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Murray Bookchin

Die nächste Revolution

Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken

Mit einem Vorwort von Ursula K. Le Guin

Herausgegeben und eingeleitet von

Debbie Bookchin und Blair Taylor

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von

Sven Wunderlich

U N R A S T

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Murray Bookchin: Die nächste Revolution
ebook UNRAST Verlag, August 2016
ISBN 978-3-95405-023-9

© UNRAST Verlag, Münster 2015
Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. (0251) 66 62 93
info@unrast-verlag.de | www.unrast-verlag.de
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Erstveröffentlichung 2015 bei Verso, London
© Murray Bookchin Trust 2015
Vorwort © Ursula K. Le Guin 2015
Einleitung © Debbie Bookchin and Blair Taylor 2015

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Vorwort – Ursula K. Le Guin

Einleitung – Debbie Bookchin und Blair Taylor

Das kommunalistische Projekt (November 2002)

Die Umweltkrise und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Erneuerung (Januar 1992)

Eine Politik des 21. Jahrhunderts (August 1998)

Die Bedeutung des Konföderalismus (November 1990)

Dezentralisierung und Selbstversorgung

Probleme der Dezentralisierung

Konföderalismus und gegenseitige Abhängigkeit

Die Konföderation als duale Gegenmacht

Libertärer Munizipalismus: Eine Politik der direkten Demokratie (Oktober 1991)

Städte: Die Entfaltung der Vernunft in der Geschichte (September 1995)

Nationalismus und die ›nationale Frage‹ (März 1993)

Ein Überblick über die Geschichte

Nationalismus und Linke

Zwei Grundgedanken über die nationale Frage

Nationalismus und Zweiter Weltkrieg

Der Kampf um ›nationale Befreiung‹

Ein neuer Internationalismus

Die Suche nach einer Alternative

Anarchismus und Macht während der Spanischen Revolution (November 2002)

Die Zukunft der Linken (Dezember 2002)

Danksagung

Für Bea Bookchin

Vertraute, intellektuelle Partnerin und liebste Freundin
Murray Bookchins für mehr als fünfzig Jahre

Vorwort

von Ursula K. Le Guin

Seit der Französischen Revolution ist ›links‹ ein bedeutungsvoller Begriff, der mit dem Aufschwung des Sozialismus, des Anarchismus und des Kommunismus größere Relevanz erlangte. Die Russische Revolution brachte eine Regierung an die Macht, die ihrer eigenen Konzeption nach gänzlich links war; links- und rechtsgerichtete Bewegungen rissen Spanien auseinander; demokratische Parteien in Europa und Nordamerika stellten sich zwischen diesen beiden Polen auf; liberale Karikaturist_innen stellten ihre Kontrahenten als fette Plutokraten mit Zigarre dar; Reaktionäre in den Vereinigten Staaten dämonisierten seit den 1930er Jahren und während des gesamten Kalten Krieges ›kommunistische Linke‹. Auch wenn der Gegensatz zwischen links und rechts häufig zu stark vereinfacht war, findet er seit zwei Jahrhunderten breite Verwendung, um ein dynamisches Gleichgewicht abzubilden und weiterzuführen.

Im 21. Jahrhundert sind beide Begriffe weiterhin gebräuchlich, doch was liegt links vom Linken? Revolutionäre Gedanken scheinen heute angestaubt, überflüssig oder illusorisch, weil der Staatskommunismus scheiterte, weil etwas Sozialismus stillschweigend in demokratischen Regierungen verankert wurde und weil die Politik sich – angetrieben durch den Konzernkapitalismus – unablässig nach rechts bewegt. Die Linke ist in ihren Gedanken marginalisiert, in ihren Zielen gespalten und unsicher, ob sie sich zu vereinigen vermag. Besonders in den Vereinigten Staaten war der Sog nach rechts so stark, dass inzwischen sogar der Liberalismus als jenes terroristische Schreckgespenst herhalten muss, das der Anarchismus und der Sozialismus einst verkörperten. Reaktionäre hingegen werden heute ›gemäßigt‹ genannt.

Wie fügt sich in einem Land wie den Vereinigten Staaten – das über alles verfügt, jedoch sein linkes Auge verschlossen hält und immer nur seine rechte Hand einsetzen will – ein revolutionäres Urgestein wie Murray Bookchin ins Bild, der beide Hände benutzt und mit beiden Augen sieht?

Bookchin wird einen Kreis von Lesern finden. Viele Menschen suchen nach schlüssigen, produktiven Gedanken, die als Ausgangspunkt von Handlungen dienen können – eine frustrierende Suche. Vielversprechend erscheinende theoretische Ansätze, wie jene der Libertarian Party, erweisen sich als noch langweiliger als Ayn Rand; unmittelbare und effektive Lösungen für bestimmte Probleme, wie jene der Occupy-Bewegung, erweisen sich als zu unstrukturiert und haben auf lange Sicht zu wenig Durchhaltevermögen. Junge Menschen, die in unserer Gesellschaft schamlos ausgenutzt und betrogen werden, halten Ausschau nach klugen, realistischen und nachhaltigen Ideen – nicht nach einer weiteren aufgeblasenen Ideologie, sondern nach einer praktischen Arbeitsthese, nach einem Weg, um die Kontrolle über ihre Zukunft zurückzugewinnen. Um eine solche Kontrolle zu erreichen, wird eine gewaltige Revolution erforderlich sein, die die Gesellschaft als Ganze tiefgreifend beeinflusst und sie in eine Kraft verwandelt, die nutzbar gemacht werden kann.

Murray Bookchin war Experte für gewaltlose Revolutionen. Zeit seines Lebens dachte er über geplante und ungeplante radikale Veränderungen der Gesellschaft nach, und darüber, wie man sich darauf vorbereiten könnte. Das vorliegende Buch führt seine Ideen nach seinem Leben weiter, in jene bedrohliche Zukunft hinein, der wir heute entgegensehen.

Ungeduldige und idealistische Leser könnten seine Gedanken als unangenehm hartnäckig empfinden. Er ist nicht bereit, die Realität beiseite zu schieben und sich in Träume über einen glücklichen Ausgang zu flüchten. Er hat wenig Verständnis für bloße Gesetzesübertretungen, die vorgeben, politische Handlungen zu sein: »Eine ›Politik‹ des Chaos, ein ›kreatives Durcheinander‹ oder einfältige Aktionen wie die ›Übernahme der Straßen‹ (gewöhnlich kaum mehr als Straßenkarneval), reduzieren die Teilnehmer_innen auf das Verhalten einer kindischen Herde.« Das gilt natürlich mehr für den Summer of Love als für die OccupyBewegung, dient uns jedoch als ständig notwendige Warnung. Bookchin ist jedoch kein unerbittlicher Puritaner. Ich las ihn zum ersten Mal, als er noch Anarchist war – der wahrscheinlich wortgewandteste und nachdenklichste seiner Generation –, und während er sich vom Anarchismus wegbewegte, verlor er nichts von seiner Freude an der Freiheit. Er wollte nicht miterleben, wie diese Freude und diese Freiheit einmal mehr unter den Ruinen ihrer eigenen euphorischen Nichtverantwortlichkeit begraben werden.

