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Bodo Hombach
Edmund Stoiber (Hg.)

Europa in der Krise

Bodo Hombach
Edmund Stoiber (Hg.)

Europa in der Krise

Vom Traum zum Feindbild?

Tectum Sachbuch

Bodo Hombach

Edmund Stoiber (Hg.)

Europa in der Krise

Vom Traum zum Feindbild?

© Tectum Verlag Marburg, 2017

ISBN 978-3-8288-6607-2
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN
978-3-8288-3854-3 im Tectum Verlag erschienen.)

 

Umschlagabbildung: istockphoto.com © boschettophotography (bearbeitet)

Sämtliche Fotografien: © Thomas Dashuber

Projektleitung Verlag: Norman Rinkenberger

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Welches Europa wollen wir? Plädoyer für eine ehrliche Debatte

Vorwort von Bodo Hombach

Europa – Auf die Menschen zugehen!

Vorwort von Edmund Stoiber

Eine Bestandsaufnahme

Europa in der Krise

Ein Gespräch zwischen Rolf-Dieter Krause und Martin Winter

Europa – Sehnsuchtsort oder Feindbild

von Wolfgang Schüssel

Nationale Perspektiven

Die Deutschen und Europa

von Manfred Güllner

Deutschlands neue Verantwortung in und für Europa

von Herfried Münkler

Was sagt uns der Brexit über die Beziehungen der Bürger zur EU?

von Charles Aldington

Hätte, hätte, châine de bicyclette Frankreich – Krise einer europäischen Führungsmacht

von Sascha Lehnartz

Eine Strategie für Europa als Perspektive für die Türkei

von Serap Güler

Was Europa zusammenhält

Europa muss ein Friedensprojekt bleiben

von Günter Verheugen

Ohne Solidarität hat Europa keine Zukunft

von Gesine Schwan

Die Champions League der Interessen Europa im Vereinsfußball zwischen Balance und Egoismus

von Karl-Heinz Rummenigge

Die Bedeutung der europäischen Idee für Unternehmensgründungen

von Ann-Kristin Achleitner, Svenja Jarchow und Sarah Theinert

Wie Europa gelingen kann

Ein besseres Europa

von Sigmar Gabriel

Für einen Neustart in Europa

von Martin Schulz

Bestand durch Wandel – Warum Europa einen neuen Anlauf braucht

von Wolfgang Reitzle

Ein Europa der Vaterländer?

von Elmar Brok

Wir müssen wieder mehr Churchill wagen!

von Ulrich Reitz

Mehr Europa in Zeiten globaler Herausforderungen

von Armin Laschet

Weniger Europa wagen – für mehr Europa!

von Christoph Schwennicke

Akzeptanz und Legitimation für ein demokratisches Europa

von Alexander Graf Lambsdorff und Hans Jörg Schrötter

Ein anderes Europa ist möglich! Bürgerbeteiligung, Referenda und Präferenda zur Krisenbewältigung

von Klaus Gretschmann

Ausblick

Vom Traum zum Feindbild? Europa referendumsfest machen!

Herausgebergespräch zwischen Bodo Hombach und Edmund Stoiber moderiert von Christoph Schwennicke

Autorenverzeichnis

Danksagung

Welches Europa wollen wir?

Plädoyer für eine ehrliche Debatte

Vorwort von Bodo Hombach

Momentaufnahme in Brüssel. Im Aufzug des Berlaymont zusammen mit der obersten Beamtin bei Chris Patten, dem damaligen britischen Kommissar für Außenpolitik. Ich hatte mit ihm eine Besprechung in meiner Funktion als Koordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa – ein Mandat der G9, NATO und EU. Unterwegs sagte die Beamtin, die noch eine große Karriere vor sich hatte, mit freundlichem Grinsen: »Der Kommissar wird Ihnen gleich einiges versprechen, aber glauben Sie nicht, dass wir das umsetzen.« – Wir betraten sein Büro. Ich setzte ihn ohne Narkose ins Bild: »Chris, deine leitende Beamtin hat mir gerade offenbart: Was du mir versprechen wirst, sei ohne Bedeutung, denn sie würde es nicht umsetzen.« – Seine Reaktion überraschte. Er sagte nicht: »Ich schmeiße sie raus«, oder: »Darüber muss ich mit ihr reden«, sondern; »Bodo, mit der Bürokratie hier ist das so, als würde man mit bloßen Händen Wasser die Wand hinaufschieben wollen.« – Das war hoch resignativ, aber analytisch korrekt.

Ich kann die Szene nicht vergessen. Sie war kein skurriler Sonderfall. Ich hatte in jeder Sitzung des Allgemeinen Rates der Außenminister Redezeit. Mehrmals musste ich erzählen, dass die Kommission zwar eine Menge öffentlich angekündigt hatte, im Balkan aber wenig umgesetzt würde. Der Apparat erweise sich als träge und zuweilen widerspenstig bis zur Blockade. – Das ging dem offenbar zu weit. Die Bürokratie wurde aktiv. Sie besserte sich nicht, aber sie nahm übel und Rache. Was sonst nur in langen Abständen geschah, widerfuhr mir zweimal. Die Brüsseler Bürokratie beauftragte den Rechnungshof mit gründlichen Prüfungen in meinem Apparat und dessen Wirken. Für die Bürokratie war das vergeblich, mehr noch desaströs. Die Überprüfungen brachten mir kräftige Belobigungen ein und deshalb die höchste Auszeichnung des »Bundes der Europäischen Steuerzahler«, den bronzenen »Stier«. Jean-Claude Juncker hielt damals die Laudatio. – Mir blieb eine wichtige Erkenntnis. Sie wird durch Zuspitzung nicht falsch, sondern klar:

Die Brüsseler Bürokratie hat ein extremes Eigenleben. Sie arbeitet nach dem Motto: »Wir sind wir, und wir machen, was wir für richtig halten. Aufgabe der Politik ist es, das abzufedern. Sie hat unser unabhängiges, verdienstvolles Wirken zu schützen und dafür zu sorgen, dass niemand unsere Kreise stört.«

Es gibt viele Ursachen für die gegenwärtige Krise der Europäischen Union. Dies ist eine. Eine andere ist, dass sich auch die Politik zu oft entfremdet gebärdet. Offenbar betrachtet sie Europa als ein Eliteprojekt, viel zu abgehoben und kompliziert, als dass man es »denen da unten« erklären könnte. Gewiss gibt es Staatsoberhäupter und Minister, die sich jeden in Brüssel ausgehandelten Erfolg mit Pomp und Tusch ans Revers heften, für ihre Fehlzündungen und Misserfolge jedoch Europa verantwortlich machen. Sie tun es nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche. Es erscheint ihnen als probates Mittel des Machterhalts.

Wie dem auch sei: Wenn es nicht gelingt, die europäischen Strukturen und Entscheidungsabläufe zu politisieren und sie damit näher an die Menschen und den Volkswillen heranzubringen, dann hat der Prozess der inneren Einigung eine schlechte Prognose. Wenn Europa nicht referendumsfest wird, weil es sich nicht in der Lebenswirklichkeit der Europäer einwurzelt, dann ist jede Abstimmung eine Zitterpartie und breites Einfallstor für Populisten.

Auch die meisten europäischen Medien haben noch keine überzeugende Linie im Spagat zwischen »Europatreue« und natürlicher kritischer Distanz gefunden. Einige sind prinzipiell auf Anti-Kurs – andere sehen sich zur energischen Verteidigung der großen europäischen Idee berufen. Systeme, die dem Mehrheitswillen im Zweifel nicht standhalten, sind für Demokratien eine ernste Herausforderung.

Europa muss sich selbst legitimieren. Dazu sind zwei Schwellen zu überwinden:

1.Die Bürokratie, die sich von der Politik und von den Völkern in ein Paralleluniversum aus Lobbyistennähe, Filz, Selbstüberschätzung und Selbstbeauftragung zurückgezogen hat, ist energisch zu vertikutieren.

Subsidiarität, in allen Texten der Union als Leitgedanke festgeschrieben, muss endlich Realität werden.

Keine leichte Aufgabe bei einer über Jahre etablierten Gefolgschaftstreue eines Corps von hohen Beamten, von denen sich viele gern auch national organisieren und regelmäßig treffen.

2.Es braucht eine Politik, die das Heft in die Hand nimmt und nicht glaubt, sie verteidige Europa, wenn sie die Brüsseler Bürokratie und den gegenwärtigen Status verteidigt. Sie muss die Demokratie, die sie will, selbst beispielgebend praktizieren.

Längst geht es nicht mehr um das Haar in der Suppe, sondern um das Kind im Brunnen. Die Erosion des europäischen Bewusstseins ist gefährlich weit fortgeschritten. Das großartige Einigungswerk ist in der schwierigsten Krise seiner bisherigen Geschichte. Europaskeptiker sind auf dem Vormarsch. Es gab sie immer, aber gegenwärtig schwellen sie zu großen Bewegungen an. Diese speisen sich aus einem allgemeinen Gefühl der Verunsicherung durch internationalen Terrorismus, eine als chaotisch empfundene Flüchtlingspolitik und ökonomische Irritationen. Demagogen und Extremisten nutzen die enorme Verstärkerwirkung der sogenannten »sozialen Medien« und stellen sich als die einzigen Alternativen zur Verfügung. Die Gegenwehr der Verteidiger Europas ist oft zu abgedroschen, zu rituell, werblich und schwach. Sie ist argumentationsarm.

In diesem Stadium ist Kosmetik keine Lösung. Der allgemeinen Europaskepsis muss etwas Neues und inhaltlich Überzeugendes entgegentreten. Man muss für Europa eintreten, streiten, ja kämpfen, auf allen Ebenen, in allen Kreisen und an allen Orten, mit Sachverstand und Leidenschaft, – aber es muss klar sein, für welches Europa.

Ein Europa, das diesen Einsatz lohnt, ist ein vielfältiger und dynamischer Kontinent, wo die Menschen- und die bürgerlichen Freiheitsrechte gelten, wo man in höflichen Umgangsformen nach einem friedlichen Ausgleich der Interessen sucht, und wo man auch anderen Ansichten und Interessenlagen mit selbstbewusster Offenheit begegnet. Wo aber auch klar ist: Wer sich selber nicht anstrengt, seine eigenen Probleme in den Griff zu bekommen, kann sie anderen nicht aufbürden. Solidarität gebührt denen, die unverschuldet in Probleme gerieten und sie mit ihren eigenen Mitteln nicht bewältigen können. Solidarität darf nicht missbräuchlich eingefordert werden, weil sie sonst die Akzeptanz bei denen zerstört, die leisten müssen. Es wäre eine Illusion, die einmal gefundenen Errungenschaften an Geist und Strukturen als gesicherten Besitz zu betrachten. Jede Generation muss sie sich neu erwerben und sie in ihrer Sprache artikulieren. Ein heute neu geborenes Kind ist so ahnungslos, wie das eines Neandertalers. Politik hat eine immerwährende Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Europa war immer und bleibt »work in progress«. Das ist kein Manko, sondern ein Vorzug. – Vier Koordinaten spielen eine entscheidende Rolle:

FRIEDEN

Der Friede ist nicht sicher. Europa ist für die schwierige Friedenssicherung unverzichtbar. Gegenwärtig nehmen Konfliktherde zu und gewinnen an Brisanz. Kalte Krieger stehen im Vorgarten. Die große Aufgabe »Friedenssicherung« hat neue Aktualität und deshalb auch Überzeugungskraft.

