Vorwort

Der Fuchs im Hühnerkostüm

von Dean Koontz

Im selben Augenblick, in dem Richard Laymon das Licht der Welt erblickte, ging ein mysteriöser Regen aus einer Million Frösche auf Cleveland, Ohio, nieder, und über siebenhundert Einwohner wurden von den großen herabstürzenden Amphibien ernsthaft verletzt. In Tibet hob der Dalai Lama zur selben Stunde plötzlich ab, schwebte vier Meter über dem Klosterboden und begann, von einem Tourette-Anfall erfasst, wie ein Hund zu bellen und das Wort »Bratensoße« in 79 verschiedenen Sprachen zu brüllen. Während der heilige Mann in der Höhe kreischte, legten zwei Archäologen vor den Toren Jerusalems den Altar eines Teufelsanbeter-Kultes aus dem dritten Jahrhundert frei, in dem ein Bild von Satan eingraviert war, das eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit der Warner-Brothers-Cartoonfigur Yosemite Sam aufwies. Gerade als der Arzt Richard Laymon einen Klaps auf den Po gab und der erste Schrei des Autors durch den Kreißsaal schallte, verfiel eine Gruppe von Karmeliter-Nonnen in Boston unerklärlicherweise in wilde Hysterie, rannte durch die Straßen der Stadt und steckte jeden in Brand, der auf den Namen »Herman« hörte. In London explodierte der Lieblingsfederhut der Queen ohne erkennbaren Grund, und auch wenn sie in ihrer Erhabenheit dadurch keinen Schaden nahm, versetzte sie der Vorfall doch in so schlechte Stimmung, dass sie vergaß, in welchem Jahrhundert sie sich befand, woraufhin sie anordnete, man möge den Hutmacher einen Kopf kürzer machen. In Zoos rund um den Globus brachen Elefanten aus ihren Gehegen aus und zertraten alles Flauschig-Possierliche, das sich ihnen in den Weg stellte; für einen Zeitraum von ein paar Minuten sprachen Bären die verblüfften Besucher in klarem, grammatikalisch korrektem Englisch an, wobei sie sich gewählter und deutlicher ausdrückten als der größte Theaterschauspieler aller Zeiten – obwohl allgemein berichtet wird, dass keiner von ihnen etwas Interessantes zu sagen hatte; Gorillas schließlich vollführten Entrechats mit einer Eleganz, die jede Ballerina zum Weinen brachte. Das vielleicht verwirrendste all der Rätsel dieses schicksalhaften Tages war jedoch, weshalb so verdammt viele Ballerinas einen Zoo besuchten.

Schließlich glitt die Welt wieder in ihre übliche Routine zurück. Es fielen keine Frösche mehr vom Himmel und man sah sie stattdessen nur noch in französischen Restaurants, wo sie hingehörten. Der Dalai Lama schwebte zurück zur Erde, stellte sein Soßen-Gekreische ein und wandte sich wieder seinen gewöhnlichen Beschäftigungen zu: beten, meditieren und auf Pferde wetten. Während sie sich die blutigen Überreste zerquetschter Häschen von den Sohlen ihrer riesigen Stampfer wischten, stapften die Elefanten zurück in ihre Gehege. Ihre Ballettleidenschaft vollkommen vergessend, aßen die Gorillas einfach wieder Bananen und kratzten sich am Hintern. Überall war es ruhig und Friede legte sich über Gottes Erde.

So wuchs Richard Laymon in aller Stille heran.