Alle Gedanken über Politik und Gesellschaft sind letztlich gewiss mit jener ungeheuerlichen Tatsache konfrontiert, von der uns die Wissenschaft seit 50 Jahren zu überzeugen versucht, während die Technologie uns immer mehr davon abgelenkt hat – die unumkehrbare Zerstörung der Umwelt durch den ungebremsten Industriekapitalismus. Alle Vorteile, die Industrie und Kapitalismus uns brachten – all die wunderbaren Fortschritte des Wissens, der Medizin, der Kommunikation und des Komforts – werfen denselben unheilvollen Schatten. All die Dinge, die wir besitzen, haben wir der Erde genommen; und weil wir sie uns immer schneller und gieriger genommen haben, geben wir ihr außer vielem Unfruchtbaren und Vergifteten wenig zurück. Doch der Vorgang ist unaufhaltbar. Eine kapitalistische Ökonomie lebt per se von ihrem Wachstum; so bemerkt Bookchin: »Würde der Kapitalismus von seiner gedankenlosen Expansion ablassen, beginge er sozialen Selbstmord.« Im Grunde haben wir als Leitbild für unser Gesellschaftssystems ein Krebsgeschwür gewählt.

Der kapitalistische ›Wachse-oder-stirb‹-Imperativ steht radikal im Widerspruch zum ökologischen Imperativ der Unabhängigkeit und Begrenzung. Beide können nicht länger nebeneinander existieren, und keine Gesellschaft, die auf dem Mythos des Einklangs dieser beiden Imperative aufgebaut ist, kann zu überleben hoffen. Ohne die Errichtung einer ökologischen Gesellschaft wird die Gesellschaft für alle von uns untergehen, ungeachtet der Position in der Gesellschaft.

Murray Bookchin verbrachte sein ganzes Leben damit, dieser räuberischen Gesinnung des ›Wachse-oder-stirb‹-Kapitalismus entgegenzutreten. Die neun Essays in diesem Buch verkörpern die Krönung seines Werks: die theoretische Grundlage für eine egalitäre, ökologische Gesellschaft mit direkter Demokratie, sowie eine praktische Möglichkeit zu ihrer Errichtung. Er kritisiert die Versäumnisse früherer Bewegungen, die für gesellschaftlichen Wandel eintraten, und erweckt das Versprechen einer direkten Demokratie neu zum Leben. Im letzten Essay beschreibt er seine Hoffnung, dass wir die Krise der Umwelt in eine echte Wahlmöglichkeit verwandeln könnten – eine Gelegenheit, die lähmenden, in der Unterteilung nach Geschlechtern, ›Rassen‹, Klassen und Nationen herrschenden Hierarchien zu überwinden und eine revolutionäre Heilmethode für die Grundübel unseres Gesellschaftssystems zu finden. Ich war bewegt und dankbar, Bookchins Essays zu lesen, wie es bei seinen Werken so oft der Fall gewesen ist. Seine Achtung vor klarem Denken und moralischer Verantwortung und seine aufrichtige, unnachgiebige Suche nach praktikablen Auswegen machen ihn zu einem echten Nachfolger der Aufklärung.

Einleitung

Die moderne Welt ist nicht mit einer, sondern gleich mit einer Serie zusammenhängender Krisen konfrontiert – in der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Umwelt. Der Beginn dieses Jahrtausends war von einem wachsenden Graben zwischen arm und reich geprägt und die Gesellschaft hat inzwischen eine so beispiellose Ungleichheit erreicht, dass die Erwartungen und Aussichten einer ganzen Generation geschmälert und verdüstert wurden. Die bisherige gesellschaftliche Entwicklung im neuen Jahrhundert war trostlos – besonders in den Schwellenländern, wo ganze Landstriche durch sektiererische Gewalt im Namen von Religionen, Stammeszugehörigkeiten und Nationalismus in unerträgliche Kriegsgebiete verwandelt wurden. Zugleich hat sich die Umweltkrise so rasant verschärft, dass selbst die bedrückendsten Vorhersagen noch übertroffen werden: Globale Erwärmung, steigende Meeresspiegel, Luft-, Boden- und Meeresverschmutzung und die Zerstörung großflächiger Regenwaldgebiete haben sich derart alarmierend beschleunigt, dass die Umweltkatastrophe, die angeblich erst irgendwann im nächsten Jahrhundert ernsthafte Ausmaße annehmen sollte, jetzt zu einem vorrangigen und drückenden Anliegen der heutigen Generation geworden ist.

Trotz dieser sich weiter und weiter verschärfenden Krise ist die perverse Logik des neoliberalen Kapitalismus so tief in uns verwurzelt, dass – obwohl dieser 2008 eindrucksvoll zusammenbrach – als einzig denkbare Antwort noch mehr Neoliberalismus vorstellbar ist: Die Ergebenheit gegenüber Konzern- und Finanzeliten wächst, und diese Eliten setzen auf Privatisierung, kürzen öffentliche Dienstleistungen in hohem Maße und geben dem Markt als angeblich einzigem Ausweg freie Verfügungsgewalt. Es war vorhersehbar, dass dadurch die politische Entmündigung zunehmen und die Wahlpolitik jeder echten Debatte und Entscheidungsmöglichkeit beraubt werden würde – in Argentinien, Italien, Deutschland, den Vereinigten Staaten und anderswo übte man sich in Selbstdarstellung. Doch während die Eliten in Politik und Wirtschaft weiterhin beharrlich behaupten, es gebe ›keine Alternative‹, und zynisch weiter auf die herrschende Austeritätspolitik setzen, traten Aktivist_innen überall auf der Welt den etablierten Überzeugungen mit einer neuen Politik entgegen und forderten umfassendere Demokratie. Von New York über Kairo bis nach Istanbul und Rio de Janeiro erschlossen Bewegungen wie Occupy Wall Street und die spanischen indignados neue Räume und setzten sich für eine Politik ein, die sich über die bestehende Ordnung hinwegsetzt und die kapitalistische Ungleichheit und die erstarrten ›repräsentativen‹ Demokratien kritisiert. Ihre Ansichten und Forderungen sind zahlreich, doch ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist ein direkter Angriff auf die vorherrschende politische Gesinnung, bei der die Wirtschafts- und Sozialpolitik gewählter Regierungen – linker, rechter wie mittiger – zu einem nicht mehr unterscheidbaren Konsens verschwommen sind. Diese Regierungen verändern nur Kleinigkeiten und unterwerfen sich blind dem globalen Kapitalismus. Die Bewegungen haben auf breiter Front Begeisterung hervorgerufen, Millionen weltweit zu großangelegten Massenkundgebungen gezogen und einmal mehr die Hoffnung belebt, dass auf der Straße die Flamme einer neuen revolutionären Bewegung in der Bevölkerung entfacht werden kann.

