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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

edition suhrkamp 2638

Erste Auflage 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-76800-6

 

www.suhrkamp.de

 

 

 

Während die Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien zunimmt, bleibt die Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts ungebrochen. Urteile wie zum Lissabon-Vertrag, zur Onlinedurchsuchung oder zur Höhe der Hartz-IV-Sätze werfen jedoch die Frage auf, inwiefern die Karlsruher Richter bisweilen die Grenzen ihrer institutionellen Zuständigkeit überschreiten. Anlässlich des 60. Jahrestags der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts unternehmen vier renommierte Juristen daher den Versuch einer wissenschaftlichen Kritik an Deutschlands beliebtestem Verfassungsorgan.

Matthias Jestaedt, geboren 1961, lehrt Öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Oliver Lepsius, geboren 1964, lehrt Öffentliches Recht und Staatslehre an der Universität Bayreuth. Christoph Möllers, geboren 1969, lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In der edition suhrkamp erschien zuletzt von ihm Der vermisste Leviathan (es 2545). Christoph Schönberger, geboren 1966, lehrt Öffentliches Recht an der Universität Konstanz.

Inhalt

Vorwort

 

Christoph Schönberger

Anmerkungen zu Karlsruhe

 

Matthias Jestaedt

Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist

 

Oliver Lepsius

Die maßstabsetzende Gewalt

 

Christoph Möllers

Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der sechzigste Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts lädt zu einem frischen Blick auf diese Institution ein. Hinter der eigentümlichen Kombination aus großer Popularität des Gerichts und juristischer Technizität seiner Entscheidungen sind viele Möglichkeiten der wissenschaftlichen Annäherung in den Hintergrund getreten: die Historisierung, ein Verständnis des Bundesverfassungsgerichts als Gebilde, das sich wandelt, an Bedeutung gewinnt und verliert und von Kontexten abhängt, die es selbst nicht kontrollieren kann (Schönberger); die Analyse der keineswegs begriffsnotwendigen juristischen Weichenstellungen, mit denen das Gericht sich erst zu dem gemacht hat, was es heute ist (Jestaedt): ein Organ, dessen Aussprüche sich in einem Zwischenreich von Recht, Wissenschaft und Politik zu bewegen scheinen (Lepsius); schließlich die offene Frage nach seiner Legitimation (Möllers).

Die vier Autoren des vorliegenden Bandes wenden sich diesen Themen mit unterschiedlichen Vorverständnissen und Fragestellungen zu. Sie verbindet das Interesse an einer bemerkenswerten Institution und die Überzeugung, dass die Rechtswissenschaft mehr zu deren Verständnis beizutragen hat als die Kommentierung und Kanonisierung einzelner Entscheidungen. Die Autoren verbindet dagegen weder eine gemeinsame Methode noch eine – sei es affirmative, sei es kritische – Haltung zum Gericht.

Trotz aller Unterschiede konnten die vier Beiträge unter dem Stichwort der Entgrenzung zusammenfinden, das dem Buch seinen Titel gibt. Verschiedenste Varianten solcher Entgrenzungen finden sich in ihm analysiert. Manche, etwa die von Recht und Politik, Recht und Moral sowie Rechtspre chung und Gesetzgebung, scheinen allen Verfassungsgerichten gemein. Andere, wie die Entgrenzung von subjektiven Rechten und objektivem Recht sowie Rechtsprechung und Rechtswissenschaft, wirken gerade für das Bundesverfassungsgericht typisch.

 

Berlin, Mai 2011

Christoph Möllers

Christoph Schönberger
Anmerkungen zu Karlsruhe

I. Aufstieg

Es war neu. Es hatte keine Tradition. Die scharlachroten Roben seiner Richter borgte es beim Florenz der Renaissance aus. Im Karlsruher Schlosspark bezog es fünf flache Würfel aus Beton, Stahl und vor allem Glas. Es war ein Gericht, das nicht so war und nicht so sein wollte, wie deutsche Gerichte üblicherweise sind.

Ohne Tradition war auch das Staatswesen, in dessen Dienst das Bundesverfassungsgericht trat. Die Bundesrepublik rettete aus dem Konkurs des nationalsozialistischen Deutschland und den Unsicherheiten des beginnenden Ost-West-Konflikts, was zu retten war. Sie vereinigte provisorisch, wie man glauben wollte, die drei westlichen Besatzungszonen. Die Eingeborenen von »Trizonesien«, welche ein Karnevalslied jener Nachkriegsjahre besang, wurden zu Bürgern eines behelfsmäßigen westdeutschen Staates – eines Staates, der in Bonn am Rhein in schmuckloser Unauffälligkeit regiert und verwaltet wurde.

Dieses notdürftige Staatswesen brauchte eine rechtliche Grundlage. Seit den Revolutionen in den Vereinigten Staaten und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts heißen solche rechtlichen Gründungsurkunden Verfassungen. Für den bescheidenen Staat von Bonn, in einem zunehmend geteilten Land und noch unter Kuratel der Westalliierten, erschien dieses Wort zu hoch, zu pathetisch, zu endgültig. Der Parlamentarische Rat, der in der Bonner Pädagogischen Akademie innerhalb weniger Monate, von Herbst 1948 bis Frühjahr 1949, das westdeutsche Gründungsstatut schuf, wählte einen zaghafteren Namen: Grundgesetz. In dieser Bezeichnung klangen zwar ältere Traditionen leise mit, denn schon im altehrwürdigen Heiligen Römischen Reich Deut scher Nation hatte man leges fundamentales, Grundgesetze, gekannt. Aber in der Situation des Jahres 1949 signalisierte dieser Name doch in erster Linie Unfertigkeit und Vorläufigkeit des gesamten Statuts. Und noch heute zeigt ein Blick in den letzten Abschnitt des Grundgesetzes ein buntes Allerlei von der Staatsangehörigkeit über das süddeutsche Notariat bis hin zum Staatskirchenrecht. Der Parlamentarische Rat musste diese Angelegenheiten eilig irgendwie regeln, ohne sie doch endgültig ordnen zu können. Für die Ewigkeit war das Dokument ganz offenkundig nicht gemacht.

