Blick beim Betreten des Zimmers auf seinen Rücken fallen muß, der kräftig wirkt – und der dem Anschein nach auch kräftig ist – und dann auf seinen Hintern und auf seine Beine, die in dieser Stellung nahezu jugendlich wirken, und sie bleibt einen Augenblick stehen, betrachtet ihn, lächelt leise, und dann tritt sie an das Bett, und mit berechnender Zärtlichkeit läßt sie einen Finger über seinen Rücken streifen, vom Nacken bis zum Gesäß, und sie beugt sich über ihn und läßt ihre Zunge wie in Zeitlupe quer über sein Genick gleiten, nur die Spitze, nur ein minimaler Hinweis auf die Feuchtigkeit ihres Mundes, und er erschaudert und grunzt erstickt in die Kissen, als würde er enthauptet –

Später, zwei, vielleicht drei Tage später – wenn Elischeva mehrere Tage weg ist, wird die Zeit zu einer runden Gefängniszelle – kauerte Schaul auf dem Rücksitz eines großen Volvos. Scheibenwischer wischten und schmierten eine kalte, neblige Oktobernacht über die Windschutzscheibe. Neben ihm, auf dem Wagenboden, lagen Krücken. Sein linkes Bein, zwischen Knöchel und Knie gebrochen, ruhte auf einem verschlissenen Kissen, und er glotzte auf den weißen, sich hin und her wiegenden Gips wie auf einen Fremdkörper. Esti, die Frau seines Bruders Micha, lenkte den Wagen, sie waren schon beinahe eine halbe Stunde unterwegs, ohne daß es ihnen gelungen wäre, ein echtes Gespräch aufkeimen zu lassen, und jeder ihrer Sätze hatte im Trüben gerührt. Sie war fünf, sechs Jahre jünger als er, er wußte es nicht mehr genau, doch in ihrer Gegenwart fühlte er sich stets noch welker und ausgemergelter; seine langen, hageren Gliedmaßen, sein kantiges Gesicht, selbst sein vorstehender Adamsapfel, alles schien ihm übertrieben neben ihrem fülligen Körper und dem dunklen, flächigen Gesicht, und wenn sie ihn im Rückspiegel ansah, kam er sich wie der alte Zollstock seines Vaters vor, wie ein gelber, gekerbter, in schmalen Gelenken gefalteter Meter. Als sie ihm auf den Rücksitz half, hatte es einen Augenblick gegeben, in dem nahezu sein gesamtes Körpergewicht auf ihren Schultern lastete, und sie hatte keine Miene verzogen, und falls er ihr schwer war, hatte sie sicher angenommen, es sei der Gips, er wußte, daß sie ihm keinerlei Gewicht beimaß und daß ihr Körper instinktiv den Vergleich zwischen ihm und seinem Bruder anstellte, und erschüttert von seinem Stöhnen musterte sie ihn im Rückspiegel. So etwas hatte sie aus seinem Mund noch nicht gehört.

Eigentlich hatte sein Bruder ihn fahren sollen, doch den hatte man im letzten Augenblick zu einem Tanker gerufen, der mit einer Ladung Aceton auf der Schnellstraße gekippt war, und so war Esti plötzlich vor seiner Tür aufgetaucht, mit hängenden Armen, als bitte sie um Nachsicht, daß sie nicht Micha war, und mit dem dumpfen Gefühl, sie und Schaul starrten einander an, als führe ihnen ein Hohlspiegel die eigene Körperalternative vor. Und sie hatte tief Luft geholt und automatisch den Kopf eingezogen, um dem kommenden Gewitter standzuhalten, im ersten Moment hatte es ausgesehen, als erkenne er sie gar nicht, und dann war er zusammengefahren, nein, nein, was soll denn das, ich lehne dankend ab, ich brauche Micha, keinen anderen als Micha, aber gleichzeitig hatte er auch einen Schritt auf sie zu gemacht, als habe es ihn zum Aufbruch gedrängt, und wieder hatte er nach der Türklinke gegriffen und den Kopf sinken lassen und sich zu sammeln versucht.

Wo ist denn Elischeva, war sie herausgeplatzt, als habe sie fragen wollen, wo ist denn deine Mama, denn ohne sie kam er ihr stets verratzt vor, und jetzt, mit dem lädierten Gesicht und dem Gipsbein um so mehr; und er war eine Antwort schuldig geblieben und hatte sie nur angestarrt, die Gesichtszüge des Findelkindes, die plötzlich zum Vorschein kamen, so war sie vor Jahren zu seiner Familie gestoßen, hatte mit dem gleichen erschrockenen Ausdruck einer Wilden neben Micha gestanden. »Aus der Gosse«, hatte seine Mutter damals entschieden, und Esti, die Schaul ansah, woran er dachte, hatte die Beine in den Boden gestemmt und in ihrem Innern fieberhaft nach einem alten, wertvollen Mineral gesucht, nach der Saugfähigkeit des ungeliebten, aber standhaften Mädchens, das, wenn nötig, die Augen schließen und sich in ein Bündel Mensch verwandeln, und sich dort, wo man es nicht haben wollte, breitmachen konnte und durchhalten und den Puls auf Null herunterfahren konnte, bis man sich an seine Anwesenheit und seinen bescheidenen Nutzen gewöhnte und es irgendwann für unentbehrlich erachtete –

