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Über dieses Buch:

Eine Rallye um den Starnberger See – Rieke freut sich auf die Gelegenheit, endlich mal abzuschalten. Als sie allerdings erfährt, dass sie mit dem kurzangebundenen Bob in einem Auto sitzen soll, ist ihre Laune dahin. Doch je mehr Herausforderungen sich das unfreiwillige Team auf ihrer Route stellen muss, desto näher kommen sich die beiden. Aber so eine Rallye dauert nicht ewig – und schon bald muss Rieke zurück nach Berlin. Das Leben führt sie immer wieder zueinander, doch Bob lebt im fernen Mexiko. Kann Rieke alle Brücken abreißen, um Bob in ein unbekanntes Leben zu folgen?

Über die Autorin:

Barbara Noack, geboren 1924, hat mit ihren fröhlichen und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte geschrieben. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten.
Ihr erster Roman »Die Zürcher Verlobung« wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher die Autorin verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität.

Barbara Noack veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Die Zürcher Verlobung«, »Der Bastian«, »Danziger Liebesgeschichte«, »Drei sind einer zuviel«, »Brombeerzeit«, »Das Leuchten heller Sommernächte«, »Die Melodie des Glücks«, »So muss es wohl im Paradies gewesen sein«, »Jennys Geschichte«, »Der Duft von Sommer und Oliven«, »Der Zwillingsbruder«, »Auf einmal sind sie keine Kinder mehr«, »Was halten Sie vom Mondschein?«, »Valentine heißt man nicht«, »Der Traum eines Sommers« und »Eine Handvoll Glück« sowie »Ein Stück vom Leben«, die auch im Doppelband »Schwestern der Hoffnung« erhältlich sind. Auch bei dotbooks erschienen ihre Erzählbände »Flöhe hüten ist leichter«, »Eines Knaben Phantasie hat meistens schwarze Knie« und »Ferien sind schöner« sowie der Sammelband »Valentine heißt man nicht & Der Duft von Sommer und Oliven«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2016

Copyright © der Originalausgabe 1977 by Albert Langen – Georg  Müller Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Viktoria Drobotava und Jenny Sturm

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-898-4

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Barbara Noack

Das kommt davon, wenn man verreist

Roman

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1. Kapitel

In der Straße, in der Friederike Birkow wohnte, hatte man den Baumschatten gefällt, die alten, unrentablen Villen abgerissen und dafür Luxuseigentümlichkeiten im Bunkerstil erstellt, mit Balkonen, die an die verbeulte Visage eines Verlierers im Boxring erinnerten.

Zwischen diesen senfgelb-lutscherrot gestrichenen Bauten stand noch ein langgestrecktes, zweistöckiges Gebäude mit viel Stuck, Schimmelflecken und eisernen Balkonen, von denen einer wegen Absturzgefahr nur noch von Schüsseln mit kaltzustellenden Speisen betreten werden durfte.

Hier wohnte Friederike Birkow mit ihrem Freund Sixten Förster gerne. Nie wieder würden sie unter so hohen Bäumen in so großen Räumen so preiswert Unterkommen – mit Flieder und Jasminhecken drum herum.

Der Taxifahrer, der Friederike und ihre schweren Markteinkäufe heimgebracht hatte, schaute kurz auf das Haus. »Den Schuppen kenn ick. Hab hier öfta mal ’ne Fuhre, ’ne olle Oma. Det soll hier ooch noch abjerissen wem. Bloß die kriejen die Mieta nich raus. Nu hamse Fremdarbeeta in die leerstehenden Wohnungen jesetzt, damit se die Mieta verjraulen sollen. Damit die freiwillig jehn, vastehn Se? Türken und so wat hamse rinjesetzt. Allet Kanaken, det.«

»Kanaken?«

»Na, Mann, ebend Kanaken. Fragen Se die Oma.« Er brach ab und hing mit seinem Ellbogen aus dem heruntergekurbelten Fenster, während Friederike das Gartentor aufstieß und ihre Einkäufe hineinzuwuchten versuchte, ehe es wieder zufiel.