Mit strahlendem Lächeln, entwaffnendem Charme, unerschöpflicher Fröhlichkeit und einzigartiger Gutmütigkeit schaffte er es so problemlos durch seine Highschool- und Collegezeit, wie ein Fuchs in einem äußerst überzeugenden Hühnerkostüm es durch einen Schwarm betäubter Hennen auf Antidepressiva geschafft hätte – natürlich immer vorausgesetzt, Füchse hätten schneiderisches Talent und wären in der Lage, Hühnerkostüme anzufertigen und Hennen könnten sich ein Rezept für Antidepressiva beschaffen. Sollten Sie Richard Laymon (der aus Gründen, die sich mir nicht ganz erschließen, von seinen Freunden »Dick« genannt wird) eines Tages kennenlernen, werden Sie ihn gewiss als einen der angenehmsten Menschen empfinden, die Sie je getroffen haben. Wäre er Filmschauspieler, wäre er einer dieser Typen, die den besten Kumpel des männlichen Stars spielen: In Komödien wäre er liebenswert und unbeholfen, in Liebesfilmen liebenswert und sehr geschickt darin, die entfremdeten Liebenden nach einem Streit aufgrund eines dummen Missverständnisses wieder zusammenzubringen, in actionreichen Polizeistreifen der liebenswerte Partner, den der Bösewicht am Ende des zweiten Aktes kaltblütig erschießt, sodass sich der Star mit funkelnden Augen und verbissenem Gesichtsausdruck auf seinen Gerechtigkeits-Rache-Feldzug begibt, und in Horrorfilmen würde er bei lebendigem Leibe gefressen. Er wirkt auf sein Umfeld so freundlich, dass es ihm nach dem College gelang, eine Stelle als Englischlehrer der neunten Klasse einer katholischen Mädchenschule zu bekommen. Die Nonnen beteten ihn an – und dabei handelte es sich nicht etwa um jene verflucht durchgeknallten Nonnen in Boston, die sämtliche »Hermans« in Brand steckten; sie waren nette Nonnen. Die Schülerinnen fanden Dick einfach spitze und ihre Eltern hielten ihn für einen besonders mustergültigen jungen Mann.

Aber bereits während dieser Zeit begann Richard Laymon im Stillen mit dem Schreiben.

Später arbeitete er in der Bibliothek des Marymount College, wo er vermutlich eine Fliege und ein Jackett mit Lederflicken an den Ellbogen trug und stets den leicht verwirrten Bücherwurm gab. Dort hielt er, so stelle ich mir jedenfalls vor, den Karteikatalog in peinlicher Ordnung, staubte die Regale ab, saß am Leihschalter, verschickte mit Bedauern Mahnungen wegen überzogener Leihfristen, murmelte seinen Kollegen irgendetwas von Sokrates und Plato zu und ermahnte übermütige Studenten, sich bitte nur flüsternd zu unterhalten. Wäre er ein Fuchs, sein selbst genähtes Hühnerkostüm wäre so verblüffend überzeugend gewesen, dass ihm jeder Bauer auf der Suche nach Eiern eine Hand unter den Bauch geschoben hätte.

Im Jahr 1976 heiratete er Ann, das gutmütigste, freundlichste Wesen, das man sich nur vorstellen kann. 1979 brachte Ann dann Kelly zur Welt, ein kleines blondes Mädchen, das allem Anschein nach dem lieblichsten Engel nachempfunden war, den die Gemäldegalerie des Vatikans zu bieten hatte. Jeder, der diese junge Familie sah, konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und wurde unwillkürlich von dem Gefühl ergriffen, die Welt sei in allerbester Ordnung.

1980 veröffentlichte Richard Laymon jedoch seinen ersten Roman: Der Keller. Zweifellos begannen sämtliche Nonnen, die ihn kannten, umgehend für seine Seele zu beten, und jeder Bibliothekskollege, der je allein mit ihm zwischen den langen Buchreihen des Marymount gestanden hatte, spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief; die katholischen Schulmädchen hingegen, die er in Englisch unterrichtet hatte, fanden: »Hey, cool!« Der Keller war der furchteinflößendste, rasanteste, düsterste und einfach nur böseste Thriller seit Jahren. Mit seinem Debüt etablierte Dick einen Stil, der seither oft kopiert, aber nie erreicht wurde: Hals über Kopf, alle Register ziehend, grenzenlos, gnadenlos direkt, schockierend, überraschend-verwirrend-verstörend – mit anderen Worten: durchgeknallter, spannender Horror, der einige abstößt und andere in Begeisterung versetzt.