Und sie hatte sich unter Besinnung auf ihr Alter, ihre Kinder, Micha und ihren Körperumfang zusammengerissen, die Arme unter der Brust verschränkt und gemeint, es wäre vielleicht das Beste, wenn er so kurz nach solch einem schweren Unfall zu Hause bliebe, und sie hatte vorsichtig wissen wollen, wie es passiert sei, und er war erneut zurückgewichen, hatte den Rückzug angetreten, wäre mit den ungewohnten Krücken um ein Haar gestrauchelt und schien ihr gar nicht zugehört zu haben. Seine Augen waren gerötet, vom Weinen oder vor Schlafmangel und von etwas, das in ihnen glühte und ihr verschlossen war, und er hatte heiser geraunt, er müsse los, und es komme nicht in Frage, daß sie ihn chauffiere. Und sie hatte über seine offene Ablehnung hinweggesehen und gefragt, wohin er denn wolle, und er hatte geantwortet, Richtung Süden, und plötzlich hatte er mit einer lächerlichen, vogelartigen Geste eine Krücke in die Lüfte erhoben und gemeint, na schön, laß uns aufbrechen, und hatte versucht, ein gutgelauntes Grinsen zu lügen und gerufen, es sei meschugge, aber er müsse noch heute nacht dorthin; force majeure, hatte er mit einer Aussprache betont, die ihr unter den gegebenen Umständen wie das Rascheln des seidenen Hausmantels eines verarmten Adligen vorgekommen war, und er hatte ihr überflüssigerweise erklärt, daß er es in seinem Zustand nicht ohne fremde Hilfe schaffen würde, und darum habe er Micha um Unterstützung gebeten. Und sie hatte erneut versucht herauszufinden, wohin genau sie ihn denn so überstürzt und dazu mitten in der Nacht bringen sollte, und er hatte geschwiegen, und sie hatte innerlich gekocht vor Zorn, auf ihn und noch mehr auf Micha, der sie abkommandiert hatte, um seinem Bruder zu genügen, der nie im Leben etwas Vergleichbares für ihn und schon gar nicht für sie getan hätte, und Schaul hatte das einen Moment lang begriffen, als ob es ihrer wortlosen Wut gelungen wäre, durch das Chaos in ihm zu sickern, und er hatte sie mit einem Blick angesehen, der so wehmütig gewesen war, daß es sie beinahe zerrissen hätte, und er hatte gesagt, ich weiß, daß es eine Zumutung ist, aber ich habe keine Wahl, und sie hatte verstört und ein wenig erschrocken über das Gesehene genickt, und er hatte versichert, unterwegs, unterwegs werde ich dir alles erklären.

Sie haben dort hin und wieder ruhige, durchaus friedliche Tage, ruft Schaul sich in Erinnerung, während er fiebernd in dem alten Volvo hängt und krampfhaft versucht, die Anwesenheit der schweigsamen Fahrerin und die unsichtbaren, unter dem Gips an seinem Bein auf und ab kriechenden Ameisenkarawanen zu ignorieren; ein Tag wie vorgestern beispielsweise – oder vielleicht ist es auch schon vier Tage her? –, als Elischeva durch die für sie einen Spalt offenstehende Tür die Wohnung betritt, mit einer Seitwärtsbewegung und dem koketten Heben einer Schulter hineinschlüpft, wer hätte gedacht, daß sie noch so neckisch sein kann, und erleichtert lächelt, weil sie wieder hier ist, an dem Ort, an dem sie frei ist von jedem Verstellen und jeder Täuschung, von der endlosen Mühsal ihres Parallellebens; und sie bleibt einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen, und fragt sich, wie lange sie die vier Treppen wohl noch in diesem Tempo steigen kann, vielleicht wird der Tag kommen, an dem sie sich wieder nach einer neuen Bleibe umsehen müssen, schon sechs oder sieben Mal mußten sie die Wohnung wechseln, mit Immobilien haben sie keine glückliche Hand, man kann wohl nicht in allen Bereichen Glück haben; und sie stellt ihre blaue Tasche ab, ihre Badetasche, und zieht die Wohnungstür leise hinter sich zu, und ein neues Lächeln, ein innerliches, durchhuscht sie, denn sie weiß, daß er sogar dieses leise Klicken hört, ihr Liebhaber, und die Augen zukneift, weil er es nicht länger aushält, und daß sein Körper sich schon wie eine Kompaßnadel nach ihr nordet, doch heute hat sie andere Pläne, die er noch nicht errät.