Trotz dieser beflügelten Widerstandsmomente ist die revolutionäre Demokratie, die auf öffentlichen Plätzen von Zuccotti bis Taksim geschmiedet wurde, noch nicht in eine realisierbare politische Alternative gegossen worden. Die Begeisterung und die Solidarität von unten müssen sich noch zu einer politischen Praxis verbinden, die die herrschenden repressiven Kräfte beseitigen kann und sie durch eine visionäre, egalitäre – und vor allem erreichbare – neue Gesellschaft ersetzt. Murray Bookchin setzte sich mit eben dieser Notwendigkeit direkt auseinander und bietet eine Vision des Wandels und eine neuartige politische Strategie für eine wirklich freie Gesellschaft – ein Projekt, das er als ›Kommunalismus‹ bezeichnet.

Als produktiver Autor, Essayist und Aktivist widmete Bookchin sein Leben der Schaffung einer neuartigen linken Politik, die sich an die Interessen von Bewegungen richtet wie auch an die verschiedenen sozialen Probleme, mit denen sie konfrontiert sind. Der Kommunalismus geht über bloße Kritik hinaus und unterbreitet eine Vision für den Neuaufbau einer grundlegend anderen Gesellschaft – eine antikapitalistische, ökologische Gesellschaft mit direkter Demokratie, die jede Art der Beherrschung ablehnt und Freiheit in Volksversammlungen realisiert, die in Konföderationen miteinander verbunden sind. Durch die Befreiung des revolutionären Projekts vom Makel des Autoritären und des vermeintlichen ›Endes der Geschichte‹ befördert der Kommunalismus eine kühne Politik, die vom Widerstand zur sozialen Umgestaltung übergeht.

Wie Bookchins Verwendung des Begriffs ›Kommunalismus‹ zeigt, gelangte er nach sechs Jahrzehnten seiner Tätigkeit als Aktivist und Theoretiker schließlich zu einer Philosophie des sozialen Wandels, die durch sein linkes politisches Leben geprägt war. 1921 geboren, wurde er im Alter von neun Jahren zum Revolutionär, als er sich den Young Pioneers anschloss, einer kommunistischen Jugendorganisation in New York. Ende der 1930er Jahre wurde er Trotzkist, und von 1948 an verbrachte er zehn Jahre bei der libertär-sozialistischen Gruppe Contemporary Issues, die die orthodoxe marxistische Ideologie fallengelassen hatte. Ende der 1950er Jahre begann er, über die Bedeutung der Umweltzerstörung als Symptom tief verwurzelter sozialer Probleme nachzudenken. Bookchins Werk darüber, Our Synthetic Environment, erschien sechs Monate vor Rachel Carsons Buch Der stumme Frühling und sein bahnbrechendes Pamphlet aus dem Jahr 1964, Ecology and Revolutionary Thought, brachte der Neuen Linken die politische Dimension der Ökologie nahe. Die wegweisende Zusammenführung des Anarchismus, der Ökologie und der Dezentralisierung in diesem Essay war die erste, welche die ›Wachse-oder-stirb‹-Logik des Kapitalismus mit der ökologischen Zerstörung des Planeten in Zusammenhang brachte und ein grundlegend neues Verständnis über den Einfluss des Kapitalismus auf die Umwelt und auf soziale Beziehungen aufzeigte. Sein Essay Post-Scarcity Anarchism (›Anarchismus jenseits des Mangels‹) von 1968 formte die anarchistische Theorie für ein neues Zeitalter um und bot eine stimmige Grundstruktur für die Neugestaltung der Gesellschaft nach ökologisch-anarchistischem Vorbild. Als die politische Gruppe Students for a Democratic Society (SDS) auf ihrer letzten Tagung im Jahr 1969 dem marxistischen Sektierertum verfiel, verteilte Bookchin sein Pamphlet Hör zu Marxist!, worin er die rückschrittliche Hinwendung verschiedener Splittergruppen des SDS zum dogmatischen Marxismus kritisierte. Er trat für eine alternative anarchistische Politik mit direkter Demokratie und Dezentralisierung ein – Gedanken, die unter den Trümmern dieser zerfallenden Organisation begraben wurden, zugleich aber in Bewegungen Widerhall fanden, die schließlich in der Linken vorherrschend werden sollten. Seine Essays aus dieser Periode, die ursprünglich in der Zeitschrift Anarchos erschienen – einer Gruppe in New York, die Bookchin Mitte der 1960er Jahre mitbegründet hatte –, wurden 1971 im Sammelband Post-Scarcity Anarchism zusammengeführt, der einen tiefgreifenden Einfluss auf die Neue Linke ausübte und zu einer klassischen Darstellung des Anarchismus im 21. Jahrhundert werden sollte.

Bookchin verfasste 23 Werke über Geschichte, politische Theorie, Philosophie und städtische Analyse und griff dabei auf eine reichhaltige intellektuelle Tradition zurück, von Aristoteles, Hegel und Marx bis zu Karl Polanyi, Hans Jonas und Lewis Mumford. In seinem Hauptwerk Die Ökologie der Freiheit. Wir brauchen keine Hierarchien (1982; dt. 1985) zeigte er die geschichtlichen, anthropologischen und sozialen Wurzeln von Hierarchie und Herrschaft auf, sowie deren Folgen für unsere Beziehung zur Natur, die er in seiner umfangreichen Theorie der ›sozialen Ökologie‹ formulierte. Er hinterfragte und beeinflusste jede bedeutende Persönlichkeit dieser Periode, von Noam Chomsky über Herbert Marcuse bis hin zu Daniel Cohn-Bendit und Guy Debord.