»Saren Se bloß, Sie wohnen ooch hier.«

»Ja. Was dagegen?« Als sie auf die Haustür zuging, wurde diese von innen aufgerissen. Mandeläugige Kinder brachen kreischend in den Hof ein, gefolgt von einer alten Dame, die sie vor sich herscheuchte wie Hühner aus einem Ziergärtchen. Das war Frau von Arnim, die Oberstwitwe aus der ehemaligen Beletage.

»Schrecklich, Fräulein Birkow, schrecklich, schrecklich«, jammerte sie auf Friederike ein. »Sie toben den ganzen Tag durch die Flure und richten nichts wie Schaden an. Und was das Schlimmste ist – sie werden immer mehr! Sie vermehren sich wie die Karnickel, während unsere Geburtsziffern ständig rückläufig sind. Wo soll das einmal hinführen? Bevölkerungspolitisch, meine ich. Haben Sie sich das mal überlegt, Fräulein Birkow? Eines Tages – und er ist nicht mehr ferne – werden wir ganz in türkischer Hand sein. Ein Glück, daß ich das nicht mehr erleben muß.«

Zusammen mit der Witwe betrat Rieke das Haus.

In der ehemaligen Eingangshalle verblaßten die Lilien auf der Wandbespannung zwischen hölzernen Paneelen. Rußspuren an der rechten Wand stammten von einem lange zurückliegenden Brand. Wenn man sie intensiv anschaute, rochen sie immer noch danach.

Und außerdem roch es nach angebrannter Milch im Haus.

»Sagen Sie, Frau von Arnim, was sind eigentlich Kanaken?«

»Kanaken!« Ein Blick voll abstandnehmender Verwunderung traf Friederike. »Das wissen Sie nicht, Fräulein Birkow?«

»Ich habe das Wort zwar schon oft gebraucht, aber was es bedeutet…«

»Kanaken sind Untermenschen!«

»Ehrlich?«

»Und so nannte man sie schon in meiner Jugendzeit.«

Vor der Arnimschen Wohnungstür verabschiedeten sich die beiden Frauen mit einem Nicken. Friederikes Wohnung befand sich im zweiten Stock auf der Gartenseite.

Vor der Tür lag noch die Post – ein Brief für Sixten ohne Absender und zwei Reklamesendungen.

Der Geruch nach angebrannter Milch kam übrigens aus ihrer Wohnung.

Sixten stand barfuß in einem T-Shirt, das er auch als Nachthemd benutzte, am Herd und rührte Mandelpudding. Die einzige Veränderung an seinem Äußeren seit ihrem Fortgehen heute morgen: Es war eine ausgefranste Jeanshose hinzugekommen.

Sixten liebte Pudding leidenschaftlich. Leider brannte er ihn jedesmal an, aber solange er selbst die Töpfe scheuerte …

»Du schon zu Haus?«

»Heut’ ist Samstag.«

»Stimmt ja. Wenn jeder Tag damit beginnt, daß man nach dem Frühstück Feierabend hat, weiß man bald überhaupt nicht mehr, was für ’n Wochentag ist.«

Immer dieses Selbstmitleid! Es war schon ein Kreuz mit dem arbeitslosen Sixten. Anfangs hatte er sich wenigstens um den Haushalt gekümmert, hatte repariert und Blumen gegossen und den Müll heruntergetragen. Jetzt stand er nur mehr als vorwurfsvolles Ausrufungszeichen in der Gegend herum, meistens Friederike im Wege.

Seine einzige Aktivität: Er ließ Pudding anbrennen.

Sixten und Friederike hatten einen Hund, den Plumpsack-geht-um. Zur Hälfte war er ein ungarischer Hirtenhund, zur anderen seit Generationen Promenadenpotpourri; sein Fell erinnerte an einen schmutzigen Flokati-Teppich.

Plumpsack rutschte Glied für Glied von seinem Balkonstuhl und bewegte sich wedelnd auf Riekes Einkaufstaschen zu. Er hängte seine Schnauze in eine hinein und brachte sie zum Umfallen. Äpfel kollerten durch die Küche, Unterkünfte aufsuchend, unter denen sie schwer hervorzuangeln waren.