Langsam schreitet sie durch den Flur, denkt darüber nach, wie sie ihn dazu bewegen kann, heute zu verzichten, und sie ahnt nicht, daß gerade dieser langsame Gang ihm gewollt katzenhaft vorkommt und dazu führt, daß seine Geilheitssehnen sich schmerzhaft verspannen, und schon hat sie die Zimmertür erreicht, bleibt stehen und lehnt sich gegen den Rahmen und sieht ihn mit sanften Augen an, hier bin ich, sagt sie leise, und er, als überrasche ihn ihre Anwesenheit, zieht den Bauch ein und dreht sich langsam um, da bist du ja, und es gelingt ihm nicht, seine Freude zu verbergen, sein Gesicht geht regelrecht auf und strahlt, und sie hat sich noch immer nicht bewegt, inhaliert seinen Anblick, saugt ihn auf und verteilt ihn sorgfältig auf jede ihrer Körperzellen, eine Wegzehrung, die lange vorhalten muß, einen ganzen entbehrungsreichen Tag lang, und sie wickelt ihn mit ihrem Blick von Fuß bis Kopf ein, von seinen großen Füßen, seinen in patriarchalischer Selbstgefälligkeit gespreizten großen Zehen bis zu seinem vergnügten Gesicht, und wiederholt leise lächelnd, hier bin ich, und der Mann merkt gar nicht, daß hier eine Platitüde geäußert wurde, im Gegenteil, er weitet den Brustkorb, um alles aufzunehmen, was in diesen drei Worten enthalten ist, hier bin ich, hier bin ich ganz bei dir, hier bin ich ich, ich bin hier, schäle mich, und sein Gesicht sagt ja, und sein Körper sagt ja, und sein Herz und seine Augen und sein Atem, alles sagt ja, und zum tausendsten Mal denkt er, selbst in die Belanglosigkeiten, die sie, wie so oft, von sich gibt, schleicht sich das Echo des Rätselhaften, das genau ist der Punkt, denkt Schaul, alles, was sie dort von sich gibt, besteht irgendwie aus diesen beiden Elementen, Belanglosigkeit und Rätselhaftigkeit, und in den Winkeln ihres müden Lächelns keimt jetzt frisches Rosa, und auch der Mann schmunzelt, sein ganzes Gesicht verwandelt sich, wenn er sie anlächelt, und automatisch kopiert Schaul seine Mimik, und Esti, von dem kontinuierlichen Schweigen verunsichert, dreht sich kurz um, sieht ihn und wendet sich ruckartig ab, als habe sie versehentlich einen fremden Brief geöffnet, und sie heftet den Blick, so schnell sie kann, auf die Fahrbahn, ihre Augen sind groß und dunkel, und sie denkt, so hat er früher Elischeva angesehen, vor Jahren, und beinahe zwangsläufig verstellt sie den Rückspiegel ein wenig und fängt sein Gesicht mit den geschlossenen Augen ein, das Gesicht, auf dem noch immer jener Ausdruck liegt, der in seiner Fremdheit hypnotische Wirkung auf Esti ausübt, eine Mischung aus Seligkeit und Einsamkeit und Flehen.

Schaul hatte sich so beeilt, daß er die Tür abzusperren vergaß, was ihm erst einfiel, als sie gerade in den Wagen steigen wollten, und Esti hatte angeboten, warte hier, ich gehe, aber bevor sie die Tür verriegelte, war sie noch mal ins Haus gegangen, wo sie sich fahrig umsah, als suche sie etwas. Schon drei, vier Jahre war sie nicht mehr hier gewesen, und sie konnte sich kaum noch erinnern, wann die ganze Familie das letzte Mal eingeladen worden war, womöglich hätte Elischeva gerne eine Einladung ausgesprochen und war auf Schauls Widerstand gestoßen, und es fiel ihr auf, wie sehr die Wohnung sich verändert hatte – es kam ihr vor, als wären die Abstände zwischen den Gegenständen gewachsen und als wären die Möbel nun mit eiserner Präzision arrangiert – der Gedanke lähmte sie, und sie bewegte sich zaghaft vorwärts, drehte sich ab und zu um, und das merkwürdige Gefühl beschlich sie, kurz zuvor habe jemand eine Peitsche geschwungen und jedes Möbelstück sei an seinen Platz gehechtet und erstarrt. Das ist er, hatte sie gedacht, das ist sicherlich nicht sie, denn Elischeva hatte schon immer etwas liebenswürdig Schlampiges an sich, und wo sie hinging, hinterließ sie eine Schleppe vergessener Dinge, einen Schlüssel, einen Geldbeutel, einen Kamm, einen Schal, und jedem Raum, den sie betrat, drückte sie einen weichen Stempel der Zerstreutheit auf; wo bist du, hatte Esti gedacht, du bist so weit weg –

Sie hatte abgeschlossen und war unerklärlich bedrückt durch den Garten geschlichen, der ihr in der Dunkelheit merkwürdig vernachlässigt und verwildert vorgekommen war, und ihr Blick war auf Schaul gefallen, der Selbstgespräche führend und auf eine Krücke gestützt nervös hin und her hampelnd neben dem Wagen auf sie gewartet und ihre kleine Invasion nicht mal geargwöhnt hatte. Das Licht der Straßenlaterne hatte ihn mit einer Haut aus Wachs überzogen, und sein ganzes Wesen war auf etwas ihr Verborgenes konzentriert gewesen, und Esti hatte noch einmal gedacht, er müßte sich in seinem Zustand eigentlich schonen, und konnte sich nicht erklären, was ihn so zum Aufbruch trieb, und auch er wußte natürlich, daß er im Grunde nicht fahren sollte, und schon gar nicht mit ihr, was hatte er mit ihr zu schaffen, und wie sollte er es ihr erklären, welche Ausrede sollte er erfinden, schon seit Jahren hatten sich ihre Gespräche auf höfliche Ausweichmanöver bei Familienfeiern beschränkt, sie hatte etwas, das ihn ein wenig aus der Fassung brachte, er wußte nicht, was es war, vielleicht weil sie sich so beharrlich weigerte, seine Position, seinen Ruf und sein berufliches Ansehen entsprechend zu würdigen, und von ihm ganz andere Beweise zu erwarten schien, die gar nicht in seiner Reichweite lagen –

Schaul, hatte sie mit weicher Stimme gesagt, in einem Tonfall, der zwischen ihnen nie existiert hatte, als biete sie ihm eine sofortige uneingeschränkte Feuerpause an, doch er hatte verärgert den Kopf geschüttelt, los jetzt, hilf mir in den Wagen.