1974 trat Bookchin als Mitbegründer des Institue for Social Ecology (ISE) in Erscheinung, einem einzigartigen Bildungsprojekt in Vermont, wo Kurse in politischer Theorie und revolutionärer Geschichte sowie praktische ökologische Initiativen von biologischer Landwirtschaft bis zur Solarenergiegewinnung angeboten wurden. Er übte bedeutende Einflüsse auf ähnliche Bewegungen in Gestalt von gewaltfreien Protestaktionen, Friedensbewegungen, revolutionärem Feminismus und Ökologie aus, welche zu den Neuen Sozialen Bewegungen der späten 1970er und der 1980er Jahre zählten. Bookchin knüpfte dabei an seine eigenen Hintergründe als Aktivist an – er war abwechselnd als junger Straßenagitator, Betriebsrat in der Automobilindustrie und als ziviler Bürgerrechtsorganisator für CORE (Congress of Racial Equality) tätig gewesen – und spielte bei der Anti-Atomkraftorganisation Clamshell Alliance und bei der Errichtung des Left Green Network eine führende Rolle. Barbara Epstein schrieb in ihrem Buch Political Protest and Cultural Revolution: Nonviolent Direct Action in the 1970s and 1980s Bookchin das Verdienst zu, in den USA die Idee autonomer Bezugsgruppen eingeführt und die kritische Theorie von Theodor Adorno und Max Horkheimer bekannt gemacht zu haben. Seine Gedanken über eine partizipatorische direkte Demokratie, über Vollversammlungen und Konföderationen wurden als Grundverfahren zur Organisation und Beschlussfassung von großen Teilen der Anti-Atomkraftbewegung weltweit übernommen, und später auch von der Anti-Globalisierungsbewegung, die diese Verfahren verwendete, um in ihrer Organisation und ihren Entscheidungsprozessen demokratische Abläufe sicherzustellen. Bookchin korrespondierte und traf sich zudem mit führenden Parteimitgliedern der deutschen Grünen und war eine entscheidende Stimme während der Auseinandersetzungen zwischen Realos und Fundis darüber, ob die Grünen eine Bewegung bleiben oder zu einer konventionellen Partei werden sollten. Seine Werke wurden in aller Welt gelesen und in Europa, Lateinamerika und Asien übersetzt und nachgedruckt.

In den 1980er und 1990er Jahren war Bookchin zentrale Bezugsperson für Anhänger_innen der kritischen Theorie wie Cornelius Castoriadis und schrieb regelmäßig für die einflussreiche Zeitschrift Telos. Er beteiligte sich an lebhaften Diskussionen mit bekannten ökologischen Denker_innen wie Arne Naess oder David Foreman. Währenddessen spielte das Institute for Social Ecology eine bedeutende Rolle bei der Anti-Globalisierungsbewegung, die 1999 in Seattle begann. Es wurde zu einem Ort für die Gedanken von Aktivist_innen, befürwortete direkte Demokratie und Antikapitalismus gegenüber reformistischen Anti-Konzern-Kontroversen vieler Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und setzte zahlreiche linkslibertäre und ökologische Projekte in Gang. Mitte der 1990er Jahre veranlassten Bookchin jedoch einige Tendenzen des Anarchismus hin zum Primitivismus, zur Lifestyle-Politik und ihre Abkehr von der Organisationsfrage zunächst dazu, zum sozialen Anarchismus zurückzukehren, bevor er am Ende gänzlich mit der anarchistischen Tradition brach. Bookchin verbrachte, während er über seine lebenslangen Erfahrungen in der Linken nachdachte, die letzten 15 Jahre seines Lebens vor seinem Tod 2006 mit der Arbeit an einer umfangreichen vierbändigen Studie über Revolutionsgeschichte mit dem Titel The Third Revolution, in der er scharfsinnige Überlegungen über das Versagen revolutionärer Bewegungen – von Bauernaufständen bis hin zu modernen Rebellionen – bzgl. des Erreichens eines dauerhaften sozialen Wandels anstellte. Seine Einsichten inspirierten zu einer neuen politischen Perspektive, von der er hoffte, dass sie die Fallen der Vergangenheit umgehen und zu einer neuen Art fortschrittlicher Praxis führen könne – dem Kommunalismus.

Während dieser Zeit veröffentlichte Bookchin viele der hier vorliegenden Essays, in denen er das Projekt des Kommunalismus in seiner unmittelbaren politischen Dimension – dem libertären Munizipalismus – formell ausarbeitete. Eine kommunalistische Politik zeigt einen Weg aus der wohlbekannten Unvereinbarkeit zwischen den anarchistischen und marxistischen Traditionen und bietet einen verlorengegangenen dritten Standpunkt im Hinblick auf die jüngste Auseinandersetzung zwischen Simon Critchley und Slavoj Žižek. Bookchin lehnt sowohl die Bescheidenheit von Chritchleys rein defensiver Widerstandspolitik wie auch Žižeks Besessenheit von der Vereinnahmung der repressiven Staatsmacht ab und besinnt sich vielmehr auf die periodisch wiederkehrende Erscheinung, die bei fast allen revolutionären Aufständen zum Vorschein gelangt: Volksversammlungen. Von den quartiers der Pariser Kommune bis zu den Vollversammlungen bei Occupy Wall Street und anderen Occupy-Bewegungen ziehen sich die selbstorganisierten demokratischen Räteversammlungen wie ein roter Faden durch die Geschichte bis zur Gegenwart. Doch Revolutionäre jeder Couleur haben das größere Potenzial dieser Volkseinrichtungen weitgehend übersehen. Wenngleich sie von Marxist_innen einer zentralisierten Parteidisziplin unterworfen und von Anarchist_innen misstrauisch beäugt wurden, sind diese Institutionen der Volksmacht, die Hannah Arendt als den ›verlorengegangenen Schatz‹ revolutionärer Traditionen bezeichnete, die Grundlage von Bookchins politischem Projekt. Der Kommunalismus entwickelt aus dieser Grundform, die in der Geschichte periodisch wiederkehrt, einen Ausgangspunkt für eine reichhaltige libertär-sozialistische Vision der direkten Demokratie.