Eine vollgültige Verfassung sollte dieses Grundgesetz nicht sein. Aber das Gericht, das es letztverbindlich auslegen sollte, führte nach dem Willen des Parlamentarischen Rates die Verfassung im Namen. Für das neue Gericht interessierte man sich im Parlamentarischen Rat indes nur am Rande (Fronz 1971; Niclauß 2006). Zu viel Sonstiges musste in kurzer Zeit beraten und entschieden werden, vom Verhältnis zwischen Bund und Ländern bis hin zu den Finanzfragen. Die Parteien waren sich ohnehin im Grundsatz einig. Die neuartige Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, Gesetze wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz für nichtig zu erklären, löste keine Kontroversen aus (Laufer 1968: 52f.). Bei einigen europäischen Nachbarn war das nach dem Zweiten Weltkrieg ganz anders. So galt die Verfassungsgerichtsbarkeit in der französischen Vierten Republik weiterhin als undenkbar, und in Italien wurde sie erst nach erbittertem Streit eingeführt. Vor allem die linken Parteien befürchteten eine Einschränkung der demokratischen Entscheidungsgewalt des Parlaments. Sie wollten der Volksvertretung die volle gesetzgeberische Freiheit zur Umgestaltung der Gesellschaft erhalten (Pasquino 1998: 44ff.). Im Parlamentarischen Rat befürworteten aber gerade auch die Sozialdemokraten eine derartige Kontrolle. Nur die Kom munisten waren dagegen (Kau 2008: 91ff.). Noch in der Weimarer Republik war grundsätzlich über Vorzüge und Nachteile der Verfassungsgerichtsbarkeit debattiert worden (Wendenburg 1984; Beaud/Pasquino 2007; Baumert 2009; zu älteren Traditionslinien: Scheuner 1976). Bei der Entstehung des Grundgesetzes gab es solche Fundamentalkontroversen hingegen nicht mehr.

Große Schwierigkeiten hatte der Parlamentarische Rat hingegen mit der Organisation der höchsten Gerichte insgesamt. Anders als die Schweiz oder die USA kannte Deutschland seit der Gründung des Deutschen Reiches kein einheitliches Oberstes Bundesgericht. Es gab keinen deutschen Supreme Court, der für alle Rechtsstreitigkeiten vom Privatrecht über das Strafrecht bis hin zum Verwaltungsrecht die höchste Instanz gebildet hätte. Am ehesten hatte diese Rolle zuvor das Reichsgericht in Leipzig ausgefüllt, das in letzter Instanz über Streitigkeiten des Zivil- und Strafrechts entschied. Die Einrichtung eines Bundesverfassungsgerichts beschäftigte den Parlamentarischen Rat deshalb in erster Linie unter dem Aspekt, wie die höchsten deutschen Gerichte zukünftig insgesamt organisiert sein sollten. Im Kern stritt man um die Frage, ob das neue Gericht nun schlicht der deutsche Supreme Court sein oder ob es als besondere Institution neben die normale Justiz treten sollte. Die Kontroverse mutet technisch an. Es ging dabei aber um die Natur der Verfassungsgerichtsbarkeit. Denn in einem einheitlichen Obersten Bundesgericht nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten wären die typischen Alltagsfragen des Rechts ebenso zu entscheiden gewesen wie die häufig hochpolitischen Verfassungsfragen. Dagegen wehrten sich vor allem die Vertreter der traditionellen deutschen Justiz. Nach ihrem Selbstverständnis war normales Recht unpolitisch, Verfassungsrecht hingegen politisch. Hätte ein deutsches Oberstes Bun desgericht über beides zu befinden gehabt, befürchteten sie einen Autoritätsverlust der gesamten Justiz durch deren Politisierung (Laufer 1968: 52ff.; Sörgel 1969: 142ff.; Otto 1971: 177ff.). Diese Sichtweise setzte sich in der Sache durch. Das Grundgesetz stellte das Bundesverfassungsgericht neben die anderen Gerichte des Bundes und der Länder. Ein einheitliches Oberstes Bundesgericht war zwar im Verfassungstext noch vorgesehen, wurde aber später nie Wirklichkeit. Schlecht und recht kam so das Grundproblem von Verfassungsgerichten zur Sprache. Die Vorstellung von einem Gegensatz zwischen »rechtlich« und »politisch« ist zwar häufig bloße Richterideologie. Auch normale Gerichtsentscheidungen haben eine politische Dimension, zumal bei den höchsten Gerichten. Wenn das Bundesarbeitsgericht über die Zulässigkeit von Streik und Aussperrung urteilt, wenn der Bundesgerichtshof über die Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik entscheidet, dann sind das auch politische Entscheidungen. Aber das politische Element spitzt sich doch zu, wenn ein Gericht etwa zu beurteilen hat, ob der Bundespräsident den Bundestag vorzeitig auflösen darf oder ob der gesetzlich festgelegte Sozialhilfesatz gegen die Verfassung verstößt. Wenn man derartige Entscheidungen überhaupt Gerichten überträgt, dann stellt sich die Frage, ob man sie den üblichen Gerichten zusätzlich anvertraut oder dafür besondere Gerichte schafft, die nach ihrer Zusammensetzung und Organisation stärker politisch geprägt sind. Diese Frage verschärft sich, wenn die Politiker der traditionellen Justiz die Aufgabe der Verfassungskontrolle nicht recht zutrauen. Hans Kelsen hatte für Österreich nach dem Ersten Weltkrieg das erste selbstständige Verfassungsgericht praktisch konzipiert und theoretisch gerechtfertigt (Haller 1979: 45ff.; Kelsen 1929). Diese Form einer konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit, die gegenüber der normalen Jus tiz verselbstständigt ist, passte besser für die kontinentaleuropäischen Staaten, weil deren Rechtskultur – anders als die angloamerikanische – traditionell auf eine systematische Gesetzgebung und deren Richterschaft auf die Deutung und Anwendung derartiger Gesetze ausgerichtet ist (Cappelletti/Ritterspach 1971: 89ff.; Beyme 2006: 521f.).

Im Nachkriegsdeutschland hatte das Problem eine besondere Bedeutung, weil das Personal der höchsten Gerichte überwiegend schon der NS-Justiz gedient hatte. Indirekt stand deshalb auch zur Debatte, wie stark das Bundesverfassungsgericht in diese Kontinuität hineingeraten würde.1) Der Parlamentarische Rat legte sich hier noch kaum fest. Zwar optierte er für ein eigenständiges Verfassungsgericht und traf damit eine Vorentscheidung für eine stärker politisch geprägte Institution in der Tradition Kelsens. Das Grundgesetz sieht deshalb vor, dass die Verfassungsrichter je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Anders als es noch der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vorgeschlagen hatte, widmet das Grundgesetz indes dem Bundesverfassungsgericht keinen eigenen Abschnitt, sondern führt es im Abschnitt über die Rechtsprechung auf, dort allerdings an erster Stelle (Laufer 1968: 57ff.). Eine enge personelle Verschränkung mit dem geplanten Obersten Bundesgericht galt im Parlamentarischen Rat über dies noch als naheliegend. Das Grundgesetz sieht insoweit aber nur vor, dass ein Teil der Richter des Bundesverfassungsgerichts aus den Bundesgerichten stammen, also Berufsrichter sein muss. Letztlich überließ der Parlamentarische Rat viele grundsätzliche Fragen zum Bundesverfassungsgericht der künftigen Gesetzgebung. Man hatte Dringenderes zu tun. Die Bundesrepublik Deutschland entstand zunächst ohne ihr noch ganz virtuelles Verfassungsgericht. Bundespräsident Theodor Heuss und Bundeskanzler Konrad Adenauer waren bereits zwei Jahre im Amt, als sie am 28. September 1951 an der offiziellen Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts im Karlsruher Schauspielhaus teilnahmen.