Und Elischeva steht noch immer an der Stelle, an der er kurz von ihr abgelassen hat, und ihr Blick umfängt das Gesicht des Mannes auf dem Bett, und nachdenklich kaut sie ein wenig an ihrer Unterlippe. Damals, als Schaul sie kennengelernt hatte, hatte sie diese kleine Angewohnheit gehabt, später hatte sie das Lippenkauen ihm gegenüber aufgegeben; ohne sich vom Fleck zu rühren, haucht sie, ich liebe dein Gesicht so sehr, und er zieht eine Grimasse: Meine Froschfratze? Und sie nähert sich langsam dem Bett, mit ihrem wunderbaren Gang, mit ihren verheißungsvollen Schenkeln, setzt sich auf die Bettkante und streckt ihre Hand aus und gleitet von Schulter bis Daumen über seinen erschaudernden Arm, ja, dein Gesicht, sagt sie mit jäher Melancholie, und ihr Körper läßt sich fallen und fließt an seine Seite, berührt den seinen noch immer nicht, und er grollt, daß sie für seinen Geschmack zu viel anhat, und sie schließt die Augen und sagt, heute nicht, heute liegen wir nur nebeneinander und liebkosen uns, und er ist enttäuscht, denn er hat ja schon Phantasien entwickelt und heißes Blut gepumpt und sich ausgezogen und sich vorteilhaft drapiert, aber wie immer gehorcht er ihr, jeden ihrer Wünsche macht er sich auf der Stelle zu eigen, sogar jetzt, trotz seiner Geilheit folgt er ihr aufs Wort und registriert verdutzt die magische Kraft, die sie auf ihn ausübt, und aus irgendeinem Grund ist es ihm sehr angenehm, sich neben ihr schwach und willenlos zu fühlen, selbst diese Schwäche bereitet ihm Lust, wenn er bei ihr ist, und er schließt die Augen und spürt, wie das dünne Rinnsal seines versickernden Willens und das Strömen ihrer Wünsche in ihn hinein eine neue unbekannte Kurve in seine Seele gräbt, und er dreht sich träge um, denn wenn hier nur gestreichelt wird, kann man auch eine bequemere Lage einnehmen, und er enthüllt sein Bärenfell, und sie kehrt ihm den Rücken zu, schmiegt sich an ihn und preßt sich gegen seinen Bauch und rundet ihren Körper zu einem Fragezeichen vor dem Ausrufezeichen seines Fleisches, das sich aufrichtet und vortastet, um durch ihr Kleid zu ihren Hinterbacken vorzudringen, und sie nimmt seine große warme Hand und läßt sie mit einer langsamen, verträumten Geste über ihr Gesicht gleiten, immer wieder, drückt ihr Gesicht in seine Handfläche, bettet es hinein, leert ihr Gesicht in seine Hand, und jetzt merkt er endlich, was Schaul schon längst erkannt hat, lange vor ihm, daß sie ihm hier etwas gibt, was sie beide noch nicht hatten, daß sie aus den bekannten Körperzeichen eine neue Kombination komponiert, und auf einmal füllt sich seine Seele mit Dankbarkeit und Freude und natürlich auch sein Körper, und nur Elischeva selbst scheint nicht froh zu sein, ihr Gesicht ist verkrampft und voller Schmerz, und sie stempelt seiner Hand mit verzweifelter Hingabe ihre Züge auf, zum Andenken gewissermaßen, als wäre ihr Gesicht ein Abschiedsbrief, der nur für seine Hand bestimmt ist, so wie sie mitunter eine lange verschnörkelte Zeile auf seinen Rücken schreibt, mit ihrer nassen Zunge oder mit ihrem zwischen den Beinen befeuchteten Finger, und sich weigert, ihm zu sagen, was sie geschrieben hat, lies mit der Haut. Und nun greift sie mit beiden Händen nach seinen Fingern und führt sie fickrig über ihre runde Stirn, und dann über die beinahe durchsichtigen Augenbrauen, und über ein hauchdünnes Lid, das lange, wohlgeformte Gesicht hinab, hastig bis zum Mund, dem breiten Mund, und in ihn hinein, und sie beißt kräftig zu, und er beherrscht sich und gibt keinen Ton von sich, er ist enorm leidensfähig, und er weiß sehr wohl, daß sie ihn testet, daß sie sehen will, ob er sie aushält, und sie legt zwei seiner Finger auf den Unterkiefer und drückt sie gegen jede ihrer Plomben, drückt und beißt und zittert in einem Anflug von Gefühlen, die er nicht versteht, und er denkt, sie zerlegt ihr Gesicht, sie gibt es mir bruchstückhaft, und eine abstruse Angst beginnt in ihm zu nagen, eine dieser dumpfen Ängste, die sie hin und wieder in ihm auslöst und die ihre Bodensätze auf den Innenwänden seines Körpers hinterlassen, und Schaul denkt, vielleicht versteht auch dieser Typ sie nicht bis ins Letzte, doch der versteht es in solchen Momenten, seine Hand zu öffnen und ihr aufgelöstes Gesicht damit zu umfassen und mit Geduld und Verstand ihre hektischen Bewegungen zu bändigen, bis sie ruhig wird und ihren warmen Atem in seine Hand haucht, und dann beginnt er langsam, langsam ihr das Gesicht wiederzugeben, bringt jeden Gesichtszug zurück an seinen Platz, gibt dem Gesicht seine Konturen wieder, glättet es und spürt, wie ihr steifer Körper sich abreagiert und entspannt, sie bewegt ihn, was ist bloß mit ihr los, was hatte sie ihm sagen wollen, was er nicht verstand, wie sie ihn immer wieder verblüfft und anrührt, als ob ein nervöser Flügel ununterbrochen in ihr schlüge, und auch nach den vielen gemeinsamen Jahren versteht er noch immer nicht, wie solch ein winziger Flügel es schafft, ihn samt und sonders in Rotation zu versetzen, seine kompletten neunzig Kilo zu erschüttern und durchzurühren, und seinen Zynismus zum Schmelzen zu bringen, denkt Schaul, und schluckt und öffnet die Augen, die er so stark zusammengekniffen hatte, als habe er diese Bilder mit Gewalt Tropfen für Tropfen aus ihnen herausgepreßt; jetzt ist er total erledigt.