Die Behauptung, das »Friedensprojekt Europa« habe keine Anziehungskraft mehr, ist angesichts des Säbelrasselns und der zunehmenden Kriegsangst falsch.

Die Geschichte des Kontinents ist gekennzeichnet durch eine Unzahl kriegerischer Konflikte (Stämme, Dynastien, Nationalstaaten). Sie nahmen ständig zu an Reichweite, Komplexität und Zerstörungswucht. Zuletzt führten zwei Weltkriege nahe an die Selbstvernichtung. Sie aber weckten auch das Bewusstsein, dass der Krieg als Mittel des Konfliktverhaltens künftig ausfallen muss. Im atomaren Zeitalter darf er nicht mehr Methode sein, um irgendein Ziel zu erreichen. Ihn abzuschaffen, ist oberster Zweck alles politischen Handelns.

Die EU ist der bisher einmalige Versuch, diese Erkenntnis zu realisieren. Sie ist der Entwurf einer neuartigen Völkergemeinschaft. Statt nationalistischer Rangkämpfe organisiert sie den friedlichen Interessenausgleich. Im Zusammenwachsen schützt sie die Mitgliedstaaten vor äußerer Bedrohung, aber auch vor den »schlechten« Eigenschaften und Traditionen ihrer nationalen Geschichte. – Das Ergebnis lässt sich sehen. Es ist eine 70-jährige Erfolgsgeschichte. Europa wurde weltweit zum Sehnsuchtsort für Menschen, die unter Armut, Krieg und Despotie leiden. Wer es nicht reformieren, sondern demontieren will, muss sagen, in welchem Teil der Welt er lieber leben würde.

Zum Fortschritt bei der zukünftigen Friedenssicherung gehört zweifellos die Intensivierung gemeinsamer Verteidigung nach innen und außen.

GEMEINSAMKEIT

Die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und die Definition gemeinsamer Interessen ist europäische Kernaufgabe. Versöhnen statt spalten ist gerade nicht die große Mode. Insbesondere die Medien mögen den Konflikt. Er liefert ihnen den Stoff, über den sie berichten können. Konsens und Konsenssuchende werden eher verspottet als gefordert oder gefördert. Das ist eine Fehlentwicklung im politischen Kommunikationsprozess, insbesondere im europäischen Zusammenhang. Die Konsenssuche und -findung ist Voraussetzung für eine gute europäische Zukunft. In einem Europa, das seine historische Suizidgefährdung überwinden will, gilt der gelebte Konsens – der Starken mit den Schwachen, der Großen mit den Kleinen, der geografisch Benachteiligten mit den Privilegierten. Vom Prinzip zur Realität ist jedoch ein weiter Weg. In der Sozialpolitik z. B., wo sich moderne Gesellschaften nicht als Almosenempfänger, sondern als Solidargemeinschaft organisieren, gibt es sehr verschiedene regionale und nationalstaatliche Traditionen. Sie gerecht zu gestalten, bedarf einer hohen Identifikation der Bürger. Sozialtransfers setzen eine Loyalität voraus, die supranational nicht geschaffen ist. Ein gemeinsam gestalteter Sozialraum Europas wird notwendig, wenn man entwurzelnde Menschenströme vermeiden will, aber man muss behutsam vorgehen. Brechstange und Paragraphen-Dschungel sind die falschen Instrumente.

Was die Sache noch dramatisch erschwert: Das Prinzip Solidarität hätte auch im globalen Maßstab zu gelten. Die Öffnung aller Grenzen zur Erleichterung des Welthandels bringt nur dann stabile Vorteile, wenn diese nicht mit der Marginalisierung anderer Staaten und Völker erkauft sind. Man kann nicht den Warenverkehr entgrenzen und sich Elend und Unrecht in der Welt durch Mauern und Zäune vom Hals halten. »Wenn heute noch täglich 24.000 Kinder verhungern, wird uns die Rache dieser Völker eines Tages ereilen.« (Jean-Claude Juncker) – Da ist solidarisches Handeln nicht sympathischer Altruismus, sondern praktische Vernunft. Sie bedeutet: gerechte Verträge, Kampf gegen Korruption, begierige Suche nach den Ursachen von Konflikten und gemeinsame Anstrengung, sie möglichst schon im Frühstadium zu entschärfen. Wenn überhaupt, kann das europäisch koordinierte und verantwortete Außenpolitik leisten. Nationale Anstrengungen bleiben da meist nur Symbolik.

REGIONALITÄT

Regionalität und Weltoffenheit sind kein Gegensatz. Im Gegenteil: Sie bedingen einander. Die feste regionale und damit emotionale Verwurzelung der Menschen ist Voraussetzung für deren Bereitschaft, über den Tellerrand hinauszugucken und zu wirken. Das Gefühl, in einem heimatlichen Raum geborgen zu sein, behindert nicht, sondern bedingt die Bereitschaft, über nationale Grenzen hinaus zu denken. Supranationale Strukturen funktionieren nur dann, wenn sich ihr Sinn unmittelbar in der Lebenswelt der Menschen erschließt und auswirkt. Die Abgabe nationaler Kompetenzen an die europäische Ebene aus Gründen einer sinnvollen Arbeitsteilung darf nicht zum Vakuum werden zwischen einer fernen, abstrakt-bürokratischen Zentrale in Brüssel und den Leuten an »Ort und Stelle«. Es gilt uneingeschränkt das Subsidiaritätsprinzip.