Es war die oppositionelle SPD mit ihrem Rechtsexperten Adolf Arndt, die im ersten Bundestag die Errichtung des Gerichts vorantrieb. Die Regierung Adenauer und die sie stützende Bundestagsmehrheit hatten damit hingegen keine Eile (Laufer 1968: 97ff.; Gosewinkel 1991: 181ff.). Hier wurde bereits ein zentraler Aspekt deutlich, der die spätere Bedeutung des Gerichts erklärt. Die Bundesrepublik entwickelte nach 1949 mit erstaunlicher Geschwindigkeit etwas, das es in der deutschen Verfassungsgeschichte zuvor noch nie gegeben hatte: ein parlamentarisches Regierungssystem geradezu britischen Zuschnitts, mit einer klaren Gegenüberstellung von Regierung und Opposition (Lehmbruch 1998: 37ff.). Manche Politiker aus beiden großen Parteien hatten 1949 angesichts der Not der Zeit eine große Koalition erwogen; Konrad Adenauer hatte sich bewusst dagegen entschieden (Schwarz 1986: 619ff.). Man war auf dem Weg zu Adenauers Kanzlerdemokratie, welche die schwachen Reichskanzler und instabilen Reichstage der Weimarer Republik vergessen machte. Rasch wurde nun deutlich, dass eine Bundesregierung mit verlässlicher Parlamentsmehrheit stark war, sehr stark sogar. Diese neuartige Erfahrung ver stärkte die Suche nach Gegengewichten. Das Bundesverfassungsgericht schien ein solcher Widerpart werden zu können (Dreher 1951: 381).

Viele grundlegende Entscheidungen zu Wahl und Organisation des Gerichts fielen erst jetzt. Der Bundestag entschied sich für ein System von zwei Senaten mit jeweils zwölf Mitgliedern. Jeder Senat bestand aus vier Bundesrichtern und acht weiteren Mitgliedern. Die Bundesrichter waren für die Dauer ihres Amtes an einem Bundesgericht – also bis zum Eintritt in den Ruhestand – auch Verfassungsrichter, die sonstigen Mitglieder hatten eine Amtszeit von acht Jahren mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Bei späteren Reformen wurde die Zahl der Richter verringert. Es entstand so die heutige Situation, in der jeder Senat acht Mitglieder hat, von denen drei aus den obersten Bundesgerichten stammen müssen. Seit 1970 ist die Amtszeit aller Verfassungsrichter überdies einheitlich auf zwölf Jahre ohne Wiederwahlmöglichkeit begrenzt. Im ersten Bundestag setzte sich die SPD dafür ein, von den Mitgliedern des Gerichts, die nicht aus dem Kreis der Bundesrichter kommen, keine juristische Qualifikation zu verlangen. Erfahrenheit im öffentlichen Leben sollte genügen. Die Sozialdemokraten wollten also Laienrichter, gewissermaßen Verfassungsschöffen, um die Verbindung des Gerichts zu Politik und Gesellschaft zu betonen. Die Regierungsmehrheit setzte jedoch durch, dass auch die anderen Mitglieder die Befähigung zum Richteramt brauchten (Gosewinkel 1991: 197f., 203). Diese müssen also ebenfalls in der Regel Volljuristen sein, die beide Staatsexamina abgelegt haben. Das Bundesverfassungsgericht wurde so seit seinen Anfängen zum reinen Juristengericht.

Das System von zwei Zwillingssenaten ist eine deutsche Besonderheit. Jeder Senat urteilt eigenständig als »das Bundesverfassungsgericht«, ohne dass die Richterkollegen aus dem anderen Senat mitreden dürfen. In anderen Ländern ist das unüblich. Der Oberste Gerichtshof in Washington beispielsweise entscheidet alle Fälle im Plenum seiner neun Mitglieder. Die Karlsruher Doppelkonstruktion beruht im Kern auf einem Kompromiss zwischen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung und demjenigen der SPD-Bundestagsfraktion. Der Regierungsentwurf stand in der deutschen Tradition anonymer Justiz durch auswechselbare Richter. Aus einer Gesamtzahl von 24 Richtern sollten nach einem »roulierenden System« mit vorher festgelegter Geschäftsverteilung jeweils neun Richter als »Sitzgruppe« tätig werden. Die SPD-Fraktion wollte hingegen die Verfassungsrichter nach amerikanischem Vorbild als öffentlich bekannte Personengruppe herausheben. Sie sah deshalb ein kleines Gericht von zehn Mitgliedern vor, das immer in voller Besetzung tätig werden sollte. Die heutigen Zwillingssenate mit fester Zuständigkeit und Mitgliedschaft liegen in der Mitte zwischen diesen beiden Modellen (Kralewski/Neunreither 1963: 187, 190f., 194, 196; Schiffers 1984: XVI, 282ff.). Für zwei Senate sprachen dabei unterschiedliche Erwägungen: Deutsche Obergerichte bestehen traditionell aus mehreren eigenständigen Spruchkörpern. Dabei spielt die Wertschätzung fachlicher Spezialisierung eine Rolle, wie sie auch die deutsche Verwaltung prägt (Gross 1967: 195). Anfangs sah man den für Grundrechtsfragen zuständigen Ersten Senat zudem eher als Ausprägung der herkömmlichen deutschen Justiz, den für Probleme der Staatsorganisation verantwortlichen Zweiten Senat hingegen in der stärker politischen Tradition der Staatsgerichtsbarkeit der Weimarer Zeit (Kommers 1976: 86f.). Auch schien eine große Arbeitslast für das Bundesverfassungsgericht absehbar, deren Bewältigung man einem einheitlichen Spruchkörper nicht zutraute (Arndt 1951: 297).