Einen Moment noch, noch nicht, loslassen ist schwierig: Nun dreht sie sich um, Elischeva, und wendet sich dem Mann zu, kuschelt sich an seine Brust, und erschöpft von der Sache, die sie umgetrieben hat, fallen ihr die Augen zu, sie wird jeden Moment einschlafen, aber der Mann läßt sie nicht und baut sich auf seinem Ellbogen über ihr auf und will wissen, was war denn das gerade, was hat dich so verstört, und sie, ich weiß nicht, ich empfand auf einmal solch eine Panik. Und er mit einem leichten Vorwurf, wovor denn, und sie, matt, keine Ahnung. Und er, fast beleidigt, warum hast du nichts gesagt, warum verkriechst du dich immer und sagst nicht einfach, wie man dir helfen kann. Und sie flüstert lächelnd, daß er genau wisse, wie er ihr helfen könne, keiner auf der Welt wisse es so gut wie er, und daß sie es einfach nicht erklären könne. Weißt du, meint sie später, es ist wie bei der Liebe, gibt es da nicht auch einen Zustand der Sättigung? In dem man stumm ist? So ist es mir gerade gegangen, vor lauter Traurigkeit, ich weiß nicht, etwas hat mich auf einmal beunruhigt, hat mich erdrückt, keine Ahnung, was es war. Und der Mann schüttelt verwundert den Kopf, glaubt ihr, daß sie es nicht weiß und daß man von ihr momentan keine präzisere Erklärung erwarten kann, und selbst das läßt ihn sie noch mehr lieben, ihr Gestammel, wenn es darauf ankommt, und wieder bettet sie ihren Kopf an seine Brust, jetzt beschwingt, sie hat gelitten und sich entleert, und schon gurrt sie wonnevoll, denkt Schaul, und als lerne er es auswendig, sagt er sich in seinem Innern sorgsam auf, es ist eine mir unbekannte Wonne, eine Wonne, die nur er ihr bereiten kann, es gibt einen Stoff, der nur in der Gegenwart eines bestimmten Menschen und niemals in der Anwesenheit eines anderen produziert und ins Herz geleitet wird, denkt er, und Elischevas Augen sind noch immer geschlossen, und sie atmet flach, du hast nicht vergessen, daß ich morgen verreise, murmelt sie in seine Brust, hin und weg vor lauter Genuß.

Hm, bestätigt er.

Schweigen.

Vier Tage? hakt er nach, das ist lang.

Alleinsein, phantasiert sie, vier Tage nur ich.

Soll ich nicht doch mitkommen?

Sie schlägt die Augen auf. Er spürt den Schlag ihrer Wimpern in seinem Brusthaar, und auch ohne hinzusehen, kennt er ihren Blick.

Und er seufzt, und beide ducken sich innerlich, teilen für einen Moment die Last des Dilemmas ihres Lebens. Die Duplizität, die Elischeva spaltet. Den ununterbrochenen Lärm in ihrem Kopf. Den Bienenkorb von Lügen und Geheimnissen. Manchmal versteht sie nicht, daß sie überhaupt noch etwas empfinden kann, für den einen oder den anderen.

Er lächelt: Vielleicht lernst du dort jemanden kennen, wer weiß.

Sie rempelt seine Schulter mit der Nase an. Jetzt auch noch du?

Der Mann runzelt die Stirn: Ist er schon am Durchdrehen?

Er ist ganz neben der Spur, sagt sie, jedes Jahr denke ich, diesmal nicht, diesmal nimmt er es gelassen, er hat sich daran gewöhnt, letztendlich sind es nur vier Tage, was …

Er zieht sie an sich, repariert, repariert mit seiner großen Handfläche, was Schaul kaputtmacht. Keucht.

Sie kämpft mit sich, um ihm nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Versucht Schauls Ehre zu retten. In ihr glüht der innere Stacheldraht, den sie permanent spannt, die Grenze zwischen ihren beiden Männern. Der Mann hört mit geschlossenen Augen zu. Ab und zu schüttelt er unglücklich den Kopf.

Heute morgen, beim Packen, stößt sie schließlich aus, kam er – sie zaudert noch einen Moment, und dann bringt sie ihre Lippen an sein großes Ohr und flüstert etwas, und Schaul versteht sie nicht und weiß genau, was heute morgen passiert ist und was er ihr in den aufgeklappten Koffer geworfen hat, aber seine Seele steht zitternd auf den Zehenspitzen und will partout hören, was man dort über ihn wispert, wie und mit welchen Worten er dort, zwischen ihrem Mund und seiner Ohrmuschel, beschrieben wird.

Schweigen. Die ruhigen Augen des Mannes verfinstern sich brutal. Elischeva legt ihm beruhigend die Hand auf die Brust.