Die großen Probleme der Zeit sind nur global zu lösen. Aber auch sie betreffen die breite Daseinsebene der Gesellschaft. Hier werden angepasste und tragfähige Lösungen als solche erkannt und anerkannt. Von hier aus können sie zusätzlich downside-up etabliert werden und sollen dann auch aus der Gemeinschaftskasse Unterstützung erhalten. Europa wurde als »Europa der Regionen« propagiert, ernsthaft praktiziert wurde das kaum. Das erzeugt einen ärgerlichen Rückwärtssog nach dem Motto »Früher war alles besser«. Es ist auch Treibhaus für demagogische Bewegungen, die kein einziges Problem lösen, aber alle Errungenschaften vernichten. Bei vernünftiger Arbeitsteilung mischt sich die Zentrale nicht in regionale Details ein, sondern befasst sich mit den Fragen, die auf der logischen Ebene der Gemeinschaft angesiedelt sind und für alle gelten, um sich im globalen Kontext zu behaupten.

ZUKUNFT DURCH ZUSAMMENHALT

Globalisierung kann niemand rückgängig machen. Die Völker Europas können nur bestehen, wenn sie sich gemeinsam behaupten, ihre Interessen bündeln und durchsetzen.

Auf der drängenden Tagesordnung steht die Bewahrung der Relevanz der Staaten in Europa durch europäische Kooperation. Im globalen Zusammenspiel hat nur europäische Gemeinsamkeit die Chance, Bedeutung und Einfluss zu entwickeln und zu bewahren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten die Europäer etwa 20 % der Weltbevölkerung aus. Heute sind es nur noch 7 %, und am Ende dieses Jahrhunderts werden es 4 % sein. Sie bewohnen ohnehin den kleinsten und rohstoffärmsten Kontinent. Das Gewicht Europas im Weltkonzert schwindet dramatisch. Die Vorstellung, ein in seine Nationalstaaten zerfallenes Europa könnte gegen den Rest der Welt bestehen, ist aberwitzig. Sie ist es umso mehr, als alle wirklich wichtigen und bedrohlichen Probleme der Gegenwart supranationalen Charakter haben. Nur wenn dieser Kontinent seine Kräfte bündelt, hat er eine Chance, nicht nur, sich wirtschaftlich zu behaupten, sondern auch seine Werte hochzuhalten; nicht als Verdrängungskampf gegen Russland, China, Indien, sondern als Konzept und Beitrag Europas mit allen Völkern für eine humane Weltgesellschaft.

Das vorliegende Buch vibriert von Erkenntnissen und Ideen, welche das »Projekt Europa« beschreiben und voranbringen. Manches davon ist Hoffen wider alles Hoffen, denn wir waren dem utopisch erscheinenden Ziel schon einmal näher als heute. – Das konnte die Herausgeber nicht lähmen, und es sollte die Leser beflügeln.

Europa – Auf die Menschen zugehen!

Vorwort von Edmund Stoiber

Das Ergebnis des britischen Referendums hat vor allem eines gezeigt: Die Unzufriedenheit mit der Europäischen Union ist groß. Auch wenn im Wahlkampf mit Lügen und Täuschungen operiert wurde: Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die Brexit-Befürworter auch ohne schmutzige Tricks gewonnen hätten. Sie haben mit den Themen Zuwanderung und Brüsseler Regulierung emotional mobilisiert, während David Cameron vor allem auf die wirtschaftlichen Nachteile eines Austritts hingewiesen hat. Es stand die Leidenschaft der Europagegner gegen die nüchternen Argumente der Europabefürworter. Und die Leidenschaft hat gewonnen, wie fast immer in der Politik.

Am größten war die Unzufriedenheit bei den sogenannten »kleinen Leuten«. Viele Briten, besonders die einfachen Arbeiter und Angestellten, hatten nicht das Gefühl, dass das Wohlstandsversprechen der EU auch für sie gilt. Selbst am bedeutenden Automobilstandort Sunderland in Nordengland, wo viele Arbeitsplätze vom europäischen Binnenmarkt abhängen, haben 61,3 % für den Brexit gestimmt. Die Menschen auf der Straße brachten mit der EU in erster Linie unkontrollierte Zuwanderung und Bürokratie in Verbindung. Deshalb stimmten sie – anders als die Eliten der City of London – für den Brexit. Die regelmäßigen öffentlichen Streitereien zwischen den EU-Mitgliedstaaten waren sicher auch nicht hilfreich. Das gleiche Phänomen, der ‚Aufstand‘ der Modernisierungsverlierer, haben wir übrigens bei der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump am 8. November 2016 erlebt. Es ist nun zu befürchten, dass sich dieser Prozess verstärkt auch auf Europa überträgt.

Das europäische Projekt ist aber nur dann auf Dauer überlebensfähig, wenn nicht nur die polyglotten Eliten dahinter stehen, sondern auch die breiten Bevölkerungsschichten. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Faszination und Leidenschaft für Europa endlich auch stärker wieder in die Bevölkerung tragen. Natürlich ist es völlig richtig darauf hinzuweisen, dass die EU wirtschaftliche Vorteile z. B. im globalen digitalen Wettbewerb gegenüber den USA und Asien bietet. Eine rein ökonomische Debatte reicht aber nicht aus, um die Herzen der Bevölkerungsmehrheit zu erreichen. Wir müssen Emotionen und Leidenschaft wecken.