Im Lauf der Jahre hat Dick in seinen beinahe dreißig Romanen und zahlreichen Kurzgeschichten seine einzigartige Vision nie Kompromissen unterworfen, um dem Markt zu gefallen, und trotzdem hat er eine ergebene Leserschaft gefunden. Interessanterweise ist er, während ich dies schreibe, in England bekannter und wird dort von mehr Menschen bewundert als in seiner Heimat. Der Grund dafür ist, glaube ich, dass viele amerikanische Herausgeber den leicht verdaulichen »leisen Horror« der eher schweren Kost, die Dick servierte, stets vorzogen, und so überfluteten sie die Buchläden neben guten, leisen Horrorgeschichten mit unzähligen unsicheren, pseudoliterarischen Schreibübungen in Obskurantismus, deren Verfasser sich besser erst in korrekter Grammatik und Syntax geübt hätten, kurzum: mit Büchern, die leisem Horror – jeder Art von Horror – einen schlechten Ruf bescherten. Diese unlesbaren Schinken zerstörten – zusammen mit den üblichen alljährlich erscheinenden 3568 Vampirromanen – dieses Genre in hiesigen Gefilden buchstäblich, während Dick versuchte, sich eine Karriere aufzubauen, indem er Werke schuf, die sich vom üblichen Einheitsbrei unterschieden.

Er hat aber nicht einfach nur überlebt, er konnte sogar Erfolge feiern, weil eine beachtliche Anzahl von Lesern von Zeit zu Zeit gerne etwas Deftigeres von der literarischen Speisekarte genießt. Seine Erzählungen sind politisch unkorrekt und sein Blick bei seinen Beschreibungen des Bösen außergewöhnlich klar und kalt, und so schreibt er Geschichten, die sich ganz anders lesen als die Werke seiner Kollegen – und das ist unerlässlich für einen Schriftsteller, der nicht im Meer der Eintönigkeit des modernen Verlagswesens untergehen möchte. Da er mittlerweile aber so viele Bücher geschrieben und sich der Welt gezeigt hat, wird er nie wieder komplett in sein Hühnerkostüm schlüpfen können.

Wenn Gerda und ich zu den Laymons zum Abendessen gehen, fragen wir uns tatsächlich manchmal, ob Ann wirklich die sanftmütige Frau ist, als die sie sich gibt, oder ob sie sich hinter einer Maskerade versteckt, die ebenso geschickt ist wie die ihres Mannes. Wenn sie kocht, besuche ich sie unangemeldet in der Küche – nur um sicherzugehen, dass sie die Gerichte wirklich nur mit Gewürzen und Kräutern verfeinert und nicht mit irgendetwas Tödlichem. Wenn sie zum Tranchiermesser greift, rutsche ich an die Kante meines Stuhls vor, um jederzeit vom Tisch aufspringen und mich aus dem nächsten Esszimmerfenster stürzen zu können, sollte sie sich mir zuwenden anstatt dem Truthahn oder dem Braten. Dabei war ich wohl auch schon ein paarmal etwas zu angespannt: Mehrmals habe ich ihre Absichten falsch eingeschätzt und mich durch eine Glasscheibe geworfen, nur um dann vom Rasen aus ins Haus zu blicken und sie – mit erstauntem, verwirrtem Ausdruck – über den Braten gebeugt stehen zu sehen. Zu peinlich berührt, um die Wahrheit einzugestehen, behaupte ich jedes Mal, von einem katastrophalen Muskelkrampf aus meinem Stuhl geschleudert worden zu sein, und ich glaube, sie nimmt mir diese Geschichte auch ab, denn sie gibt mir jedes Mal den Namen eines medizinischen Experten, der mir vielleicht helfen könnte – obwohl dies in letzter Zeit immer Psychiater waren.