Eine frühe Formulierung von Bookchins libertärem Munizipalismus erschien 1987 in The Rise of Urbanization and the Decline of Citizenship (später unter dem Titel From Urbanization to Cities neu aufgelegt), einer Fortsetzung seines vorigen Buches Die Grenzen der Stadt (1971; dt. 1977), worin er die Geschichte der urbanen Riesenmetropolen zurückverfolgte und für Dezentralisierung eintrat. In seinem späteren Werk überdachte Bookchin die Geschichte der Stadt und verdeutlichte die Wichtigkeit einer teilnahmefähigen Bürgerschaft als elementare Grundlage für die Schaffung freier Gemeinwesen. Er unterschied die ›Staatsmacht‹, bei der einzelne Menschen aufgrund der Grenzen der repräsentativen Regierungsform nur begrenzten Einfluss auf das politische Geschehen nehmen können, von der ›Politik‹, bei der die Bürger_innen direkte und partizipatorische Kontrolle über ihre Regierungen und Gemeinwesen haben. Die Gedanken dieses Buches, bei denen Bookchin zur griechischen polis zurückkehrt, um Vorschläge für eine partizipatorische und direkte Demokratie, für Vollversammlungen und Konföderationen auszuarbeiten, bieten den Prototyp einer Strategie, die aus den Hüllen der alten Gesellschaft eine neue errichtet. Dieser Vorschlag direkter Demokratie hat bei modernen linkslibertären Aktivist_innen eine zunehmende Rolle gespielt und wurde zum grundlegenden Organisationsprinzip bspw. von Occupy Wall Street, wenngleich sich viele ihrer Anhänger_innen der Herkunft nicht bewusst waren. Wie David Harvey in seinem Buch Rebellische Städte bemerkte: »Bookchins Vorschlag ist die bei Weitem durchdachteste revolutionäre Idee, die sich mit der Schaffung und kollektiven Nutzung von Gemeingütern auf vielfältigen Ebenen befasst.«

Die neun Essays des vorliegenden Buches bieten einen ausgezeichneten Überblick über Bookchins politische Philosophie und sind die ausgereifteste Formulierung seiner Gedanken im Hinblick auf die Organisationsformen, die nötig sind, um eine Gegenkraft zur repressiven Macht des Nationalstaats aufzubauen. Alle Essays wurden ursprünglich als eigene Werke geschrieben; bei ihrer Zusammenstellung zu diesem Band haben wir sie, wo es uns notwendig erschien, überarbeitet, um übermäßige Wiederholungen zu vermeiden und die Übersicht zu bewahren. In ihrer Gesamtheit fordern sie uns auf, die nötigen Veränderungen zu verwirklichen, um unseren Planeten zu retten und echte menschliche Freiheit zu erreichen. Sie zeigen konkrete Möglichkeiten auf, um eine solch weitreichende Umgestaltung der Gesellschaft zu bewerkstelligen. Die Essays in diesem Sammelband dienen als Einführung und als Krönung des Werkes eines der einfallsreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.

Im einleitenden Essay ›Das kommunalistische Projekt‹ stellt Bookchin den Kommunalismus linken Weltanschauungen gegenüber und legt dar, dass sich die Welt seit der Entstehung des Anarchismus und des Marxismus bedeutend verändert hat; er zeigt auf, dass diese althergebrachten Weltanschauungen nicht mehr den neuen, sehr umfassenden Problemen entgegentreten können, die die moderne Welt uns stellt – von der globalen Erwärmung bis zur Postindustrialisierung. Der zweite Essay ›Die Umweltkrise und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Erneuerung‹ verdeutlicht die Haupterkenntnis von Bookchins sozialer Ökologie – dass die ökologische und die gesellschaftliche Krise in Wirklichkeit miteinander verflochten sind und dass unsere Beherrschung der Natur die Tatsache widerspiegelt, dass in unserer Gesellschaft Menschen von Menschen beherrscht werden. Er verwirft ökologische Argumente, die den Entscheidungen einzelner Menschen, der Technologie oder dem Bevölkerungswachstum die Schuld in die Schuhe schieben, und legt dar, dass die Ursache der ökologischen Krise in einem irrationalen Gesellschaftssystem liegt, das von der krebsähnlichen Logik des Kapitalismus bestimmt wird, angetrieben von seinem auf Wettbewerb ausgerichteten ›Wachse-oder-stirb‹-Imperativ und seiner endlosen Produktion, die nicht auf menschliche Bedürfnisse, sondern auf Profitvermehrung gerichtet ist. Bookchin spricht sich gegen die extremen Gegensätze des autoritären Staates und der völlig autonomen Selbstgenügsamkeit aus und schlägt den Kommunalismus als eine zukunftsweisende Alternative vor, die die Menschheit und die Natur gleichzeitig zu retten vermag.

Die drei Essays im mittleren Teil – ›Eine Politik des 21. Jahrhunderts‹, ›Die Bedeutung des Konföderalismus‹ und ›Libertärer Munizipalismus: Eine Politik der direkten Demokratie‹ – beschreiben detailliert verschiedene Aspekte des libertären Munizipalismus. Der erste skizziert, wie konföderierte Versammlungen eine öffentliche Kontrolle über die Wirtschaft ausüben können, um die Abspaltung dieses sozialen Bereichs aufzuheben und ihn statt zu Profiten in Richtung menschlicher Bedürfnisse zu lenken. ›Die Bedeutung des Konföderalismus‹ führt diese Gedanken weiter und befasst sich mit bestimmten Einwänden gegen den Vorschlag einer direkten, konföderalen Demokratie. Darin werden häufig gestellte Fragen beantwortet wie: Ist der Konföderalismus in einer globalisierten Welt realisierbar? Wie können Lokalversammlungen größeren Problemen demokratisch begegnen? Werden regionale Gemeinschaften kooperieren oder konkurrieren, oder kann der Regionalismus zu einem engstirnigen Provinzdenken führen? ›Libertärer Munizipalismus: Eine Politik der direkten Demokratie‹ zeichnet die wohlbekannte Entwicklung von Bewegungen zu Parteien nach – zu sozialdemokratischen, sozialistischen und grünen Parteien gleichermaßen –, die bei der Veränderung der Welt durchweg versagt haben und ihrerseits von der Welt verändert wurden. Im Gegensatz dazu verändert der libertäre Munizipalismus nicht nur den Inhalt, sondern auch die Gestalt der Politik und verwandelt die Politik von ihrem derzeit geringen Ansehen im Hinblick darauf, was gescholtene Politiker_innen uns antun, in ein neues Modell, bei dem wir sie als voll engagierte Bürger_innen für uns selbst in die Hand nehmen. Demzufolge wird die demokratische Kontrolle über unser Leben und Gemeinwesen zurückgefordert.

Der Essay ›Städte: Die Entfaltung der Vernunft in der Geschichte‹ erkundet das einzigartig befreiende Potenzial der Stadt und ihrer Bürger_innen im Laufe der Geschichte und untersucht den Zerfall der Idee des ›Bürgers‹ – von einem freien Menschen, der sich beteiligen und kollektive Entscheidungen treffen kann, zu einem bloßen Wähler und Steuerzahler. Bookchin will die Vorstellung eines fortschrittlichen, nicht aber teleologischen Geschichtsansatzes, der in der Aufklärung vorherrschte, wiederbeleben. Hier lenkt die Vernunft menschliche Handlungen zur Beseitigung von Schufterei und Unterdrückung; oder um es positiv zu formulieren: zur Freiheit.