Leidenschaft kann Europa vor allem bei den großen Themen vermitteln: Frieden, Freiheit, Sicherheit. Das sind die Themen, die die Menschen emotional berühren. Warum wollen denn so viele Migranten aus aller Welt nach Europa? Warum ist die Europäische Union denn ein »gelobtes Land« und Anziehungspunkt für so viele Menschen? Weil Europa in aller Welt ein Synonym für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand ist. Trotz der unruhigen Zeiten, die die EU aufgrund des schrecklichen Bürgerkriegs in Syrien aktuell durchmacht, ist Europa nach wie vor eine Insel der Stabilität.

Viele Menschen in Europa, gerade die jungen, nehmen Frieden, Freiheit und Wohlstand als selbstverständlich an. Dem ist aber leider nicht so. Frieden und Freiheit müssen immer wieder aufs Neue gegen Anfeindungen verteidigt und erneuert werden. Und die Feinde Europas werden stärker. Mit Sorge sehe ich auf die französische Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2017. Eine Präsidentin Le Pen wäre ein Unglück für ganz Europa. Deshalb ist es vordringlich, dass die EU zügig den großen Nutzen für ihre Bürger unter Beweis stellt. Primär geht es um das Thema Sicherheit. Es braucht gemeinsame europäische Antworten beim Schutz der inneren und äußeren Sicherheit, beim Aufbau einer europäischen Armee, bei der besseren Koordination der Sicherheitsbehörden untereinander und bei einem effektiven europäischen Grenzschutz.

Gerade in der Flüchtlingskrise muss Europa mit einer Stimme sprechen. Die Bewältigung der Migrationsströme ist eine Jahrhundertaufgabe und erfordert eine europäische Lösung. Es geht um die Entwicklung einer kohärenten Strategie, die die Interessen aller Länder in der EU berücksichtigt. Deutschland wird eine Politik des humanitären Imperativs nach unserem Verständnis nicht auf Länder wie Ungarn oder die Slowakei übertragen können, die aus kulturellen und historischen Gründen keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen wollen. Auch Rolf-Dieter Krause weist in diesem Buch auf das Problem hin.

Es ist deshalb ein wichtiger Fortschritt, dass die Visegrádstaaten Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei beim EU-Gipfel in Bratislava im September 2016 ein Konzept der »flexiblen Solidarität« vorgelegt haben, mit dem zwar die ablehnende Haltung bei der Aufnahme von Flüchtlingen bekräftigt, zugleich aber verstärkte Unterstützung an anderer Stelle angeboten wird. Dies könnte etwa durch eine überproportionale Beteiligung am Schutz der EU-Außengrenzen oder die Einzahlung in einen europäischen Flüchtlingsfonds geschehen.

Eine noch größere Herausforderung ist ein gemeinsames europäisches Asylsystem, das seinen Namen wirklich verdient. Das Dublin-Verfahren steckt in einer tiefen Krise und die Unterbringungs- und Sozialstandards für Asylbewerber sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass Deutschland ein sehr großzügiges, individuell einklagbares Recht auf Asyl hat, das die anderen Länder so nicht kennen. Hier bedarf es weiterer Anstrengungen, um die Asylbedingungen europaweit stärker aneinander anzugleichen und zu vereinheitlichen.

Europa muss, wie es der ehemalige Kommissionspräsident Barroso einmal gesagt hat, »big on big things and small on small things« sein. Das heißt, dass sich die EU in den Fragen zurückhalten muss, die von den Mitgliedstaaten auf nationaler oder regionaler Ebene selber geregelt werden können. Es ist nämlich genau dieses Gefühl der Überregulierung, das viele Menschen mit der EU verbinden und ablehnen. Als ehemaliger Leiter der High Level Group on Administrative Burdens, die sich intensiv mit dem Abbau der EU-verursachten Bürokratie beschäftigt hat, weiß ich, dass in den Brüsseler Amtsstuben ein geradezu missionarischer Geist herrscht, nach dem Motto von Jean Monnet: »Jede Regelung in Europa ist gut für Europa.« Heute haben 85 % aller neuen nationalen Regulierungen ihren Impuls aus Brüssel. Die EU erlässt jedes Jahr über 1.000 Verordnungen. Immer wieder versucht sich die EU-Kommission Kompetenzen anzumaßen, wie etwa bei der europäischen Einlagensicherung. Ein Fortschritt ist es allerdings, dass der für »Better Regulation« zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, ein Vetorecht bekommen hat, um bürokratiebeladene Vorschriften zur Entschlackung wieder an die zuständige Stelle zurückgeben zu können.

Es geht aber nicht nur um weniger Bürokratie, sondern auch um die Rückübertragung von Kompetenzen von der EU auf die nationale oder regionale Ebene. Politikfelder wie der Umwelt- und Verbraucherschutz, Katastrophenschutz und das Arbeits- und Gesellschaftsrecht können in manchen Punkten auf die nationale Ebene zurückverlagert werden, ohne dass Europa und der Binnenmarkt Schaden nähme. Wir müssen zurückkehren zu einer konsequenten Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, das bereits 1992 im Vertrag von Maastricht verankert wurde, das im Laufe der Zeit aber immer stärker in Vergessenheit geraten ist. Denn: Auch fast 60 Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 sind die meisten Menschen in erster Linie in ihrer Nation oder Region verwurzelt, nicht in Europa. Sie fühlen sich in erster Linie als Deutsche, Franzosen, Polen oder Spanier. Das liegt auch daran, dass sie die politischen Prozesse im eigenen Land viel stärker nachvollziehen und gegebenenfalls dagegen protestieren können. Die europäische Gesetzgebung hingegen ist weit weg vom Bürger. Nur Experten können heute sagen, wie die Entscheidungen in Brüssel wirklich zustande kommen.