In der Entscheidung für ein Doppelgericht schwang nicht zuletzt eine sehr deutsche Vorliebe für Proporz und Parität mit. Darauf deutet auch die gerade Zahl der Mitglieder der Senate hin. Sie macht eine Pattsituation des Vier zu Vier möglich,2) was durch die Praxis der großen Parteien zementiert wird, die Verfassungsrichter nach strikt gleichberechtigtem Proporz zu wählen.3) Im Supreme Court in Washington ist eine derartige Parität hingegen durch die ungerade Zahl von neun Richtern von vornherein ausgeschlossen. Die gleichberechtigten Senate, denen nach innen auch noch das Patt droht, stehen in älteren deutschen Traditionen. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation kam ein für Religionsfragen bedeutsamer Beschluss des Reichstags nur zustande, wenn die protestantische und die katholische Bank jeweils für sich zustimmten. Eine Abstimmung des gesamten Reichstags konnten diese jederzeit dadurch verhindern, dass sie das Auseinandertreten der Konfessionsparteien verlangten, die itio in partes. Ähnliche Paritätsregeln galten auch für das Reichskammergericht und den Reichshofrat. Im Land der Reformation hat der konfessionelle Zwiespalt eine psychologische Sperre gegen das Mehrheitsprinzip hervorgebracht (Gross 1967: 38; Lehmbruch 1996: 30ff.; Schön berger 2001: 37ff.). Man setzt von jeher weniger auf Mehrheitsentscheidungen als auf Ausgleich zwischen den Beteiligten, seien dies nun Protestanten und Katholiken, Bund und Länder oder »Schwarze« und »Rote«. Auch und gerade in Karlsruhe.

Im September 1951 war es so weit. Nach Verabschiedung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht wurden die ersten 24 Verfassungsrichter gewählt und nahmen ihre Arbeit auf. Sitz des Gerichts war die frühere badische Hauptstadt Karlsruhe geworden. In dieser Frage hatte sich letztlich das Bundesjustizministerium durchgesetzt; die SPD hatte hingegen für eine Ansiedlung des Gerichts in Berlin plädiert. Im Justizministerium verstand man unter oberster Gerichtsbarkeit in erster Linie den bereits in Karlsruhe angesiedelten Bundesgerichtshof, das höchste Bundesgericht in Zivil- und Strafsachen. In der Vorstellung des Ministeriums war das Bundesverfassungsgericht eine Art Annex des Bundesgerichtshofs, zumal auch noch die Errichtung eines Obersten Bundesgerichts im Raum stand. Diese Gerichte sollten in Karlsruhe in irgendeiner Weise zusammengefasst werden (Laufer 1968: 99, 137f.; Roellecke 2003: 553f.). Das junge Bundesverfassungsgericht geriet durch diese Ortsbestimmung in den Schatten eines starken Obergerichts, das sich als Nachfolger des traditionsreichen Reichsgerichts sah. Seine erste Geschäftsstelle musste sich sogar ihr Inventar vom Bundesgerichtshof ausleihen. Das Bundesverfassungsgericht war gewissermaßen noch nicht es selbst. Seinem ersten Präsidenten war das sehr bewusst. Hermann Höpker-Aschoff, den früheren preußischen Finanzminister, störte auch die räumliche Entfernung von städtischem Leben und politischen Machtzentren. Der urbane Patrizier, Adenauer in Statur und Habitus nicht unähnlich, beklagte in einem amtlichen Schreiben, der Gesetzgeber habe »das Bundesverfassungsgericht in die dörfliche Einsamkeit einer ehemaligen Residenzstadt verbannt«.4)

Kaum war das Bundesverfassungsgericht da, geriet es bereits in seine erste und schwerste Krise. Es wurde sofort in den Streit um die Wiederbewaffnung verwickelt. Unter dem Eindruck des Koreakriegs strebten die USA und die Regierung Adenauer die Wiedererrichtung eines deutschen Militärs im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft an. Wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs löste dieses Vorhaben eine der heftigsten innenpolitischen Kontroversen in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik aus. Dabei ging es auch um Verfassungsrecht. Man stritt über die Frage, ob das Grundgesetz die Wiederbewaffnung ohne vorherige Verfassungsänderung zuließ (Baring 1969: 378ff.; Laufer 1968: 379ff.; Häußler 1994: 28ff.). Der Gutachterstreit darüber unter den Juristen (Institut für Staatslehre 1952/1953/1958) war ebenso erbittert wie die Auseinandersetzung in der breiteren Öffentlichkeit. Es kam zu einem windungsreichen Justizkrimi vor dem Bundesverfassungsgericht, wobei dessen Zwillingsstruktur erstmals unglücklich in Erscheinung trat. Hier spielte eine Rolle, dass der für Grundrechtsfragen zuständige Erste Senat überwiegend mit Richtern besetzt war, die der SPD nahestanden, während die meisten Richter des für Fragen der Staatsorganisation verantwortlichen Zweiten Senats der CDU zuneigten.5) Die Redeweise von einem »roten« und einem »schwarzen« Senat kam auf (Baring 1969: 380). Die SPD versuchte, das Verfahren vor den Ersten Senat zu bringen, während die Unionsparteien den Streit vor dem Zweiten Senat austragen wollten. Das Gericht wies beide Anträge aus prozessualen Gründen ab. Die Verwirrung war komplett, als Bundespräsident Heuss auf Drängen der Bundesregierung überdies, wie damals noch rechtlich möglich, das gesamte Plenum des Gerichts um ein Gutachten in dieser Angelegenheit bat. Die Bundesregierung wollte damit eine Sachentscheidung durch den Ersten Senat verhindern und das Bundesverfassungsgericht zugleich zum bloßen Ratgeber herabstufen. Um seine Autorität zu wahren und ein Auseinanderdividieren seiner Senate zu verhindern, entschied das Gericht nun, dass ein Plenargutachten beide Senate bei künftigen Entscheidungen rechtlich binde.6) Wiederum von Adenauer gedrängt, zog Theodor Heuss daraufhin sein Gutachten-Ersuchen zurück. Die Bundesregierung kritisierte den Beschluss des Gerichts auf das Schärfste. Bundesjustizminister Thomas Dehler sprach sogar davon, das Gericht sei »in einer erschütternden Weise von dem Wege des Rechts abgewichen« und habe »dadurch eine ernste Krise geschaffen« (Baring 1969: 423). Das Bundesverfassungsgericht fand aber einen klaren Rückhalt in der öffentlichen Meinung, was Adenauer zur Distanzierung von Dehler bewegte. Nach der haushoch gewonnenen Bundestagswahl vom September 1953, mit der die bundesdeutsche Wahlgeschichte recht eigentlich erst begann (Falter 1981: 236), verfügte Adenauers Regierungskoalition im Bundestag über eine Zwei-Drittel-Mehrheit. In das Grundgesetz wurden nun entsprechende Klarstellungen eingefügt. 1954 scheiterte die integrierte Europaarmee endgültig in der französischen Nationalversammlung. Zu ei ner Entscheidung des Verfassungsgerichts in der Sache kam es letztlich nie.