»Wozu brauchen wir so viele alte Äpfel, Rieke?«

»Sonderangebot.«

»Du weißt, mir schmeckt nichts, wovon wir zuviel haben.« Sixten aß nicht gern Belastungen, schon gar keine verschrumpelten.

»Dann mach Appelmus draus.« Die Anschaffung begann, nun auch Friederike lästig zu werden. »Ich hab’ wegen dem Zeug schon ein Taxi nehmen müssen.«

»Taxi!« Ein Sonderangebot, das Taxi fährt! »Hattest du nicht die Karre mit?«

»Sie ist mir weggestorben.«

»Wo?«

»Am Rathenauplatz.«

»Oh, das kenn ich. Da bleibt sie gern stehn. Und jetzt?«

»Steht sie noch immer da.« Rieke packte ihre Einkäufe auf den Küchentisch. »Was sind eigentlich Kanaken?«

»Kanaken? Wie kommst du ’n plötzlich auf Kanaken?«

»Ich hab’ zuerst gefragt.«

»Na gut«, sagte er, »Kanaken sind diese schwarzen, widerlichen Käfer. Meine Großmutter hatte mal welche, als sie über einer Backstube wohnte. Aber das war noch in Stockholm.«

»Du meinst Kakerlaken, Sixten Förster.«

»Auch gut«, er schüttelte seinen Pudding in eine Glasschüssel, »was werden wir uns streiten«, schüttete Vim in den Kochtopf mit dem schwarzen Boden, goß Wasser drauf, murmelte: »Erst mal einweichen«, und hatte somit einen plausiblen Grund vor sich selbst, das Scheuern des Topfes auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben.

»Es ist ein Brief für dich gekommen«, sagte Friederike.

»Wo? Von wem? Zeig mal!« So gespannt reagierte nur jemand, dessen Leben seit einiger Zeit ereignislos geworden war.

Er las ihn gleich in der Küche, und Friederike sah ihm dabei zu.

Es mußte ein erfreulicher Brief sein, denn Sixtens von Natur aus breiter Mund wuchs über seine Winkel hinaus himmelwärts. Bei anderen hätte man gesagt: er grient. Aber in diesem gutmütigen, großflächigen Stoffelgesicht vollzog sich das Mimische bedeutend umständlicher. Sixten war überhaupt kein spontaner Typ und immer froh, wenn ihm jemand die Initiative abnahm. Manchmal machte es Rieke nervös, daß er so war, wie er war – so bedächtig und völlig ungesalzen. Dann schrie sie ihn grundlos an. Er schrie nie zurück. Seine Verletzlichkeit wurde höchstens in seinen von niedrigen, dichten Brauen überdachten Augen sichtbar.

Auch die Geduld, die er im Umgang mit ihr aufbrachte, machte sie zuweilen so ungeduldig. Und immer hatte sie ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen.

Sixten hatte den Brief zu Ende gelesen und sagte etwas für seine Verhältnisse geradezu Pathetisches: »Ich freß ’nen Besen und die Putzfrau dazu.«

»Was ist es, sag doch mal, ist es etwa eine Zusage?« Rieke hoffte es so sehr. Sie sah ihn zweimal die Woche Bewerbungsschreiben tippen, wobei er das Zweifingersystem bevorzugte.

»Nein. Von Pauli Herwart. Stell dir vor! Du weißt doch …«

Friederike wußte, wer Paul Herwart war. Immer, wenn Sixten einen sitzen hatte, fiel ihm die herrliche Zeit ein, die sie gemeinsam in Berlin verbracht hatten. Paul war damals im letzten Jahr auf der Werbefachschule und Sixten im zweiten Semester Betriebswirtschaft und noch so voller Unbedenklichkeit, was seine Zukunft anbelangte.

»Was schreibt er denn?«

»Da, kannst ja selber lesen.« Er gab ihr eine Klappkarte mit einer karikierten Rennsemmel auf dem Deckblatt.

Rieke las:

»Lieber Sixten!

Am 15. 6. startet unsere vierte Juxrallye. Wir laden Dich herzlich dazu ein und hoffen, daß Du Zeit und Lust hast, mitzumachen.