Sie hatten Tel Aviv schon hinter sich gelassen und den Weg nach Süden eingeschlagen, und Schaul zögerte noch immer, ihr zu sagen, wohin die Reise ging, jeder Moment erschien ihm gleichermaßen unpassend, und immer wenn er sich fragte, wie er es formulieren sollte, wie er es ihr klarmachen sollte, kam ihm die ganze Sache absurd und unwirklich vor. Schließlich lehnte er den Kopf gegen das Wagenfenster und schloß resigniert die Augen, mutlos wie ein gefangenes Tier, und wenn er sie aufschlug, sah er ihr Profil und wußte, er würde es tun müssen, und es versetzte ihm erneut einen Stich, das Schweigen zwischen ihnen enthielt schon eine deutliche, beinahe unverblümte Feindschaftserklärung, intuitiv verhielten sie sich wie zwei artfremde Tiere, zwischen denen keinerlei Verbindung besteht, die nicht einmal zu einer Nahrungskette gehören, und nach einer halben Stunde Fahrt waren sie völlig erledigt.

Estis Kiefer schmerzten vor sich in ihr ballender Wut, Wut auf ihn und Wut auf Micha, auf seine Servilität gegenüber Schaul, die sie in diese Situation gebracht hatte. »Wenn er mich schon einmal um einen Gefallen bittet …«, hatte Micha gemurrt, der ganz aus dem Häuschen geraten war, nur weil Schaul ihn um etwas gebeten hatte, weil er überhaupt angerufen hatte, allein schon weil er ihre Nummer kannte; Esti, die gerade mit ihm auf dem Balkon Wäsche aufhängte, hatte in dem Gespräch nur Michas Part gehört, seine Ausrufe des Bedauerns und des Entsetzens über etwas Furchtbares, das Schaul am Vortag geschehen war (man hört immer nur eine Stimme, dachte sie); Micha hatte unaufhörlich Fragen gestellt, wie er stets alles, was ihm erzählt wurde, mit Salven von Fragen unterbrach, die dem Erzähler sein hohes Maß an Interesse und Sympathie dokumentieren sollten und vor allem seine grenzenlose Loyalität. Doch Schaul ließ sich grundsätzlich nicht unterbrechen, und auch heute abend hatte er sich nicht ins Wort fallen lassen, mit zwei knappen Sätzen hatte er die sentimentale Flutwelle, die da auf ihn zuschwappte, zum Versiegen gebracht; sie hatte mitanhören müssen, wie Micha kaltgestellt worden war, wie er kleinlaut geworden war, wie er verstummt war, und schon hatte die Kränkung sie stellvertretend gequält, und der Zorn auf Schaul, und widerstrebend hatte es sie auch ein wenig erregt, daß Schaul zu solch einem Maß an Härte fähig war, und zwei Minuten, nachdem Micha den Hörer aufgelegt hatte, riefen sie vom Umweltamt an und hatten Micha alarmiert.

Zischend preßte sie Luft durch verkniffene Lippen. Woher sollte sie die Energie nehmen, nach diesem langen Tag den Chauffeur zu spielen, wer-weiß-wie-lange, und später würde sie ihn vermutlich auch noch von wer-weiß-woher nach Jerusalem zurückbringen und von dort nach Hause, nach Kfar Saba, fahren müssen, wie hatte sie sich überhaupt auf solch eine bescheuerte, dubiose Geschichte einlassen können. Und sie fragte sich gedankenverloren, ob sie unterwegs zufällig durch ihr Be’er Sheva kämen, Schaul keuchte schwer, eine neue Schmerzwelle hatte ihn erfaßt, und er klammerte sich an die Hoffnung, daß irgend etwas passieren würde, daß er in Ohnmacht fallen würde, daß er das Bewußtsein verlieren würde, bevor sie das Ziel erreichten, aber nicht einmal einzuschlafen wagte er in ihrer Gegenwart, und ständig mußte er ihr geradezu indianerhaftes Profil ansehen, mit dem schweren Kinn und dem dicken schwarzen Haar; sie hatte ihnen einmal ein Bild geschenkt, zu Toms Geburt – er konnte nicht sagen, ob sie es gemalt, gebraten, oder gebacken hatte; ein Bild aus Paprika, Kreuzkümmel und Curry auf derbem Recyclingpapier, ein Bild von einer Mutter mit Kind, die viel mehr Ähnlichkeit mit ihr selbst aufwies als mit Elischeva. Und er erinnerte sich auch daran, daß er noch jahrelang ihren Geruch wahrgenommen hatte, wenn er die Nase an das Bild hielt, denn sie hatte manchmal, heute nacht nicht, einen spezifischen, scharfen Körpergeruch, den zu überdecken sie sich keinerlei Mühe gab, und Schaul fragte sich, wie es kam, daß das seinen Bruder nicht störte, und ihm fiel ein, was seine Mutter darüber gesagt hatte, als Micha angekündigt hatte, daß er sie heiraten werde, sogar den Körpergeruch hatte sie damals erwähnt, so weit war sie gegangen! Und nun ärgerte er sich noch mehr über Esti, wegen des Schwachsinns, der sich in seinem Hirn überschlug und ihn daran hinderte, sich zu konzentrieren, und Esti summte leise und schnell vor sich hin, Schiras Uniform wartete auf dem Bügelbrett auf sie, und auf drei Armeehemden galt es Rangabzeichen aufzunähen, und die Ritterkostüme der Zwillinge für den Kindergarten wollten gebügelt werden; noch sah sie nicht, daß sich ihr ein langer Weg öffnete, dessen Ende sie nicht einmal kannte. Sie spürte unter all den Matratzen noch nicht die Erbse, noch nicht das kleine, dunkle Mädchen, das sich Geschichten ausmalte, die ihm das Herz gleichermaßen hüpfen oder in die Hose rutschen ließen, Geschichten, in denen jeder Satz mit dem spannenden Wort ›plötzlich‹ begann, jede Schilderung‚ plötzlich, plötzlich, das kleine Mädchen, dem es den Atem verschlug, wenn es sich zuflüsterte, plötzlich …