Ich halte auch ein waches Auge auf Kelly. Als sie noch ein kleines Mädchen war, war sie so süß, dass man sie an den Zweig eines Weihnachtsbaumes hätte hängen können und alle Welt so verzaubert von ihr gewesen wäre, dass sie die restliche Dekoration überhaupt nicht mehr wahrgenommen hätten – und dennoch hatte sie immer diesen gewissen, unerwarteten Witz, der intellektueller und beißender war als der übliche Kinderhumor. Eines Abends, als sechs Erwachsene zum Essen um den Tisch der Laymons saßen und jede Menge Spaß hatten, bemerkte Gerda, dass Kelly im Schlafanzug im Türrahmen stand und unsere Unterhaltungen leise kommentierte. Gerda stupste mich an, und als ich die Erwachsenen ausblendete und mich auf Kelly konzentrierte, war sie lustiger als jeder Einzelne von uns – obwohl wir uns selbst für ziemlich amüsant hielten. Als wir uns nur kurze Zeit später beim Besuch eines Vergnügungsparks zusammen mit den Laymons plötzlich in einer riesigen Menschenmenge wiederfanden, griff die kleine Kelly – damals nicht größer als eine Elfe – nach meiner Hand und drückte sie ganz fest. Ich war unendlich gerührt von ihrer echten Verletzlichkeit und, vor allem, von der Tatsache, dass sie darauf vertraute, dass ich dafür sorgen würde, dass ihr nichts geschah; aber trotzdem verschmähte dasselbe Mädchen sämtliche Puppenhäuser und spielte stattdessen lieber mit einem kleinen Spukschloss voller Monsterfiguren und deren kopflosen Opfern. Dies ist eine Tatsache und nicht etwa eine Übertreibung aus Gründen der Komik. Heute, viele Jahre später, ist Kelly eine junge Frau von siebzehn Jahren, stiller als der aufgeweckte Racker von damals, ja, beinahe prüde. Trotzdem ist sie die Tochter ihres Vaters, mit seinen seltsamen Genen, und wenn sie eines Abends beim Essen die Worte »Lass mich den Braten anschneiden, Mom«, sprechen sollte, bin ich mir sicher, dass ich wieder von einem dieser katastrophalen Muskelkrämpfe erfasst werden würde und mich inmitten von Glasscherben auf dem Rasen wiederfände.

Ich hoffe, dass Ihnen diese Geschichtensammlung ebenso sehr gefallen wird wie mir. Ich wünschte nur, Sie alle könnten das Vergnügen mit mir teilen, Dick Laymon und seine Familie ebenso gut kennen zu dürfen wie ich. Um ehrlich zu sein: Das Seltsamste an ihnen ist nämlich, dass sie mich als Freund ertragen.

Der Anhalter in der Wüste

»Alles klar!« Bei diesem war er zuversichtlich. Er ging rückwärts am Straßenrand entlang, starrte auf das sich nähernde Auto und hielt seinen Daumen raus. Das Sonnenlicht glänzte auf der Windschutzscheibe. Erst im letzten Moment konnte er einen Blick auf den Fahrer werfen. Eine Frau. So viel dazu. So viel zum Thema zuversichtlich.

Als er die Bremslichter aufleuchten sah, nahm er an, die Frau bremse aus Sicherheitsgründen ab. Als der Wagen stoppte, hielt er es für die »große Verarsche«. Daran war er gewöhnt. Das Auto bleibt stehen, du rennst hin und es rast los und schleudert dir Staub ins Gesicht. Dieses Mal würde er nicht darauf hereinfallen. Er würde ganz gemächlich auf den Wagen zuschlendern.

Als er die Rücklichter angehen sah, konnte er sein Glück kaum fassen.

Das Auto rollte rückwärts auf ihn zu. Die Frau im Wageninneren lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür.

»Kann ich Sie mitnehmen?«

»Na klar.« Er sprang in den Wagen und warf seinen Seesack auf den Rücksitz. Als er die Tür schloss, schlug ihm kalte Luft entgegen. Sie schien den Schweiß auf seinem T-Shirt zum Gefrieren zu bringen. Es fühlte sich gut an. »Ich freue mich riesig, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Sie sind eine echte Lebensretterin.«

»Wie zur Hölle sind Sie denn so weit hier rausgekommen?«, fragte sie und fuhr wieder auf die Straße.

»Das würden Sie mir nie und nimmer glauben.«

»Versuchen Sie es trotzdem.«

Ihm gefiel ihre Fröhlichkeit und er fühlte sich schuldig wegen des leicht nervösen Zitterns in ihrer Stimme. »Also, dieser Typ hat mich mitgenommen. Kurz vor Blythe. Und er fährt durch diese … diese Wüste … und plötzlich hält er an und sagt mir, ich soll aussteigen und mir mal einen der Reifen anschauen. Ich steige also aus – und er haut ab! Meinen Seesack schmeißt er ein Stück weiter die Straße runter raus. Keine Ahnung, wieso jemand so was tun sollte. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Das verstehe ich sehr gut. Heutzutage kann man nie wissen, wem man trauen kann.«

»Das ist nur allzu wahr.«

Er sah sie an. Sie trug Stiefel und Jeans und ein ausgeblichenes blaues T-Shirt, aber sie hatte Klasse. Das war offensichtlich: an der Art, wie sie sprach, wie ihre Haut ganz natürlich gebräunt war und wie sie ihr Haar trug. Selbst ihre Figur zeigte Klasse. Nichts war übertrieben.