Sag uns bitte bis zum 1. Juni Bescheid. Für billige Unterkunft wird gesorgt.

Wir versprechen, daß es wie immer eine Gaudi wird.

Herzlichst

Ilonka und Paul.«

Dieser Text war vorgedruckt, nur Sixtens Name nachträglich eingesetzt. Unter der Unterschrift der beiden Veranstalter stand ein handgeschriebenes Postskriptum.

»Grüß Dich, Sixten, sechster Enkel eines schwedischen Pastors!

Ewig nichts von Dir gehört. Habe mit Mühe über Charly Deine Adresse erfahren. Wie geht’s Dir? Was machst Du? Hoffe stark, Du kommst zu unserer Rallye. Das wäre endlich eine Gelegenheit, Dich wiederzusehen. Du wohnst natürlich bei uns. Lonka ist begierig, Dich kennenzulernen. (Anmerkung: Lonka ist seit einem Jahr mein Mädchen und wird es wohl auf unabsehbare Zeit noch bleiben.)

Solltest Du ebenfalls über eine feste Trulla verfügen – oder sie über Dich, was wahrscheinlicher ist dann bring sie mit. Und vergiß Deine Kamera nicht.

Wir erwarten Dich – bzw. Euch – am Freitag, dem 14.Juno.

Absagen gilt nicht.

Es grüßt

Dein Dich liebender

Herwart, Paul.«

Friederike gab ihm den Brief zurück und lachte. »Dein Paul hat vielleicht Nerven. Glaubt, du könntest so einfach übers Wochenende nach München jetten.«

»Er hält mich eben für einen Erfolgsmenschen. Er hat mich lange nicht gesehen.«

Und dann sprachen sie nicht mehr über den Brief. Rieke fiel ein, daß sie dringend die Balkonblumen gießen mußte.

Sixten riet ihr, sich damit zu beeilen, damit sie es noch vor dem Regen schaffte.

Er legte sich mit der Zeitung, die sie aus der Stadt mitgebracht hatte, aufs Sofa. Das war ein ehemaliges, zur Vernichtung bestimmtes Sperrmöbel wie alles andere in dieser Wohnung, aber von Rieke gefällig aufgearbeitet. Wozu hatte sie schließlich das Polstern und Schreinern gelernt?

Es war Samstag mittag, und sie hatten so gar nichts Erfreuliches für dieses Wochenende vor. Höchstens einen Spaziergang mit Plumpsack um den Grunewaldsee, das Auto vom Rathenauplatz nach Hause schieben und vielleicht noch abends ein Bier und Skat mit Charly, einem engagementlosen Schauspieler.

Rieke war gerade dabei, die letzten Stiefmütterchen zu gießen, als dicke Tropfen auf ihre Blütengesichter niederklatschten: die Ouvertüre zu dem von Sixten prophezeiten Regen. »Was ist eigentlich eine Juxrallye?«

»Tja, wie soll ich dir das erklären? Eine Juxrallye – das ist wie eine Sternfahrt.«

»Und was ist eine Sternfahrt?«

»Eine Art Fährtensuche auf Rädern mit Rätselraten und Geschicklichkeitsübungen.«

»So was wie bei Karl May?«

»Nein.«

»Und wofür soll das gut sein?«

Manchmal hatte sie eine Art, Fragen zu stellen, die selbst Sixten auf die Palme brachte – zumindest auf eine Palme von Zimmerhöhe.

»Muß denn immer alles bei dir einen Sinn haben? Möglichst noch einen produktiven? Kannst du mir mal sagen, ob da vielleicht ein Sinn drin ist, wenn du stundenlang Pilze suchst und am Ende die meisten wieder wegschmeißt?«

»O ja, sogar mehrere«, verteidigte sich Rieke und nahm beim Aufzählen der Gründe ihre Finger zu Hilfe. »Erstens: Ich suche sie so gern. Zweitens: Ich bin dabei im Wald und geh’ spazieren. Das ist gesund. Und drittens: Wenn ich diejenigen Pilze, denen ich nicht traue, wieder wegwerfe, ist das noch mal sehr gesund, auch für dich. Also!«

Sie räumte die Kissen vor dem Regen aus den Balkonstühlen und warf sie in ihren einzigen Sessel, in dem schon Plumpsack Platz genommen hatte. Er grunzte unwillig, für mehr Protest war er zu faul.