Das Gericht hatte eine dramatische Bewährungsprobe bestanden. Geschickt hatte es auf Zeit gespielt und der Versuchung nicht nachgegeben, sich in die politische Auseinandersetzung hineinziehen zu lassen. Zugleich wurden seine Grenzen deutlich. Die außenpolitische Grundsatzentscheidung über die Wiederbewaffnung musste in Bonn fallen, nicht in Karlsruhe. Die Einschaltung des Gerichts machte diese Entscheidung aber für die parlamentarische Minderheit etwas erträglicher. Spätere Entscheidungen des Gerichts zu außenpolitischen Grundsatzfragen, vom Urteil über den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag (1973) und den Maastrichter Vertrag mit der Gründung der Europäischen Währungsunion (1993) bis hin zur Entscheidung über den Vertrag von Lissabon (2009), fügen sich in dieses Muster ein.7) Das Bundesverfassungsgericht stellte sich der parlamentarischen Mehrheit in der Sache nicht in den Weg, machte deren Entscheidung aber durch interpretatorische Einschränkungen – teils sehr fragwürdiger Art – auch für die parlamentarische Opposition oder gesellschaftliche Kritiker annehmbarer.

Inmitten der heftigen Streitigkeiten um die Wiederbewaffnung nahm das Gericht auch noch den Kampf um seinen institutionellen Status auf (Laufer 1968: 278ff.; Lembcke 2007: 91ff.). Es akzeptierte die ihm zugedachte Stellung im Justiz- und Verwaltungsgefüge nicht. Das Gericht stand damals organisatorisch gegenüber der Bundesregierung nicht anders da als andere oberste Bundesgerichte wie etwa sein Karlsruher Nachbar, der Bundesgerichtshof. Es unterlag der Dienstaufsicht des Justizministeriums, wo auch sein Haushalt und sein Personal verwaltet wurden. Schriftverkehr mit den Verfassungsorganen war nur auf dem Dienstweg über das Justizministerium möglich. Im mühsamen Anfangsjahr 1951/52 bedeutete das konkret, dass Karlsruher Umbauarbeiten und Personaleinstellungen in Bonn nur mit langen Verzögerungen bewilligt wurden (Häußler 1994: 23f.). Dem Gericht schien all das mit seiner verfassungsrechtlichen Rolle unvereinbar. Einer der ersten Verfassungsrichter, der Göttinger Staatsrechtler Gerhard Leibholz, verfasste deshalb einen grundlegenden Bericht über den Status des Bundesverfassungsgerichts (Leibholz 1957a). Leibholz war dabei von angelsächsischen Richterbildern mitbeeinflusst, die er in der englischen Emigration kennengelernt hatte (Zweigert 1971: 117; Wiegandt 1995: 303). Sein »Statusbericht« bildete die Grundlage für eine Denkschrift, die das Gericht bereits im Juni 1952 Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung zukommen ließ. Die Denkschrift betonte, das Bundesverfassungsgericht sei ein »mit allen Garantien richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteter, selbständiger Gerichtshof« und »in seiner Eigenschaft als berufener Hüter der Verfassung zugleich ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan«. Als solches stehe es »verfassungsrechtlich dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung ebenbürtig zur Seite« (Bundesverfassungsgericht 1957: 145). Mit dieser Argumentation reizte das Gericht beide Register voll aus, die ihm zur Verfügung standen: Justiz und Politik. Es beanspruchte zugleich alle Privilegien eines Gerichtshofs und alle Vorrechte eines Verfassungsorgans. Das war kühn. Das Gericht legte eine Chuzpe an den Tag, die selbst seinen eigenen Präsidenten zurückschrecken ließ.8) »Statusbericht« und Denkschrift waren ein Akt grundlegender Selbstautorisierung des Bundesverfassungsgerichts.9) In einem Punkt waren sie aber nicht zu widerlegen: Das Verfassungsgericht ist kein Gericht wie andere Gerichte, wie bereits sein besonderes Wahlverfahren anzeigt. Durch diese Nähe zur Politik ist seine Stellung allerdings auch besonders prekär. Dem »Statusbericht« gelang der Geniestreich, aus der politischen Not eine institutionelle Tugend zu machen.

Zwar gab es mancherlei Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Gerichts und auch Kritik von außen.10) Aber das Bundesverfassungsgericht setzte sich durch. Autorität ist nie nur gegeben, sondern stets auch genommen. Die Bundesregierung zeigte sich wohl auch deshalb nachgiebig, weil sie sich das Wohlwollen des Gerichts in den laufenden Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung nicht gänzlich verscherzen wollte (Wesel 2004: 79). Die Unterstellung unter das Justizministerium wurde aufgegeben. Das Gericht bekam seinen eigenen Haushaltstitel und sein eigenes Personal. Es verkehrte von nun an mit den anderen Verfassungsorganen von Gleich zu Gleich. Seine Richter erhielten ein eigenes Amtsverhältnis jenseits des allgemeinen Beam ten- und Richterrechts. Einige Jahre später legten die Verfassungsrichter auch symbolisch die herkömmlichen Roben des deutschen Justizbeamtentums ab. Sie schlüpften in rote Talare von operettenhafter Opulenz, die ein Kostümschneider des Badischen Staatstheaters nach Vorbildern aus dem Florenz des 15. Jahrhunderts für sie entworfen hatte, und verbaten sich informell jedes Schmunzeln der am Gericht akkreditierten Journalisten (Lembcke 2007: 359f.; Wesel 2004: 80; Felz 2008: 249). Als Konsequenz dieser Entwicklung erscheint heute der Präsident des Gerichts bei öffentlichen Feierstunden neben Bundeskanzlerin und Bundespräsident, als sei das völlig selbstverständlich. Das ist es aber keineswegs. Es ist letztlich das Ergebnis einer kühnen Selbstüberhöhung des Gerichts aus dem Jahr 1952.

Innerhalb einer kurzen, konfliktreichen Zeit hatte sich das Gericht etabliert. »Dat ham wir uns so nich vorjestellt«: Adenauers Wort, ob authentisch oder gut erfunden, brachte das treffend zum Ausdruck. Mit dem Bundesverfassungsgericht war zu rechnen.


1)

Ein prominentes Beispiel macht die Problematik anschaulich. In dem sehr heftigen parteipolitischen Streit um die Wahl des ersten Verfassungsgerichtspräsidenten legte Bundeskanzler Adenauer dem späteren ersten Gerichtspräsidenten Hermann Höpker-Aschoff zwischenzeitlich den Verzicht auf die Kandidatur mit dem Hinweis darauf nahe, dass dieser zwischen 1943 und 1945 leitender Mitarbeiter der »Haupttreuhandstelle Ost« gewesen war. Es handelte sich dabei um eine Behörde, die sich mit der Beschlagnahme und Verwaltung polnischer staatlicher und privater Vermögen aus den sogenannten »eingegliederten Ostgebieten« befasst hatte. Adenauer verwies auf die Gefahr entsprechender öffentlicher Kritik (Wengst 1984: 237 mit FN 67; Aders 1994: 304f.).