Wo ist eigentlich Elischeva, dachte sie, warum sagt er mir nicht, wo sie steckt. Er wird ihr doch nichts angetan haben! Sie warf einen raschen Blick in den Rückspiegel, nahm vage den blutunterlaufenen Fleck unter seinem rechten Auge wahr, und wie immer, wenn ihre Blicke sich im Rückspiegel trafen, wichen sie aus, wie beim Kontakt mit einem unbekannten Fingernagel; er sieht tatsächlich aus, als hätte er jemanden um die Ecke gebracht, dachte sie. Der Gedanke hatte sie schon in seiner Wohnung beschlichen. Deshalb hatte sie sich auch dort umgesehen. Wenn er es nicht getan hat, sie hob eine Braue, was hat er dann so sehr zu verbergen. Sie straffte sich ein wenig. Ihre Zunge wedelte in ihrer Mundhöhle hin und her. Sie sah ihn lange an. Erst vorgestern war sie ihm zufällig im Fernsehen begegnet, man hatte ihn zur Kürzung der Mittel für naturwissenschaftliche Fächer in den Schulen interviewt, und er war scharfsinnig und schlagfertig und überaus überzeugend gewesen in dem Zynismus, mit dem er die zuständigen Politiker auseinandernahm; das Thema der Diskussion hatte sie nicht interessiert, aber wie immer, wenn er auf dem Bildschirm auftauchte, hatte sie gefesselt seinen Gesichtsausdruck studiert, auf etwas gelauert, das er bei Auftritten in der Öffentlichkeit fabelhaft verbergen konnte; beruhige dich, dachte sie, und massierte ihre verspannte Nackenmuskulatur, er hat sie nicht umgebracht. Er kommt keinen Millimeter weit ohne sie. Für einen Mord fehlt ihm der Mumm. Ihre Pupillen zogen sich in dem grünlichen Licht des Armaturenbretts katzenhaft in die Länge. Sie liebte es, sich vorzustellen, wie Ehepaare einander ermorden, ein kleiner Trick von ihr, um Neugier und sogar Sympathie für Paare zu entwickeln, zu denen sie keinen anderen Zugang fand: sich vorstellen, wie sie sich anschleichen, um einander zu meucheln, wie sie sich ducken und beschatten und durch das Dickicht der häuslichen Savanne pirschen. Wenn sie in der Wohnung von Freunden einen langweiligen Abend verbrachten, saß sie mitunter still in der Runde, und mit der Zielstrebigkeit einer gewitzten Made in einem dicken Apfel ließ sie den Blick nachdenklich über potentielle Mordwaffen streifen: eine schwere Obstschale aus Muranoglas, ein Käsemesser mit Delfter Porzellangriff, Nußknacker, Korkenzieher … Schaul bemerkte ihr befremdendes, ein wenig heimtückisches Lächeln. Sein verstörter Blick blieb einen Moment daran hängen, und es kam zu einer kurzen, abgetönten Begegnung zwischen ihnen, von der sie selbst nichts ahnten; und als habe er kostbare Zeit verschwendet, schloß er unwillkürlich die Augen und schob alles weit von sich, und er bündelte sich in seinem Innern zu einem düsteren Strahl, während sein Gesicht, in dem Elischeva aufflackerte, sich in dem dunklen, nassen Wagenfenster spiegelte …

Sie läuft über einen weißen Hügel, sie saust, ihre Bewegungen sind scharf, zerschneiden die Dunkelheit, ihre helle Hose ist an den Säumen aufgerissen, vielleicht hat sie sich in den Disteln verfangen, und er schreit beinahe verstört auf, als er sie dort sieht, doch er zwingt sich zum Schweigen, damit der Chauffeur sie nicht entdeckt.