»Was ich nicht verstehe«, fuhr er fort, »ist, warum der Typ mich überhaupt mitgenommen hat.«

»Vielleicht war er ja einsam.«

»Warum hat er mich dann rausgeschmissen?«

»Vielleicht hat er beschlossen, dass er Ihnen nicht trauen kann. Oder vielleicht wollte er einfach wieder allein sein.«

»Wie man es auch dreht und wendet, es war eine echt miese Aktion. Sie verstehen, was ich meine?«

»Ich denke schon. Wo wollen Sie denn hin?«

»Tucson.«

»Das passt. Ich muss sowieso in die Richtung.«

»Wieso fahren Sie nicht auf dem Highway? Was machen Sie hier draußen?«

»Nun …« Sie lachte nervös. »Was ich vorhabe, ist nicht unbedingt … na ja, es ist nicht unbedingt legal.«

»Ja?«

»Ich werde ein paar Kakteen klauen.«

»Was?« Er lachte. »Wow! Soll das heißen, Sie wollen hier draußen auch noch ein paar Kakteen mitnehmen?«

»Genau das soll es heißen.«

»Also, dann hoffe ich wirklich, dass Sie nicht erwischt werden!«

Die Frau zwang sich zu lächeln. »Das würde mich auch Strafe kosten.«

»Wirklich?«

»Eine saftige Strafe.«

»Nun, es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen zu helfen.«

»Ich habe nur eine Schaufel.«

»Ja. Hab ich gesehen, als ich meinen Sack nach hinten geworfen habe. Ich hab mich schon gefragt, wofür Sie die Schaufel brauchen.« Er sah sie an, lachte und freute sich darüber, dass diese Frau mit all ihrer Klasse ein paar Pflanzen aus der Wüste stehlen wollte. »Ich hab schon eine Menge gesehen, wissen Sie? Aber noch nie eine Kaktusdiebin.« Er lachte über seinen eigenen Scherz.

Sie nicht. »Jetzt haben Sie eine gesehen«, sagte sie.

Sie schwiegen für eine Weile. Der junge Mann stellte sich vor, wie diese klasse Frau über eine einsame Straße in der Wüste fuhr, nur, um ein paar Kakteen mitgehen zu lassen, und hin und wieder musste er kichern. Er fragte sich, wieso überhaupt jemand so etwas tun wollte. Wieso sollte man die Wüste mit zu sich nach Hause nehmen? Er wollte nichts mehr, als diesen trostlosen Ort hinter sich lassen, und er konnte beim besten Willen nicht verstehen, weshalb jemand einen Teil davon mit nach Hause nehmen wollte. Er kam zu dem Schluss, dass die Frau verrückt sein musste.

»Könnten Sie auch was zum Mittagessen vertragen?«, fragte die verrückte Frau. Sie klang noch immer nervös.

»Klar, ich denke schon.«

»Hinter Ihnen auf dem Boden sollte eine Papiertüte liegen. Da sind ein paar Sandwiches drin und Bier. Mögen Sie Bier?«

»Machen Sie Witze?« Er langte über die Sitzlehne und hob die Tüte auf. Die Sandwiches rochen wirklich gut. »Wieso fahren Sie hier nicht mal rechts ran?«, schlug er vor. »Wir können zu den Felsen da rübergehen und ein Picknick machen.«

»Das klingt nach einer prima Idee.« Sie hielt auf dem Seitenstreifen an.

»Fahren Sie lieber noch ein Stück weiter raus. Wir sollten nicht zu nah an der Straße parken. Nicht, wenn Sie wollen, dass ich Ihnen nach dem Essen noch helfe, einen Kaktus zu klauen.«

Sie sah ihn nervös an und lächelte. »Okay, gut. Wird gemacht.«

Der Wagen ruckelte vorwärts, schlängelte sich zwischen großen runden Kakteen hindurch und krachte durchs Gestrüpp. Schließlich kam er hinter einer Ansammlung von Felsen zum Stehen.

»Denken Sie, dass man uns von der Straße aus immer noch sehen kann?«, fragte die Frau. Ihre Stimme zitterte.