»Eigentlich wär’s ganz schön, für ’n paar Tage hier rauszukommen«, sprach Sixten in den Sportteil seiner Zeitung.

Diese Feststellung machte Friederike stutzig. »Sag bloß, du willst wirklich nach München fahren?«

Er gab darauf ein Wort von sich, das wie »tschnjan« klang und ein Ja aus Feigheit vernebelte. Wenn einer seit Monaten zum Haushaltsetat nur seine Arbeitslosenunterstützung beisteuern kann, befällt ihn bei jedem geäußerten Extrawunsch ein Schuldkomplex.

»Etwa mit ’m Flieger?« fragte Rieke.

»Ich dachte, mit dem Auto.«

»Mit unserem?« staunte sie.

»Na ja …« Ganz geheuer war ihm bei dieser Vorstellung auch nicht.

»So wie ich das Modell inzwischen kenne, bleibt es spätestens in Michendorf stehen, und dann stehst du da – und das in der Zone.«

»Heißt das, du stehst nicht da?«

»Nein, Sixten. Fahr alleine. Es ist ganz gut, wenn wir mal ein paar Kilometer zwischen uns legen.«

Er widersprach nicht.

Seit einiger Zeit kriselte es in ihrer Gemeinsamkeit. Daran mochte seine Untätigkeit schuld sein und sein Phlegma, aber ebenso ihre Energie, die alles vorantrieb, auch das, was gar nicht getrieben werden wollte. Sie war so furchtbar tüchtig. Ihre Ordnungsliebe bereitete ihm ständig Unbehagen und vor allem ihr rasches, logisches Denken, mit dem sie auch in sein Leben System zu bringen versuchte.

Einerseits war es zweifellos bequem, Verantwortung auf Friederike abzuwälzen. Andererseits erzeugte das enge Zusammenleben mit einer so fabelhaft tatkräftigen Person ein chronisch schlechtes Gewissen im weniger vollkommenen, in seiner Unvollkommenheit nicht unzufriedenen Sixten. Um dem für eine Weile zu entgehen, erschien ihm München doppelt reizvoll.

»Die Arnim hat gesagt, ich soll ihre Küche und den Flur streichen«, erinnerte er sich.

Diesen Überlegungen entnahm Rieke, daß er sich bereits Gedanken um die Beschaffung des Fahrgeldes machte.

Am Abend regnete es noch immer. Mit dem gleichmäßigen Rauschen und dem ungleichmäßigen Schütten aus der defekten Regenrinne drang Geschrei durch die offene Balkontür.

Am Wochenende brachte man sich in diesem Hause besonders gern um. Solange das Streiten nur schrill klang, ging es ja noch. Wenn aber das Schrillen in Gellen überging, war der Moment gekommen, da Frau von Arnim die Funkstreife alarmierte.

Sie war ständiger Gast auf diesem Anwesen. Man rief sie immer wieder, obgleich ihre Beamten die fatale Angewohnheit hatten, unparteiisch zu schlichten. Nach Meinung der deutschen Bewohner gaben sie den Türken zuwenig Schuld, und nach Meinung der Türken hielten sie ständig zu ihren eigenen Landsleuten.

Es gab Momente, da hatte Friederike diesen deutsch-türkischen Kleinkrieg so satt. Den Krieg und den Alltagstrott. Und überhaupt alles.

Ich muß hier mal raus, dachte sie. Ich muß hier dringend mal heraus. Seit drei Jahren hatte sie keinen Ferientag mehr gehabt. Wann war sie eigentlich das letzte Mal in München gewesen?

»Du, Sixten …«

Er sah fragend von seinem Spiegel auf, sah sie vor der geöffneten Balkontür stehen und hinausschauen. Mußte ziemlich lange auf das warten, was sie ihm sagen wollte. Er hatte dabei ausführlich Gelegenheit, die lange Rieke zu betrachten.