Denn es gibt einen Chauffeur. Um Mitternacht hatte das Telefon geklingelt, und eine Stimme hatte ihm mitgeteilt, seine Frau sei verschwunden. Sie sei gegangen. Kein Mensch wisse wohin. Es sei nicht klar warum. In der Stimme des Informanten hatte sogar ein sanfter Vorwurf gelegen, als träfe Schaul die Schuld an ihrem Aufbruch. Er hatte schweigend zugehört. Der Mann hatte gesagt, sie würden jemanden schicken, um ihn hinzubringen. Er hatte nicht einmal gefragt wohin. Anscheinend starten sie eine Suchaktion, hatte er träge gedacht. Er hatte eine schläfrige Hand nach ihrer Seite des Bettes ausgestreckt und als er sie leer vorfand, war es, als habe er erst da verstanden, und er hatte sich blitzartig aufgerichtet. Der Mann hatte gesagt, halten Sie sich bereit und hatte aufgelegt, und er hatte reglos im Bett gesessen und die Wand angeglotzt: Seit wann teilt die Polizei einem mit, daß jemand vermißt wird? Normalerweise hat es doch umgekehrt zu sein, oder etwa nicht? Und im nächsten Augenblick klopfte schon ein feister Dickwanst mit nackten, kurzen Delphinhänden an die Tür. Wie die Hände des Mannes, der die Gegensprechanlage installiert hatte, die Elischevas Kindergarten im Erdgeschoß mit seinem Arbeitszimmer verbindet. Und er war ihm schweigend in dessen geschundenen, verdreckten Subaro gefolgt, es war nicht mal ein Streifenwagen gewesen, und er war auf den Rücksitz geklettert und hatte sich dort wortlos zusammengekauert. Und so fuhren sie eine Weile gen Süden, bis er sie plötzlich direkt vor seinen Augen über den Hügel flitzen sah, hell, dann von der Dunkelheit verschluckt, um im nächsten Augenblick auf einem anderen Hügel wieder aufzutauchen, so geschwind, mit behenden, flinken Bewegungen wie ein kleiner Fisch im nächtlichen Ozean, und um sie herum Dutzende von Augen, von ihr unbemerkt, rote, funkelnde Augen, sich entzündend, wenn sie vorbeikommt. Und nun verfängt sich ihre zarte Bluse im Ast eines niedrigen Baums und wird ihr heruntergerissen, und sie trägt nur noch den weißen BH, der ihm so gefällt und aus dem sie mit einer entrückten Geste ihre weiße, warme Brust zu befreien pflegt, die nach seinen Lippen lechzt, und warum dreht sie sich nicht um und sieht ihn und wird gerettet, alles, was sie tun muß, ist ihn anzusehen, und er wird ihr die Hand reichen und sie erlösen, aber sie macht es nicht, sie will es anscheinend nicht, sie will weiterrennen, soviel steht fest, sie denkt gar nicht daran, sich vor etwas retten zu lassen, sie genießt es, im Sauseschritt allein zu sein … Ihre Beine steigen auf und nieder, ihr Gesicht ist nach vorne gereckt, ihr Körper ist auf einmal so stark, wer hätte gedacht, daß sie solche Kräfte besitzt, sie läuft beinahe nackt, schält sich bald auch aus dem BH, aber bleibt nicht stehen, wird nicht müde, strahlt inmitten der sie umlagernden Schatten, als produzierten ihre bloßliegenden Nervenenden Elektrizität, sie schwebt mit unfaßbarer Leichtigkeit, mit physischer Leichtigkeit, leichtsinnig, und dann, genau in diesem Augenblick, löst sich ein neuer länglicher Schatten leise hinter einem Felsen, und ein großer, elastischer, straffer Körper heftet sich an ihre Fersen …

Und Schaul stöhnte verwirrt auf und schüttelte den Kopf, noch nicht, es ist noch Zeit, weg damit, reiß dich zusammen, schleunigst, und er sah Esti an und fragte sich, ob er einen Laut von sich gegeben habe, der ihr Mißtrauen erweckt haben könnte, doch Esti steuerte nachdenklich den Wagen, stimmte nickend irgendeiner Idee zu, und er dachte zerstreut, daß sie von hier aus, aus diesem Winkel betrachtet, ein durchaus beeindruckendes Gesicht hatte, nicht schön, aber stark und tapfer, und dabei entdeckte er einen kleinen runden Ohrring, den er vorher nicht bemerkt hatte, wie ein billiger Kinderohrring, dachte er schlaftrunken, der Ohrring eines Mädchens, das einsam auf dem Bürgersteig spielt, und er starrte auf das goldene Geglitzer in ihrem Ohrläppchen und fühlte sich magisch von ihm angezogen, hatte dabei das seltsame Gefühl, sich zu entleeren, und ganz langsam beruhigte er sich.

Jetzt, völlig grundlos, plätscherten ein paar einfache Momente in ihrem Gespräch. Schaul erkundigte sich nach den Kindern. Er nannte die Namen von Schira und Eran und fügte nach kurzem, angestrengten Nachdenken Na’amas Namen hinzu. Esti dachte, die Namen der Zwillinge fallen ihm nicht ein, in dem Bewußtsein, daß fünf Kinder in seinen Augen ein Beweis für Vulgarität sein mußten, eine Art schlechter Geschmack, als würde sie fünf Löffel Zucker im Kaffee trinken. Doch die Vorstellung, daß er die Namen der Kinder seines Bruders vergessen hatte, rührte sie auch ein wenig, und sie beschloß, ihn nicht weiter zu bekämpfen, wenigstens nicht für die Dauer der Fahrt, und aufzuhören, in ihrem Innern ununterbrochen mit ihm abzurechnen, und ihm das kränkende Desinteresse an seiner Verwandtschaft nachzusehen. Diese Nacht ist ohnehin gelaufen, warum sollen wir nicht das Beste daraus machen, und darum beantwortete sie seine zaghaften Fragen und erzählte ausführlich von den Kindern und wiederholte ständig ihre Namen, um ihm zu helfen, die Namen mit den Kindern in Einklang zu bringen, und sie streute auch ein wenig von den Eigenheiten jedes einzelnen Kindes dazwischen und hielt sich ein wenig länger bei ihrem Ido auf, dem kleineren der Zwillinge, vielleicht weil er sie manchmal an Schaul erinnerte, der ihm zwar kein bißchen ähnelte – er war der einzige, der etwas von ihr hatte –, aber dennoch so scheu und zerbrechlich wie er war, und der ihr mit seiner melancholischen Geistesabwesenheit hin und wieder ein unerklärliches Schuldgefühl verursachte.

Und sie fragte nach Tom, sie hatte immer das Gefühl gehabt, daß dieser Junge eines Tages Anlaß für eine Horrormeldung geben würde, und Schaul erzählte von seinem Mathematikstudium an der Sorbonne und von den Stipendien, die Tom dort absahnte, und er siebte jeden Tonfall des Stolzes oder Wohlgefallens aus seiner Stimme heraus, und während er erzählte, sah sie Tom in einer finsteren Bibliothek sitzen, der überdimensionierte Kopf schwer auf dem spindeldürren Hals lastend, und sie hätte gerne eine Frage gestellt, die sie sich verkniff.