2)

Die Regelung beruht indirekt auf der grundgesetzlichen Anforderung, dass Bundestag und Bundesrat jeweils die gleiche Zahl von Verfassungsrichtern wählen. Diese föderative Parität bei der Richterwahl legte es wegen der Entscheidung für zwei gleichberechtigte Zwillingssenate nahe, dass jeder Senat eine gerade Zahl von Richtern haben musste. Zu den Problemen einer Stimmengleichheit in den Senaten, bei der nach § 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG ein Verfassungsverstoß nicht festgestellt werden kann: Lortz 2003.

3)

Hierzu Bettermann 1981: 725ff. Diese Praxis hat sich infolge der Zwei-Drittel-Mehrheit herausgebildet, die das Bundesverfassungsgerichtsgesetz seit 1956 für die Richterwahl in Bundestag und Bundesrat verlangt. Hierdurch sind die Richterstellen faktisch zwischen den beiden großen Parteien aufgeteilt (»Erbhöfe«), wobei dem kleineren Koalitionspartner regelmäßig ein Sitz zugestanden wird: Schlaich/Korioth 2010: RN 44f.

4)

Schreiben des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts an den Bundesminister der Justiz vom 13. Oktober 1952, abgedruckt in: Leibholz 1957: 149–156 (156).

5)

Dies ging darauf zurück, dass die Unionsparteien bei der ersten Richterwahl der Tradition der Staatsgerichtsbarkeit folgend den Zweiten Senat für wichtiger hielten, die SPD hingegen die Bedeutung des Ersten Senats höher einschätzte (Wengst 1984: 241, 243).

6)

BVerfGE 2, 79 – Plenarbeschluss Wiederbewaffnung (1952); dazu Wild 2000.

7)

BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag (1973); 89, 155 – Maastricht (1993); 123, 267 – Lissabon (2009).

8)

Höpker-Aschoff distanzierte sich in einem Schreiben an den Justizminister (FN 3) in weitem Umfang von der Denkschrift seines eigenen Gerichts. Zu den damaligen gerichtsinternen Konflikten: Laufer 1968: 282, 309ff.; Spieker 2004: 207ff.

9)

Anregende vergleichende Überlegungen dazu im Hinblick auf den US-amerikanischen Supreme Court und den französischen Conseil constitutionnel bei Herrmann 2006.

10)

So übte ein vom Justizministerium eingeholtes Gutachten des greisen Richard Thoma schärfste Kritik. Der Altmeister des staatsrechtlichen Positivismus der Weimarer Republik schrieb etwa zu der Formulierung im »Statusbericht«, dass das Verfassungsgericht die politischen Wirkungen seiner Entscheidungen einzubeziehen habe, diese Lehre erinnere »peinlich an die von Carl Schmitt erfundene ›situationsgemäße Auslegung‹, die so geschmeidig in die von der siegreichen NSDAP geschaffene Situation hinüberführte« (Thoma 1957: 171; zu Thomas Kritik und der Antikritik des Gerichts näher Lembcke 2007: 95ff.).

II. Leistungen

Das Bundesverfassungsgericht wurde zum Geburtshelfer der zweiten deutschen Demokratie. Das bleibt seine zentrale Leistung. Es ging früh mit aller Konsequenz auf Distanz zum vergifteten Erbe der NS-Zeit, wirkte auf eine grundlegende Liberalisierung der deutschen Rechtsordnung hin und brach Verkrustungen des überkommenen Justizsystems auf.

Das zentrale Instrument dafür waren die im Grundgesetz formulierten Grundrechte. Von Anfang an war das Gericht vor allem ein Grundrechtsgericht. Als Reaktion auf den Nationalsozialismus hatte der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit einem Grundrechtskatalog begonnen, an dessen Spitze die damals neuartige Garantie der Menschenwürde stand. Das Grundgesetz hatte auch von vornherein klargestellt, dass diese Grundrechte nicht nur gegenüber der Verwaltung gelten sollten, sondern auch gegenüber dem Gesetzgeber (Art. 1 Abs. 3 GG). Eine solche Bindung und Kontrolle des Parlaments hatte es in Europa traditionell nicht gegeben. Das Gesetz war unantastbar, und als eigentliche Garantie der Freiheit galten Wahl und Stellung der Volksvertretung selbst. Man schützte Freiheit durch und nicht gegen das Parlament (Schönberger 2011b). Manche europäische Länder wie die Niederlande sehen das bis heute so.

Anders war die Tradition jenseits des Atlantiks. In den Vereinigten Staaten hatten die problematischen Erfahrungen der ehemaligen Kolonien mit dem Parlament im fernen London die Bereitschaft hervorgebracht, auch Gesetze einer richterlichen Kontrolle zu unterwerfen. Schon 1803 hatte der Oberste Gerichtshof dort erstmals die Kompetenz beansprucht, Gesetze wegen Verstoßes gegen die Bundesverfassung unangewendet zu lassen, in seinem berühmten Urteil »Marbury v. Madison«. Vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Supreme Court mit dieser Kontrolle auch für die Grundrechte der ersten zehn Zusatzartikel der Bundesverfassung Ernst gemacht. Er tat dies freilich im Rahmen der Rechtskultur des common law, die dem Richter traditionell eine stärkere Stellung einräumte als in Kontinentaleuropa. Und er nahm diese Grundrechtskontrolle nicht als selbstständiges Verfassungsgericht vor, sondern als Teil seiner allgemeinen höchstrichterlichen Tätigkeit bei der Anwendung des nordamerikanischen Bundesrechts in konkreten Streitfällen (Zweigert 1976: 64ff.; Helms 2006: 53ff.).