»Ich glaube nicht.«

Als sie die Türen öffneten, schlug ihnen die Hitze entgegen. Sie stiegen aus und der junge Mann nahm die Tüte mit den Sandwiches und dem Bier mit. Er setzte sich auf einen großen Stein. Die Frau setzte sich neben ihn.

»Ich hoffe, Sie mögen die Sandwiches. Corned Beef und Schweizer Käse.«

»Klingt gut.« Er reichte ihr eines und öffnete das Bier. Die Dosen waren nicht sonderlich kalt, aber er beschloss, dass nicht sonderlich kaltes Bier immer noch besser war als gar kein Bier. Während er sein Sandwich aus der Zellophanverpackung befreite, fragte er: »Wo ist Ihr Mann?«

»Was meinen Sie?«

Er lächelte. Das hatte sie wirklich in Verlegenheit gebracht. »Na ja, ich habe zufällig gesehen, dass Sie keinen Ring tragen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Sie blickte auf das Band aus blasser Haut an ihrem Ringfinger hinunter. »Wir haben uns getrennt.«

»Oh? Wieso das?«

»Ich habe herausgefunden, dass er mich betrügt.«

»Er hat Sie betrogen? Ganz ehrlich, der muss vollkommen verrückt sein!«

»Nicht verrückt. Es machte ihm einfach Spaß, Menschen wehzutun. Aber ich verrate Ihnen was: Mich zu betrügen war der schlimmste Fehler, den er je gemacht hat.«

Sie aßen für eine Weile schweigend weiter, wobei der junge Mann hin und wieder ungläubig den Kopf schüttelte. Schließlich hörte er mit dem Kopfschütteln auf. Er kam zu dem Schluss, dass auch er möglicherweise eine erwachsene Frau betrügen würde, die sich ihre Kicks beim Kaktusklauen holte. Gutes Aussehen war schließlich nicht alles. Wer will schon mit einer Verrückten zusammenleben? Er trank sein Bier aus. Der letzte Schluck war so warm, dass es ihn schüttelte.

Er ging zum Wagen und hob die Schaufel vom Boden vor der Rückbank auf. »Wollen Sie mitkommen? Sie können die aussuchen, die Sie wollen, und ich grabe sie aus.«

Er sah ihr zu, wie sie das Zellophan zusammenknüllte und zusammen mit den leeren Bierdosen in die Papiertüte packte. Sie warf die Tüte ins Auto, lächelte ihn an und sagte: »Jedes bisschen Müll tut weh.«

Sie entfernten sich vom Wagen. Sie gingen nebeneinander, wobei die Frau sich umschaute und sich ab und zu hinhockte, um einen in Frage kommenden Kaktus zu inspizieren.

»Sie müssen mich für ziemlich seltsam halten«, bemerkte sie, »weil ich einfach so einen Tramper mitgenommen habe. Ich hoffe, Sie denken nicht, … Also, es war wirklich kriminell von diesem Mann, Sie mitten im Nirgendwo zurückzulassen. Aber ich bin froh, dass ich Sie aufgesammelt habe. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ich mit Ihnen reden kann.«

»Das ist nett. Ich höre gerne zu. Wie wär’s mit dem hier?«, fragte er und zeigte auf einen riesigen, stacheligen Kaktus.

»Zu groß. Ich möchte lieber etwas Kleineres.«

»Der hier müsste in den Kofferraum passen.«

»Ich hätte lieber mehrere kleinere«, erklärte sie. »Außerdem gibt’s im Saguaro National Monument Park eine Art, von der ich auch gern ein Exemplar hätte. Und das wird wahrscheinlich ziemlich groß sein. Den Kofferraum möchte ich mir dafür aufsparen.«

»Was immer Sie wünschen.«

Sie gingen weiter. Schon bald war das Auto außer Sichtweite. Die Sonne fühlte sich wie eine heiße, schwere Last an, die auf den Kopf und die Schultern des jungen Mannes drückte.

»Wie ist der hier?«, fragte er erneut und zeigte. »Der ist ziemlich klein.«

»Ja. Der ist ziemlich perfekt.«

Die Frau kniete sich daneben. Ihr T-Shirt war auf ihrem verschwitzten Rücken dunkelblau und eine leichte Brise zerzauste ihr Haar.

Das ist ein schönes Bild, um mich an sie zu erinnern, dachte der junge Mann, als er ihr die Schaufel auf den Kopf knallte.