Die Essays ›Nationalismus und die ›nationale Frage‹‹ sowie ›Anarchismus und Macht während der Spanischen Revolution‹ beleuchten eine libertäre Perspektive auf die Fragen der Macht, der kulturellen Zugehörigkeit und der politischen Souveränität. Im ersten setzt Bookchin den Nationalismus in den umfassenderen historischen Kontext der sozialen Evolution des Menschen, um über diese hinauszugehen und an ihrer Stelle eine libertäre, weltoffene Moral der Gegenseitigkeit vorzuschlagen, bei der kulturelle Unterschiede dazu dienen, die Einheit zwischen den Menschen voranzubringen. In ›Anarchismus und Macht während der Spanischen Revolution‹ stellt er sich der Frage der Macht und beschreibt, wie Anarchist_innen im Laufe der Geschichte Macht vor allem als schädliches Übel betrachtet haben, das beseitigt werden müsse. Bookchin legt dar, dass Macht immer existieren wird, dass sich Revolutionäre aber mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob sie in der Hand der Eliten verbleiben soll oder ihr eine befreiende institutionelle Form gegeben wird.

Der abschließende, erstmals veröffentlichte Essay ›Die Zukunft der Linken‹ begutachtet die Perspektive des revolutionären Projekts im 21. Jahrhundert und untersucht die marxistische und anarchistische Tradition. Bookchin legt dar, dass der Marxismus weiterhin in seiner begrenzten Fokussierung auf Ökonomie gefangen ist und durch seine Altlast der autoritären Staatsführung beschädigt wurde. Der Anarchismus hingegen hält an einem problematischen Individualismus fest, der abstrakte und liberale Vorstellungen der ›Autonomie‹ höher bewertet als einen weitreichenderen Freiheitsbegriff und heiklen Fragen über kollektive Macht, gesellschaftliche Institutionen und politische Strategien aus dem Weg geht. Der Kommunalismus löst diese Spannung auf, indem er der Freiheit eine direkte, institutionelle Form im Sinne von konföderierten Volksversammlungen gibt. Der Essay schließt mit einer leidenschaftlichen Verteidigung der Aufklärung und der Erinnerung daran, dass das Vermächtnis der Aufklärung, das ›ist‹ vom ›sollte‹ zu unterscheiden, weiter den eigentlichen Kern der Linken bildet, im Sinne einer Kritik, die die Möglichkeit universeller menschlicher Freiheit erschließen will.

Wenige bestreiten heute die düstere Realität der miteinander verknüpften politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen, die derzeit auf die Welt einwirken. Trotz erbaulicher Momente der öffentlichen Empörung und Mobilisierung ist jedoch keine praktikable Vision einer anderen Gesellschaft hervorgetreten; extreme Konkurrenz, Austerität und Umweltzerstörung sind auf dem Vormarsch und werden zwar bekämpft, aber nicht aufgehalten. Die gegenwärtige Erschöpfung der konventionellen Politik schreit nach kühnen neuen Vorschlägen, die die revolutionärdemokratischen Vorstellungen im Kern der heutigen globalen Bewegungen ansprechen. Bookchins Kommunalismus umgeht das Dilemma zwischen Staat und Straße – das bekannte hin und her zwischen ermutigenden, aber kurzlebigen Straßenprotesten und dem Zugang zu den eigentlichen staatlichen Institutionen, die zur Bewahrung der bestehenden Ordnung konstruiert sind. Er erweitert unser Blickfeld vom endlosen Widerstand gegen die Bestechlichkeit von Politiker_innen und Konzernmächten hin zu einer neuen Organisation der Gesellschaft, die die Politik neu definiert – von etwas Verhasstem, das uns angetan wird, zu etwas, das wir selbst und gemeinsam unternehmen und das die Idee der ›Freiheit‹ mit neuem Inhalt füllt, indem wir in die Lage versetzt werden, die Kontrolle über unser Leben zu übernehmen. Bookchin schlägt eine Vision einer möglichen, wirklich freien Gesellschaft vor und präsentiert uns eine Strategie, die uns dorthin bringen könnte. Wir veröffentlichen dieses Werk daher in der Hoffnung, dass seine Gedanken nicht passiv auf den Buchseiten verharren, sondern Ideen und Handlungen inspirieren, die uns in die Lage versetzen, vom Widerstand zur Umgestaltung der Gesellschaft überzugehen.

Debbie Bookchin und Blair Taylor

Das kommunalistische Projekt

(November 2002)

Ob das 21. Jahrhundert das revolutionärste oder reaktionärste aller Zeiten wird – oder einfach nur in ein vages Zeitalter trübseliger Mittelmäßigkeit verfällt –, hängt in erster Linie von den sozialen Bewegungen und den Projekten ab, die soziale Revolutionäre aus dem reichen theoretischen, organisatorischen und politischen Reservoir schöpfen werden, welches sich in den letzten zweihundert Jahren der revolutionären Moderne angefüllt hat. Welche Richtung auf den verschiedenen miteinander verknüpften Wegen menschlicher Entwicklung wir einschlagen, kann durchaus die Zukunft der menschlichen Spezies für die kommenden Jahrhunderte bestimmen. Solange diese irrationale Gesellschaft uns mit atomaren und biologischen Waffen in Gefahr bringt, können wir nicht außer Acht lassen, dass das gesamte menschliche Projekt ein verheerendes Ende nehmen könnte. Angesichts der technisch hochentwickelten Pläne, die der militärisch-industrielle Komplex ausgearbeitet hat, muss die Selbstauslöschung der Menschheit in Zukunftsszenarien mit einbezogen werden, wie die Massenmedien sie zur Jahrtausendwende vorhersagten – das Ende der Zukunft der Menschheit, wie wir sie kennen.

Wenn meine Bemerkungen zu apokalyptisch erscheinen sollten, möchte ich betonen, dass wir zugleich in einem Zeitalter leben, in dem menschliche Erfindungsgabe, Technologie und Vorstellungskraft außergewöhnliche materielle Errungenschaften und Gesellschaften hervorzubringen fähig sind, die uns eine Freiheit ermöglichen, welche die spektakulärsten und bahnbrechendsten, von Sozialtheoretikern wie Saint-Simon, Charles Fourier, Karl Marx oder Peter Kropotkin vorausgesagten Visionen bei Weitem übertreffen1. Viele Denker_innen der Postmoderne haben einfäl tigerweise Wissenschaft und Technologie als Hauptgefahren für das Wohl der Menschheit ausgemacht, doch einige Wissenschaftszweige haben der Menschheit gewaltige Erkenntnisse über die tiefsten Geheimnisse der Materie und des Lebens verschafft und es der menschlichen Spezies ermöglicht, leichter als je zuvor jeden bedeutenden Teil der Realität zu verändern und das Wohlergehen menschlicher und anderer Lebewesen zu fördern.