In Europa waren es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst Westdeutschland und Italien, die nach der Kriegsniederlage auf die eigene totalitäre Erfahrung in Nationalsozialismus und Faschismus reagierten, indem sie selbstständige Verfassungsgerichte einrichteten und auch das Parlament an Grundrechte banden. Alte Demokratien wie Großbritannien oder Frankreich sahen damals hingegen keinen Anlass für eine derartige Einschränkung der parlamentarischen Gestaltungsfreiheit (Ferejohn/Pasquino 2004: 1674). Wie man sich freilich die neuartige umfassende Bindung der gesamten Staatsgewalt an die Grundrechte denken sollte, darüber hatte es im Parlamentarischen Rat keine klaren Vorstellungen gegeben (Bumke 1998: 124ff.). Auch die Frage, ob der Einzelne eine Möglichkeit erhalten sollte, Grundrechtsverstöße unmittelbar vor dem Bundesverfassungsgericht zu rügen, war dort nicht beantwortet worden. Insbesondere die Option, auch Gerichtsurteile vor dem Bundesverfassungsgericht anzugreifen, stieß auf Kritik, weil sie tief in die Sphäre der traditionellen Justiz eingriff. Schließlich einigten sich Regierung und Opposition aber in den Bundestagsberatungen über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz darauf, eine Verfassungsbeschwerde einzuführen. Willi Geiger, ein zwischen früher NS-Karriere und katholischem Naturrecht schillernder Justizjurist, der damals für das Bundesjustizministerium die Gesetzesberatungen begleitete und kurz darauf selbst für eine Rekordzeit von 27 Jahren Verfassungsrichter wurde, hielt die Verfassungsbeschwerde für rechtsstaatlich unabdingbar (Geiger 1952: 272ff.; zur Person: Godau-Schüttke 2008: 203ff.). Ebenso dachte der SPD-Kronjurist Adolf Arndt, der zuvor bereits eine ähnliche Beschwerdemöglichkeit zum hessischen Staatsgerichtshof mitgeprägt hatte (Gosewinkel 1991: 200). Seither kann jeder Bürger gegen alle Akte öffentlicher Gewalt Verfassungsbeschwerde einlegen. Das junge Gericht wurde sofort mit derartigen Beschwerden überschüttet, und die Klage über seine Überlastung begann (Zweigert 1952). Dabei ist es bis heute geblieben. Der Gang nach Karlsruhe wurde sprichwörtlich (Wesel 2004). Die damit verbundenen Probleme ahnte Gerichtspräsident Höpker-Aschoff in seiner Ansprache zur Eröffnung des Gerichts im September 1951 bereits voraus: »An uns wenden sich nicht nur diejenigen, die sich in ihren Grundrechten verletzt glauben, sondern viele, die in einer Not Hilfe oder Milde und Gnade begehren. Enttäuschungen werden nicht ausbleiben« (Höpker-Aschoff 1951: 20).

Mit seiner Grundrechtsrechtsprechung trug das Gericht zu einer grundlegenden Liberalisierung der deutschen Gesellschaft bei (Herbert 2006: 96ff.; Bryde 2006: 322ff.). Schon in den fünfziger Jahren traf es Entscheidungen, die die deutsche Rechtsordnung tiefgreifend umgestalteten. Diese liberalisierende Wirkung hatte es auch auf die deutsche Staatsrechtslehre, die dem neuen Grundgesetz zunächst sehr distanziert gegenüberstand (Günther 2006: 135). Das Gericht hatte es dabei immer wieder auch und gerade mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und deren Fortwirken in die Gegenwart zu tun und setzte sich von ihr mit größter Entschiedenheit ab. Anders als die reguläre Justiz, deren Richter überwiegend bereits im nationalsozialistischen Deutschland Recht gesprochen hatten (Godau-Schüttke 2008) und sich häufig noch an kulturellen Leitbildern aus dem deutschen Kaiserreich orientierten, war das Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner Traditionslosigkeit unbelastet. In seinen Reihen fanden sich auffallend viele Gegner des NS-Regimes, die das Dritte Reich in Ausweichstellungen überdauert hatten, im Widerstand oder Exil gewesen waren (Ley 1982: 532; Wengst 1984: 243f.). Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für eine verselbstständigte Verfassungsgerichtsbarkeit wirkte sich besonders in den Anfangsjahren des Gerichts als merklicher Abstand zu den juristischen Eliten in Verwaltung, Gerichtsbarkeit und Universitäten aus. Sehr viel stärker als heute stand das Bundesverfassungsgericht damals vor allem in Distanz zur herkömmlichen Justiz.

Das zeigte sich schon in der eigentlichen grundrechtlichen Leitentscheidung des Gerichts, dem »Lüth-Urteil« aus dem Jahr 1958 (Henne/Riedlinger 2005; Harlan 2011).11) Hier ging es um einen Boykottaufruf des Hamburger Senatsdirektors Erich Lüth gegen einen Film des Regisseurs Veit Harlan, der in der Zeit des Nationalsozialismus den antisemitischen Propagandafilm Jud Süß gedreht hatte. Die Zivilgerichte hatten einer Unterlassungsklage des Verleihers des Harlan-Films gegen Lüth stattgegeben. Das Bundesverfassungsgericht entschied hingegen, Lüths Boykottaufruf sei durch die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes gedeckt. Es ging damit über die traditionelle Auffassung hinaus, dass Grundrechte nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürger Geltung hätten, und betonte stattdessen die Bedeutung der Grundrechte bei der Interpretation der gesamten Rechtsordnung. Teilweise in Einklang mit zeitgenössischen naturrechtlichen Ideen sprach das Gericht davon, die Grundrechte hätten ein »Wertsystem« aufgerichtet, das überall im Recht Beachtung verlange. Das war nicht unproblematisch. Das Gericht interpretierte den fragmentarischen Text des Grundgesetzes auf diese Weise als geschlossenes System,12) und eine derartige Deutung konnte auch schnell bevormundend werden.13) Die Verwendung ähnlicher Formeln in den Urteilen des Gerichts zum Verbot verfassungswidriger Parteien – 1952 gegen die rechtsradikale SRP, 1956 gegen die KPD14) – zeigte dieses Potenzial bereits in den fünfziger Jahren anschaulich. Die Stoßrichtung des Gerichts war jedoch überwiegend eine andere. Von den Grundrechten her deutete es die bestehenden Gesetze, die meist noch aus dem deutschen Kaiserreich stammten, in einer liberalen Perspektive um. Die neue Hochschätzung der Meinungsfreiheit und damit der offenen, auch scharfen öffentlichen Auseinandersetzung brach deutlich mit autoritären Traditionen (Herbert 2006: 98f.). Nicht zufällig untermauerte das Gericht seine Argumentation im »Lüth-Urteil« mit einem Satz eines bedeutenden amerikanischen Oberrichters, den es in engli scher Sprache zitierte. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung galt ihm als »die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, ›the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom‹ (Cardozo)«.15) Bei aller Pathetik brachte das Gericht hier auch stilistisch ein wenig amerikanische Lässigkeit in die deutsche Justizprosa. Das Thema der Sicherung einer freien öffentlichen Debatte blieb ein Leitthema des Gerichts bis hin zu seiner spektakulären Verwerfung der von der Regierung Adenauer geplanten Deutschland-Fernsehen GmbH (1961) und seinem Urteil zur Spiegel-Affäre (1966).16)