Er begrub sie neben dem Kaktus.

Während er die Straße entlangfuhr, dachte er an sie. Sie war eine nette Frau mit offensichtlicher Klasse gewesen. Verrückt, aber nett. Ihr Mann musste ein Vollidiot gewesen sein, dass er eine gut aussehende Frau wie sie betrogen hatte, es sei denn, er hatte es getan, weil sie verrückt war.

Er fand es nett, dass sie ihm so viel von sich erzählt hatte. Es fühlte sich gut an, wenn einem Geheimnisse anvertraut wurden.

Er fragte sich, wie weit sie ihn wohl mitgenommen hätte. Nicht weit genug. Es war viel besser, das Auto für sich alleine zu haben. Auf die Art musste er sich keine Sorgen machen. Und die 36 Dollar, die er in ihrem Geldbeutel fand, waren ein willkommener Bonus. Für einen Moment hatte er schon befürchtet, nur Kreditkarten darin zu finden. Alles in allem war sie ein schöner Fund gewesen. Er schätzte sich glücklich.

Zumindest, bis das Auto plötzlich zu eiern begann. Er fuhr rechts ran und stieg aus. »Oh nein«, murmelte er, als er das platte Hinterrad sah. Er lehnte sich gegen die Seite des Wagens und stöhnte. Die Sonne schlug ihm ins Gesicht. Er schloss die Augen und schüttelte, genervt von der neuen Situation, den Kopf, als er daran dachte, wie furchtbar es sein würde, sich unter der heißen Sonne fünfzehn Minuten mit dem Reifen beschäftigen zu müssen.

Dann hörte er in der Ferne das schwache Geräusch eines Motors. Er öffnete die Augen und blickte die Straße hinunter. Ein Auto näherte sich. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, den Daumen rauszuhalten. Aber das wäre dumm, dachte er, jetzt, wo er einen Wagen ganz für sich alleine hatte. Er schloss die Augen wieder und wartete, dass das Auto vorbeifuhr.

Aber es fuhr nicht vorbei. Es hielt an.

Er öffnete die Augen und schnappte nach Luft.

»Guten Tag«, rief der Fremde.

»Howdy, Officer«, sagte er mit wild pochendem Herzen.

»Haben Sie ein Ersatzrad?«

»Ich glaube schon.«

»Was meinen Sie damit, Sie glauben schon? Entweder haben Sie eins oder nicht.«

»Was ich meine, ist, dass ich nicht sicher bin, ob es noch was taugt. Es ist ’ne Weile her, dass ich es benutzt habe, wenn Sie verstehen?«

»Natürlich verstehe ich. Ich denke, ich bleibe hier, bis wir das herausgefunden haben. Das ist ’ne raue Gegend hier. Hier draußen kann man sterben. Wenn das Ersatzrad nichts mehr taugt, rufe ich Ihnen über Funk einen Abschleppwagen.«

»Okay, danke.« Er öffnete die Tür und zog den Zündschlüssel ab.

Es ist alles okay, sagte er sich. Der Bulle hat überhaupt keinen Grund, dich zu verdächtigen.

»Sind Sie ein Stück weiter hinten von der Straße runtergefahren?«

»Nein, warum?«, fragte er zurück und spielte dabei mit den Schlüsseln in seiner Hand. Sie fielen zu Boden. Der andere Mann hob sie auf.

»Platte Reifen bekommt man hier draußen meist von Kaktusnadeln. Die sind mörderisch.«

Er folgte dem Polizisten zum hinteren Teil des Wagens.

Der achteckige Schlüssel passte nicht in das Kofferraumschloss.

»Keine Ahnung, wieso diese Trottel in Detroit nicht einfach einen Schlüssel machen, der an der Tür und am Kofferraum passt.«

»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte der junge Mann, und dabei gelang es ihm, ebenso abschätzig zu klingen wie der andere, sodass er sich sofort wieder selbstsicherer fühlte.

Der runde Schlüssel passte. Der Kofferraumdeckel klappte auf.

Der Polizist warf die Abdeckplane auf den Boden und richtete im nächsten Moment seine Pistole auf den jungen Mann, der stumm auf die Leiche eines Mannes im mittleren Alter starrte, der ganz offensichtlich Klasse hatte.