Vor diesem Hintergrund rege ich an, dass sich ein Konvent aus Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments Gedanken über die Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips macht. Dazu braucht es nicht unbedingt eine Änderung der Europäischen Verträge, sondern eine Selbstbeschränkung der EU, nicht alles zu regeln, was sie kann. Konkrete Diskussionsbeiträge zur Deregulierung und Kompetenzentflechtung gibt es bereits, etwa 2013 vom damaligen niederländischen Außenminister Frans Timmermans oder 2015 von der britischen Wirtschaft im sogenannten »Cameron-Bericht«.

Europa referendumsfest machen – das gelingt nur mit einem Europa, das wieder auf die Menschen zugeht!

Eine Bestandsaufnahme

Europa in der Krise

Ein Gespräch zwischen Rolf-Dieter Krause und Martin Winter*

Der Zustand der Europäischen Union ist miserabel. Gar keine Frage. Wer an Europa denkt, dem fällt Krise ein. Und wer Krise sagt, meint meist Europa. Die Krise ist zum Markenzeichen der Europäischen Union geworden. Als Finanzkrise, als Wirtschaftskrise, als Vertrauenskrise, als Flüchtlingskrise, als Brexit-Krise. Krise, überall Krise. Aber offen gesagt: Wir können es nicht mehr hören. Dieses vor allem in Brüssel gewaltige Klagen und Jammern geht uns mächtig auf die Nerven. »Am schlimmsten sind diese Überschwang-Europäer. Erst jubeln sie Europa hoch und wenn es schwierig wird, beschwören sie schrill dessen finale Katastrophe. Klar, der Brexit ist ein großer politischer Mist. Aber das Ende Europas? Wohl eher nicht«, sagt Rolf-Dieter Krause. Es gibt nun mal nicht nur Schwarz und Weiß. Genau besehen besteht Europa ja überhaupt vor allem aus Grautönen. Und in denen verberge sich manche Hoffnung, die die Integrationisten in ihrer Hysterie meist übersehen.

Schon wahr, »aber erschüttert der angekündigte Austritt Großbritanniens die EU in ihren Grundfesten nicht doch wie nichts zuvor?« Ja, sagt Krause, das ist schon ein schwerer Schock. Aber viel schwerer als der von 2005, als die Franzosen den europäischen Verfassungsvertrag in einer Volksabstimmung ablehnten, sei er objektiv nicht. Aber gefühlt – diesen Einwand kann man Krause nicht ersparen – natürlich schon, weil der Brexit auf all die anderen Probleme noch oben drauf kommt, die die Union schon seit einigen Jahren tief verunsichern. Es könnte doch sein, dass sich der Brexit mit all den großen und kleinen Krisen der vergangenen Jahre zu einem großen Sturm verbindet, der die europäische Einigung aus den Angeln hebt?

Diese Gefahr besteht gewiss, wie es ja überhaupt nun keine Garantien gegen ein Auseinanderbrechen der Europäischen Union gibt. Aber wer – wie wir – fast zwei Jahrzehnte lang nicht in Seminaren über den Prozess der europäischen Einigung meditiert, sondern ihn aus nächster Nähe beobachtet hat, da also, wo Europa gemacht wird, der neigt eher zur Vorsicht. »Natürlich sind die Probleme groß und es muss etwas geschehen. Aber jetzt hektisch Pläne zu entwerfen und mit der heißen Nadel an neuen europäischen Projekten zu stricken, ist keine Antwort, jedenfalls keine sehr intelligente, im schlimmsten Fall sogar eine gefährliche, weil zerstörerische.« Wir sind uns einig, dass der Brexit zumindest ein Gutes hat: Er zwingt uns darüber nachzudenken, was tatsächlich schief läuft in Europa. Anders gesagt: Es ist an der Zeit, die europäischen Probleme rücksichtslos zu analysieren. Die entscheidenden Fragen sind für uns nicht, ob man den Euro durch eine weitere Feinabstimmung seiner Regeln weniger krisenanfällig oder ob eine Aufrüstung von Frontex die Grenzen der EU sicherer macht. Das Kernproblem der Europäischen Union ist das Auseinanderdriften von Union und Europäern. Die Basis bröckelt. »Warum wenden sich so viele von der EU ab? Warum legen antieuropäische Parteien so kräftig zu? Warum wählen Polen und Ungarn und demnächst vielleicht auch Österreicher europafeindliche Regierungen? Warum nimmt selbst in der politischen Mitte unserer Gesellschaften die Begeisterung für Europa rapide ab?« Das fragen wir uns und das sollte Europa sich fragen.