Wir sind also in der Lage zu wählen, zwischen einem Weg in Richtung eines düsteren ›Endes der Geschichte‹, auf dem eine unbedeutende Aneinanderreihung gedankenloser Ereignisse echten Fortschritt ablöst, oder einem Weg, mit dem wir tatsächlich Geschichte schreiben können und auf dem die Menschheit zu einer wirklich rationalen Welt voranschreiten wird. Wir vermögen zwischen einem schmachvollen Ausgang zu wählen, bei dem die Katastrophe nuklearer Verwüstung lauern könnte und die Geschichte dem Vergessen anheimfällt, oder einer rationalen Geschichtsverwirklichung in einer freien, materiell ergiebigen Gesellschaft innerhalb einer harmonisch gestalteten Umwelt.

Obwohl wir Menschen heute als Spezies fähig sind, die Mittel für erstaunliche allgemeine Fortschritte und Verbesserungen der menschlichen Verhältnisse wie auch der natürlichen Umgebung des Menschen hervorzubringen – Fortschritte, die eine freie und rationale Gesellschaft schaffen könnten –, stehen wir gleichzeitig moralisch nahezu nackt da gegenüber dem Ansturm gesellschaftlicher Kräfte, der durchaus zu unserer physischen Vernichtung führen könnte. Zukunftsprognosen sind gewiss eine vage Angelegenheit, und man sollte ihnen grundsätzlich misstrauen. Mittlerweile haben sich aber pessimistische Überzeugungen durchgesetzt, denn die kapitalistischen Gesellschaftsbeziehungen haben sich tiefer in das menschliche Denken eingeprägt als je zuvor, und die Kultur hat sich beängstigend zurückentwickelt – beinahe in die Nähe des Nullpunkts.

Da wir die Geschichte an einen Punkt gebracht haben, an dem fast alles möglich ist (zumindest im materiellen Sinne) – und weil wir eine Vergangenheit überwunden haben, die ideologisch von rätselhaften religiösen Elementen durchsetzt war, die die menschliche Einbildungskraft erfand –, stehen wir vor einem neuen Problem, mit dem die Menschheit zum ersten Mal konfrontiert ist. Wir müssen bewusst unsere eigene Welt gestalten, nicht mittels gedankenloser Gewohnheiten und destruktiver Vorurteile, sondern nach den Grundprinzipien der unserer Spezies eigenen Vernunft, Reflexionsfähigkeit und Diskussion.

Was sollte bei unserem Weg in die Zukunft eine entscheidende Rolle spielen? Von großer Bedeutung ist die immense Sammlung sozialer und politischer Erfahrungen, die heutigen Aktivist_innen zur Verfügung steht – ein Wissensvorrat, der (in richtiger Weise verstanden) verwendet werden könnte, um die folgenschweren Fehler unserer Vorgänger_innen zu vermeiden und der Menschheit die schrecklichen Qualen früherer gescheiterter Revolutionen zu ersparen. Zudem ist ein neuer theoretischer Ausgangspunkt unverzichtbar, der bereits im Lauf der Kulturgeschichte geschaffen wurde und eine entstehende Revolutionsbewegung über die herrschenden Gesellschaftsverhältnisse hinwegkatapultieren könnte, hinein in eine Zukunft, die zu einer umfassenderen Befreiung der Menschheit führt.

Gleichzeitig müssen wir uns jedoch der Größenordnung der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, gänzlich bewusst sein. Wir müssen mit völliger Klarheit begreifen, wo wir innerhalb der Entwicklung der herrschenden kapitalistischen Ordnung stehen, müssen aufkommende soziale Probleme erkennen und ihnen mit dem Programm einer neuen Bewegung begegnen. Der Kapitalismus ist zweifellos die flexibelste Gesellschaftsform der Geschichte. Per Definition bleibt er jedoch immer ein System des Warentauschs: Produkte, die zum Verkauf und zu Profitzwecken hergestellt werden, durchdringen und vermitteln die meisten menschlichen Beziehungen. Der Kapitalismus ist aber ein höchst anpassungsfähiges System, das ständig die brutale Maxime vorantreibt, dass alle Unternehmen, die nicht auf Kosten ihrer Konkurrent_innen wachsen, beseitigt werden müssen. ›Wachstum‹ und ständiger Wandel sind somit die eigentlichen Gesetze für die Existenz des Kapitalismus. Der Kapitalismus verharrt daher nie in derselben Form und verändert zwangsläufig immerzu die gesellschaftlichen Einrichtungen, die aus seinen grundlegenden sozialen Beziehungen hervorgehen.

Obwohl der Kapitalismus erst in den letzten Jahrhunderten zur alles beherrschenden Gesellschaftsform geworden ist, existierte er bereits lange zuvor in den Randbereichen früherer Gesellschaften – in überwiegend kommerzialisierter Form im Handel zwischen Städten und Imperien; in Gestalt des Handwerks während des europäischen Mittelalters; in höchst industrieller Form in unserer eigenen Zeit; und, wenn wir den Prognosen glauben wollen, zukünftig in Form der Informationstechnologie. Der Kapitalismus brachte nicht nur Technologien hervor, sondern auch zahlreiche ökonomische und soziale Strukturen wie beispielsweise kleine Geschäfte, Betriebe, große Fabriken sowie das industrielle Finanzwesen. Sicher ist jene Form des Kapitalismus, die während der Industriellen Revolution vorherrschend war, nicht gänzlich verschwunden, und auch zurückgezogene Bauernfamilien und bescheiden lebende Handwerker_innen einer noch früheren Periode sind nicht völlig in Vergessenheit geraten. Immer wird Vieles der Vergangenheit in die Gegenwart integriert. Marx wies eindringlich darauf hin, dass es keinen ›Kapitalismus in Reinform‹ gibt, und solange keine grundlegend neuen Gesellschaftsbeziehungen aufgebaut und vorherrschend werden, verschwindet keine der früheren Formen des Kapitalismus. Doch obwohl der heutige Kapitalismus Hand in Hand mit vorkapitalistischen Institutionen existiert und er diese für seine Zwecke benutzt, wächst er mit seinen Einkaufszentren und neugestalteten Betrieben inzwischen bis in die Vorstadtgebiete und ländlichen Regionen hinein. Tatsächlich ist die Annahme keinesfalls abwegig, dass er sich eines Tages über unseren Planeten hinaus erstrecken wird. Jedenfalls hat der Kapitalismus nicht nur neue Waren hervorgebracht, die neue Bedürfnisse erzeugen und nähren, sondern ebenso neue gesellschaftliche und kulturelle Fragen, die wiederum neue Anhänger_innen und Gegner_innen des herrschenden Systems hervorgebracht haben. Das berühmte erste Kapitel des Kommunistischen Manifests, in dem Marx und Engels die Wunder des Kapitalismus feiern, müsste immer wieder neu geschrieben werden, um mit den Errungenschaften – und dem Horror – Schritt zu halten, die durch die Entstehung der besitzenden Klassen (der Bourgeoisie) hervorgetreten sind.