Es entwickelte rasch auch Standards für eine inhaltliche Prüfung von Gesetzen an den Grundrechten, die sich in Anlehnung an das ältere Polizeirecht zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verdichteten. So leitete das Gericht im »Apotheken-Urteil«1958 aus der Berufsfreiheit des Grundgesetzes Maßstäbe für den Schutz gegen wirtschaftlichen Dirigismus und Protektionismus ab.17) Das deutsche Wirtschaftsverwaltungsrecht kannte damals noch vielfach sogenannte Bedürfnisklauseln. Diese Klauseln machten die Ausübung bestimmter Berufe von einer behördlichen Zulassung abhängig, um eine allzu starke Konkurrenz auf bestimmten Berufsfeldern zu verhindern. Sie standen in einer langen Tradition obrigkeitlicher Fürsorge, jener »väterlichen, alles bevormundenden Vielgeschäftigkeit« deutscher Verwaltungen, über die schon Heinrich von Treitschke gespottet hatte (Treitschke 1864: 83). Das Bundesverfassungsgericht erklärte eine derartige Bedürfnisklausel im bayerischen Apothekengesetz für nichtig. Es war aus seiner Sicht mit der Berufs freiheit regelmäßig unvereinbar, die bereits Berufstätigen durch Bedürfnisklauseln vor Konkurrenz zu schützen.18) Die Liberalisierung durch die Grundrechtsrechtsprechung war also nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch. Ausgehend von seinen Grundsatzentscheidungen aus den späten fünfziger Jahren hat das Gericht gerade auf dem Feld der Grundrechte auch später immer wieder Akzente gesetzt, die manchmal ins Allgemeinbewusstsein eingingen. Zu diesen Entscheidungen gehört etwa das »Volkszählungsurteil« aus dem Jahr 1983,19) in dem das Gericht ein im Licht späterer Entwicklungen geradezu prophetisches Recht auf informationelle Selbstbestimmung entwickelte.

Besonders wichtig waren neben den Freiheits- auch die Gleichheitsfragen. In einer gesellschaftlich noch vergleichsweise konservativen Zeit trieb das junge Bundesverfassungsgericht insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau voran, wobei die einzige Frau im Gericht, Erna Scheffler, eine bedeutsame Rolle spielte (Henne 2006; Waldhoff 2008). Es setzte sich dabei gegen den heftigen Widerstand des Bundesgerichtshofs durch, der einem naturrechtlich aufgeladenen, traditionellen Familienbild verpflichtet blieb.20) So verwarf das Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1959 den Stichentscheid des Ehemanns, den das Bürgerliche Gesetzbuch bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Ehegatten in Fragen der Kindererziehung vorgesehen hatte. Damit erklärte es zugleich die naturrechtlichen Argumentationsmuster der Nachkriegszeit für verfassungsrechtlich irrelevant.21)

Wie ambivalent die Aktivierung der Grundrechte gelegentlich war, zeigt allerdings anschaulich das »Elfes-Urteil« des Gerichts aus dem Jahr 1957.22) Es ist eine der grundlegenden Entscheidungen des Gerichts, weil seine Ausdeutung von Art. 2 Abs. 1 GG dazu führt, dass jedes menschliche Verhalten, das nicht von spezielleren Grundrechten geschützt ist, jedenfalls über diese Vorschrift grundrechtlichen Schutz genießt und mit der Verfassungsbeschwerde verteidigt werden kann. Wilhelm Elfes, ein Zentrumspolitiker der Weimarer Zeit, war nach dem Krieg Oberstadtdirektor von Mönchengladbach geworden. Er gehörte innerhalb der CDU zu den Gegnern von Adenauers Politik der Westintegration und Wiederbewaffnung, die er als Entfernung vom Ziel der deutschen Einheit ansah. Elfes unterhielt Kontakte zur SED und vertrat seine pazifistische Grundsatzkritik öffentlich im In- und Ausland. 1953 wurde ihm die Verlängerung seines Passes mit der Begründung versagt, er gefährde erhebliche Belange der Bundesrepublik. Die Gerichte bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht bestätigten die Entscheidung. Das Bundesverfassungsgericht wies die von Elfes erhobene Verfassungsbeschwerde zurück. Zwar erweiterte es bei die ser Gelegenheit seine Deutung von Art. 2 Abs. 1 GG dahingehend, dass jedes menschliche Verhalten und damit auch die Ausreise aus dem Bundesgebiet davon erfasst war. Es bestätigte jedoch die Verfassungsmäßigkeit der Passversagung in der Sache. Das war sicherlich ein Urteil aus dem Geist des Kalten Krieges (Fiedler 2000: 83). Aber es bleibt doch eigenartig, dass eines der grundlegenden Freiheitsurteile des Gerichts zum Ergebnis hatte, dass ein Deutscher, der ins Ausland reisen wollte, um dort seine Meinung zu sagen, von deutschen Behörden und Gerichten daran mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts gehindert werden konnte.

In das Gesamtpanorama einer schrittweisen Liberalisierung des deutschen Rechts und der deutschen Gesellschaft über die verfassungsrichterliche Aktivierung der Grundrechte des Grundgesetzes gehört auf andere Weise auch das frühe Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage des Fortbestehens der Beamtenverhältnisse nach Art. 131 GG aus dem Jahr 1953.23) Das Gericht hatte über Verfassungsbeschwerden früherer Beamter zu entscheiden, die überwiegend entnazifiziert und nicht wiederverwendet worden waren. Diese wandten sich gegen das Ausführungsgesetz zu Art. 131 GG, das die Rechtsverhältnisse von Personen regelte, die nach dem 8. Mai 1945 aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden waren. Das kompromisshafte Gesetz war durchaus großzügig, gewährte es doch den stellungslosen Beamten überwiegend einen Wiedereinstellungsanspruch und ein Übergangsgehalt. Es befriedigte aber natürlich längst nicht alle Wünsche und Bedürfnisse früherer Beamter, die ihre Entlassung wegen NSDAP-Mitgliedschaft meist für rechtswidrig hielten und eine volle Gehalts- bzw. Pensionsnachzahlung forderten. Ihr Anliegen wurde vom Bundesgerichtshof unterstützt, der das Gesetz deshalb für verfassungswidrig hielt, weil er die Beamtenrechte als Teil einer überpositiven naturrechtlichen Eigentumsgarantie verstand. Das Bundesverfassungsgericht reagierte darauf mit ebenso kühler wie provokativer Radikalität. Es begründete die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu Art. 131 GG Lange bevor die -Vergangenheit die deutsche Öffentlichkeit Ende der fünfziger Jahre wieder verstärkt zu beschäftigen begann, zog das junge Bundesverfassungsgericht hier bereits eine scharfe Trennlinie.