Die Reaktionen der Regierungen der Mitgliedstaaten der EU sowie deren Bürger auf die Krisen seit 2010 weisen bei allen Unterschieden doch eine Gemeinsamkeit auf: Sie sind Symptome einer europäischen Überforderung. Es scheint uns, dass die Europapolitik sich selbst und den Europäern mehr zugemutet hat, als jeder von ihnen bewältigen konnte. Es ist den europäischen Politikern nicht zu verdenken, dass sie in der Euphorie nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue europäische Epoche anbrechen sahen und den Kontinent – zumindest seinen größeren Teil – auf dem Weg zu einer immer engeren Union wähnten, vielleicht sogar zu einer Föderation. Doch einige der großen Pläne wurden angepackt, indem man ihre Ungereimtheiten entweder kleinredete oder schlicht wegschaute. »Der Euro«, wiederholt Krause seine schon in den 1990er Jahren öffentlich geäußerte Kritik, »hätte noch lange nicht eingeführt werden dürfen. Die Volkswirtschaften entwickelten sich auseinander anstatt aufeinander zu. Eine politische Union war noch in weiter Ferne. Und die praktischen Währungsregeln waren und sind lückenhaft.« Dass die europäische Währung trotz sehr teurer und trotz weiter andauernder Rettungsmaßnahmen der Euro-Länder und der Europäischen Zentralbank zwar aus der unmittelbaren Gefahrenzone heraus, aber weiterhin krisenanfällig bleibt, ist keine besonders gute Werbung für die europäische Idee.

Wie weit große Ideen und europäische Möglichkeiten auseinanderklaffen und in der Realität dann zu gewaltigen politischen Problemen führen, zeigt uns auch die Flüchtlingskrise. Die Empörung darüber, dass einige Länder sich einer europäischen Flüchtlingsquote verweigern und andere nur eine sehr begrenzte Zahl aufzunehmen bereit sind, trägt doch arg heuchlerische Züge. Dass die Europäer sich in der Flüchtlings- und Asylpolitik kaum einig sind, konnte man auch vor der Ankunft der ersten Schlauchboote auf griechischen Inseln wissen. Denn der Wunsch nach einem gemeinsamen europäischen Asylsystem war schon in den Jahren zuvor an der harten europäischen Realität weitgehend gescheitert. Im Überschwang europäischer Gefühle hatten die Staats- und Regierungschefs 1999 ein gemeinsames, europäisches Asylsystem beschlossen, dass nach spätestens zwei bis drei Jahren fertig sein sollte. Nun, die Verhandlungen haben vierzehn Jahre gedauert und herausgekommen ist ein Minimalkonsens über die Behandlung von Flüchtlingen.

»Auch in der Außen- und in der Sicherheitspolitik ist ja vieles nicht so gekommen, wie man es glaubte. Also von Europa als einem globalen Player kann man ja eher nicht reden. Und die Idee, dass man um sich herum einen Kreis friedlicher und befreundeter Länder schaffen könnte, hat die europäischen Kräfte ja wohl weit überstiegen.« Ja, sagt Krause, vielleicht liegt hier ja der eigentliche Kern des Problems. Nach dem Ende des Kalten Krieges und angesichts der heraufziehenden Globalisierung hat sich die Europäische Union als politische, wirtschaftliche und militärische Antwort Europas auf die Herausforderungen einer globalisierten Welt präsentiert. Zugleich hat sie sich mit großer Geschwindigkeit nach Osten und Südosten ausgedehnt. Beides, darin sind wir uns einig, ist ihr nicht gut gelungen, in einigen Teilen sogar »komplett schiefgegangen«.

Die Neigung der europäischen Politik, sich etwas vorzumachen oder vor Problemen die Augen zu verschließen, spielt auch hier eine unheilvolle Rolle. »Der Anspruch der Europäischen Union, die Globalisierung zu beherrschen, anstatt von ihr beherrscht zu werden, aus ihr das Beste für die Europäer herauszuholen und zugleich das europäische Sozialmodell zu bewahren, war nie praktisch unterfüttert und hat in der 2008 einsetzenden Weltfinanzkrise nicht nur versagt, sondern die Menschen bekamen auch das Gefühl, dass dieses Europa vor allem den Banken und der Finanzindustrie hilft«, analysiert Krause die Lage. So erfahren die Europäer die EU – was viele Umfragen aber auch einige Wahlergebnisse zeigen – nicht als Verheißung, sondern als Bedrohung. Für eine Verlagerung wirtschaftlicher und fiskalischer sowie sozialpolitischer Souveränität von den Nationalstaaten auf die Europäische Union findet sich quer durch die Völker keine Mehrheit. »Die teilweise doch sehr irrationalen Reaktionen in Frankreich oder Deutschland auf die geplanten Freihandelsverträge mit Kanada und vor allem mit den USA sind Teil eines gewachsenen ökonomischen und sozialpolitischen Misstrauens in die EU.« Wir könnten es auch so sagen: In einer entscheidenden Phase, in der sich die Welt ökonomisch neu sortiert, hat es die EU nicht geschafft, ihre Bürger von ihrem Nutzen zu überzeugen.

Die Menschen werden auch zunehmend durch eine Politik der Erweiterung verunsichert, die nach dem Ende des Kalten Krieges einsetzte und die von Brüssel auch heute noch immer weiter betrieben wird. Es ist heute müßig – wie wir es früher oft getan haben – darüber zu streiten, ob Länder des ehemaligen Ostblocks zu schnell oder zu langsam aufgenommen worden sind. Und es ist unstreitig, dass »es sich die Europäische Union, die ja ein Versprechen an alle Europäer ist, nicht leisten kann, Polen, Balten oder Ungarn vor der Tür zu lassen«. Aber hat man sich in den Mitgliedsländern und in Brüssel dabei nicht ebenfalls mancher Illusion hingegeben und die Probleme kleingeredet? Wer in der Zeit der Gespräche über die Beitritte in Brüssel darauf hinwies, dass dem einen oder anderen Land doch einige Rabatte zu viel eingeräumt wurden, bekam aus der Kommission in der Regel folgende Antwort: Wenn dieses Land der EU tatsächlich beitritt, dann ist es ein ganz anderes, als das, das wir heute kennen. Sollte sagen, dass allein das Beitrittsverfahren aus einem ehemaligen Ostblockland einen demokratischen Rechtsstaat nach westeuropäischem Vorbild macht. Dass dies eine Illusion war und dass sich die spezifischen politischen, historischen und kulturellen Erfahrungen und Traditionen nicht von einem Tag auf den anderen in die alte, westeuropäisch geprägte EU integrieren lassen, erfährt die Europäische Union nun auf »bittere Weise in Polen, in Ungarn, in Tschechien oder in der Slowakei«. Viel wichtiger aber, wirft Krause ein, ist die Wirkung der Beitritte auf die Menschen, die vollkommen unterschätzt worden sei.