Eines der auffälligsten Merkmale des heutigen Kapitalismus ist, dass die stark vereinfachte Zweiklassenstruktur aus Bourgeoisie und Proletariat – von der Marx und Engels annahmen, dass sie im ›reifen‹ Kapitalismus vorherrschend werden würde –, in der westlichen Welt einen Umgestaltungsprozess durchlaufen hat. Obwohl der Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital keineswegs verschwunden ist, fehlt ihm jedoch die allumfassende Bedeutung, die er in der Vergangenheit hatte. Entgegen von Marx’ Erwartungen schwindet die industrielle Arbeiterklasse und verliert stetig ihre frühere Klassenzugehörigkeit, doch wird sie von dem vielleicht noch umfassenderen und weitreichenderen Konflikt, der zwischen der Gesellschaft insgesamt und den kapitalistischen Sozialbeziehungen herrscht, dadurch keineswegs befreit. Kultur, Sozialbeziehungen, Stadtbild, Produktionsweisen, Landwirtschaft und Beförderungsmittel haben das einstige Proletariat mittlerweile in eine größtenteils unbedeutende bourgeoise Gesellschaftsschicht verwandelt, deren Gesinnung von ihrer Idealvorstellung des ›Konsums zum Selbstzweck‹ geprägt ist. Wir sehen einer Zukunft entgegen, in der die Proletarier_innen – wie immer ihr Status als Arbeiter_innen oder ihre Position am Fließband ist – vollständig durch automatisierte und sogar miniaturisierte Produktionsmittel ersetzt werden, die von wenigen höheren Angestellten mit Technikkenntnissen bedient und von Computern gesteuert werden.

In ihrer Gesamtheit widersprechen die vom Kapitalismus geschaffenen Gesellschaftsverhältnisse heute in hohem Maße den Vorhersagen, die Marx und revolutionäre französische Syndikalist_innen grob vereinfacht über Klassenstrukturen anstellten. Nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief der Kapitalismus eine gewaltige Umgestaltung und führte rasant zur Entstehung neuer sozialer Fragen, die über die traditionellen Forderungen des Proletariats nach höheren Löhnen, geringeren Arbeitszeiten und besseren Arbeitsbedingungen hinausgingen; besonders stellten sich Fragen der Umwelt, der Geschlechter, der Hierarchie, der Bürgerschaft und der Demokratie. Der Kapitalismus hat in der Tat die von ihm ausgehenden Gefahren auf die Allgemeinheit abgewälzt, besonders durch den Wandel des Klimas, der das ganze Erscheinungsbild unseres Planeten verändern könnte, durch die Schaffung weltweit agierender oligarchischer Institutionen und durch eine blindwütige Verstädterung, die das Gemeindeleben radikal untergräbt, welches für eine Politik von unten so entscheidend ist.

Die Hierarchiefrage ist heute genauso vorrangig wie die Klassenfrage. Dies bezeugen die vielen Gesellschaftsanalysen, in denen Manager_innen, Bürokrat_innen, Wissenschaftler_innen und ähnliche Berufszweige als hervortretende und scheinbar dominierende soziale Gruppen ausgemacht werden. Neue und kompliziertere Status- und Interessenunterschiede spielen heute eine größere Rolle als in der jüngeren Vergangenheit; sie verwischen den Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital, der einst so zentral von Bedeutung und so klar definiert war, dass er von früheren Sozialist_innen kämpferisch beantwortet wurde. Klasseneinteilungen vermischen sich heute mit hierarchischen Kategorien, die sich auf Unterscheidungen nach ›Rasse‹, Geschlecht, sexuellen Vorlieben und gewiss auch nach Nation und Herkunft gründen. Hierarchische Statusunterscheidungen tendieren dazu, mit Klassenunterteilungen zu verschmelzen: Eine allumfassende kapitalistische Welt ist im Entstehen, in der Unterscheidungen nach Ethnie, Nationalität und Geschlecht die Bedeutung von Klassen in der öffentlichen Meinung häufig übersteigen.

In der Zwischenzeit hat der Kapitalismus einen neuen, vielleicht viel größeren Widerspruch hervorgebracht: den zwischen einer auf endlosem Wachstum gegründeten Wirtschaft und der gleichzeitigen Zerstörung des natürlichen Lebensraums.2 Dieser Punkt kann nicht länger heruntergespielt, geschweige denn ignoriert werden, denn seine enormen Auswirkungen zielen direkt auf das menschliche Bedürfnis nach Nahrung und Sauerstoff. Im Westen, wo der Sozialismus geboren wurde, scheinen die aussichtsreichsten Kämpfe derzeit weniger um Löhne und Arbeitsbedingungen geführt zu werden als um Fragen wie Atomkraft, Umweltverschmutzung, Zerstörung der Wälder, städtische Verwüstungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Gemeinschaftsleben und die Unterdrückung der Bevölkerung unterentwickelter Länder. Dies bezeugen die (wenn auch sporadisch auftretenden) Wellen der Antiglobalisierungsbewegung, bei denen ›Arbeiter_innen‹ und höhere Angestellte, angetrieben durch gemeinsame soziale Anliegen, Reihe in Reihe mit Humanist_innen aus der Mittelschicht marschieren. Kämpferische Leute aus dem Proletariat sind oft nicht von jenen aus der Mittelschicht unterscheidbar. Kräftige, von einem leidenschaftlichen Kampfgeist geprägte Arbeiter_innen marschieren jetzt hinter ›Bread-and-Puppet‹-Theaterschauspieler_innen, oft mit beträchtlicher Munterkeit auf allen Seiten. Menschen der Arbeiterschaft und Mittelschicht tragen jetzt, so könnten wir sagen, viele unterschiedliche soziale Hüte und bekämpfen den Kapitalismus indirekt und direkt – gleichermaßen aus kulturellen wie aus wirtschaftlichen Gründen.

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