In der Tat hat die Erweiterung nicht nur problematische Folgen für die politischen Strukturen der EU, sondern auch für die politische Stimmung, die in ihr herrscht. Beim britischen Referendum hat die Angst vor einer weiter ungezügelten Arbeitsmigration aus Polen, Rumänien oder anderen EU-Staaten eine wesentliche Rolle gespielt. Die subjektive Angst vor der Konkurrenz von billigen Arbeitskräften aus anderen Ländern ist aber nicht auf Großbritannien beschränkt. Diese Ängste treiben, wie Umfragen zeigen, auch viele Arbeitnehmer etwa in Deutschland um. Das Recht, sich überall in der EU niederzulassen, also eine der Grundfreiheiten des Binnenmarktes, wird von einem nennenswerten Teil der Bevölkerung nicht mehr nur als Freiheit, sondern auch als Gefahr wahrgenommen. Das befördert anti-europäische Stimmungen. »Genauso wenig übrigens wie die Unübersichtlichkeit der Grenzen, die wir uns mit der großen Erweiterung eingehandelt haben.« Krause würde zwar nicht ganz so weit gehen, aber es lässt sich kaum übersehen, dass Europa sein den Europäern gegebenes Versprechen von sicheren Außengrenzen schon lange nicht mehr einlösen kann. Der Deal – wir verzichten auf die inneren Grenzen, dafür werden die nach außen gesichert – hat sich spätestens mit dem Ansturm von Flüchtlingen auf der Balkanroute aber auch über das Mittelmeer als sehr wackelig erwiesen. Für das Ansehen und die Akzeptanz der EU ist das verheerend.

»Dass die Kommission und das Europaparlament in dieser Lage auch noch in Konfrontation mit den Mitgliedstaaten die Macht der europäischen Zentrale zu vergrößern suchen, ist da ziemlich kontraproduktiv.« Nun könne Brüssel sich ja nicht einfach zurückhalten und die Probleme schleifen lassen, wendet Krause ein. Aber in der Tat wird es zu einem Problem, wenn die Menschen die europäische Zentrale in diesen schwierigen Zeiten als sehr weit weg und als sehr volksfern empfinden. Da helfen auch Spitzenkandidaten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht viel. Die nüchterne Wahrheit ist, dass die Menschen sich vor allem und viele sogar ausschließlich an ihren nationalen Hauptstädten orientieren.

Steuert Europa also doch auf eine Katastrophe zu? Die Frage beschäftigt uns schon lange und die Antwort heißt Ja und Nein. Ja, wenn der Politik als Rezept gegen die europäischen Malaisen nur immer mehr Europa und immer ambitioniertere europäische Projekte einfallen. Das würde das Grundübel der Überforderung nur noch vergrößern. »Die nächsten Volksabstimmungen gegen Europa sind da schon absehbar.« Noch eine Niederlage beim Volk, etwa bei der Frage, ob die Sozialpolitik künftig zentral von Brüssel aus betrieben wird, würde mit Sicherheit das Ende der EU einleiten. Nein, die Katastrophe tritt nicht ein, wenn sich die europäische Politik ein tiefes Durchatmen gönnt, ihre Probleme nüchtern betrachtet, sich da zurücknimmt, wo sie sich übernommen hat – und sich auf die eigentliche Stärke der europäischen Einigung besinnt. Denn die, darin sind wir uns einig, ist derzeit zwar kaum gefährdet, aber das muss ja nicht so bleiben.

Diese Stärke ist ein Grundgefühl des Wohlbefindens, das sich über die Jahrzehnte Stück für Stück aufgebaut hat. Jenseits der Krisen, der Überforderung und der wachsenden Distanz zu den Berufseuropäern, schätzen die Europäer ihre Union ja durchaus als einen Raum, in dem sich friedlich leben lässt. Selbst auf dem Höhepunkt der Euro-Krise zeigten alle Umfragen, dass die Europäer weder das (zoll)freie Reisen noch das friedliche Zusammenleben, das Studieren oder die Freundschaften quer durch den Kontinent aufgeben wollen. Das ist eine solide Basis, »aber auch die will gepflegt sein«, sagt Krause. Dass es heute keinen staatlich betriebenen, aggressiven Nationalismus mehr in Europa gebe und dass die Völker ihm auch nicht mehr folgen würden, sei ein Verdienst der geduldigen politischen und kulturellen Aufbauarbeit der frühen Europäer wie Schuman, Adenauer oder de Gasperi. »Es war aber ein Fehler zu glauben, dass man dieses Europa, das die Menschen zu schätzen gelernt hatten, ruckartig zu einem globalen Akteur mit immer mehr zentralistischen Elementen machen könne.«