Sie besaß weibliches Gardemaß. Ihre Schultern waren leicht vorgebeugt, eine typische Haltung bei Mädchen, denen ihr Busen peinlich ist. Man trug ja heute keinen mehr. Er war vom modischen Standpunkt aus ordinär. Aber wohin mit ihm, wenn er nun einmal da war? Also hielt sie sich gekrümmt.

Abgesehen von diesem Busen, den sie als Ärgernis empfand, war Friederike jungenhaft schlank. Das linke Bein zog sie kaum merkbar nach, als Folge des kindliches Experimentes, mit Hilfe eines Bettvorlegers »Fliegender Teppich« von einem Garagendach gespielt zu haben.

»Du wolltest was sagen«, erinnerte Sixten, eine Zigarette drehend.

»Ja, ich – eh – weißt du …«

»Sprich dich ruhig aus«, ermunterte er sie, während er die tabakgefüllte Papierwurst an beiden Enden aufklopfte.

Rieke wandte sich ins Zimmer um. »Ich fürchte, mein plötzlicher Wunsch, mit nach München zu fahren, ist stärker als mein Wunsch, dich ein paar Tage los zu sein. Und wenn mir noch einfällt, wo ich das Reisegeld hernehme, komme ich ganz bestimmt mit.«

2. Kapitel

Am Freitag, dem vierzehnten Juni, gegen achtzehn Uhr, trafen Friederike Birkow, Sixten Förster und Plumpsack-geht-um in München ein, Plumpsack für dieses Reiseabenteuer frisch gebadet und mühsam entfilzt, mit Tollwutspritze und amtstierärztlichem Impfzeugnis versehen, zum ersten Male über Land.

Sieben brühwarme Stunden lang hatte er – abwechselnd über Riekes oder Sixtens Knie jachelnd, aus dem Fenster geschaut, das die Sonne zeitweise in ein Brennglas verwandelte, und durfte nicht einschlafen wegen dem Fuchs. Der Fuchs hatte in Höhe von Dessau an der Autobahn gesessen, und Plumpsack wäre am liebsten durch die Scheibe … Von Dessau bis München wehrte er sich gegen den Schlaf in der Hoffnung, irgendwo am Autobahnrand noch einmal dem Fuchs zu begegnen.

Den Wagen, mit dem sie nach München fuhren, hatte ihnen eine Mitfahrzentrale vermittelt. Es war dies die billigste Reiseart nach Trampen.

Außer seinem Besitzer, einem Vertreter für japanische Papierservietten und Hongkong-Nippes, saß noch eine Pediküre aus Berlin-Steglitz auf den Vorderplätzen. Die konnte sieben lange Worte in einer Sekunde sprechen, und das immerzu.

Betäubt von ihrer Rederitis und durch und durch gar, dank der Backofentemperatur im Innern des Autos, erreichten sie die Ohmstraße in München und glitten an ihrer eigenen, zu Höchstleistungen angetriebenen Transpiration aus dem Auto.

Hier standen sie nun zerknittert, mit ihren Reisetaschen, in der ausgestorbenen Straße auf dem noch immer sonnenheißen Asphalt und ließen die Arme flattern in der Hoffnung auf Kühlung.

»Wir sind da. Wir sind verreist«, freute sich Sixten. »Plumpsack, wir sind verreist! Verreist!« Und das so lange, bis er ihm bellend zwischen die Beine fuhr.

Rieke träumte von einer kalten Dusche.

Sixten träumte von einem Bier, so kalt, daß es zischte, ach was, so eisig, daß man es lutschen mußte.

Für seine schwerfälligen Verhältnisse schäumte er geradezu vor Übermut. Sie studierten die Namensschilder am Eingang des Hauses, vor dem sie der Fahrer abgesetzt hatte. In der vierten Etage links fanden sie »Herwart/Dittler«.

»Das ist er. Aber wer ist Dittler?«

»Wahrscheinlich seine Ilonka.«

Sixten schoß seinen Zeigefinger fünfmal in den Klingelknopf. »Das war unser Zeichen damals«, und schaute am Haus hoch. Er erwartete wohl, daß sein Freund Paul im selben Augenblick ein Fenster aufreißen und an einem Schirm hängend heruntersegeln würde.

»Weißt du«, sagte er, als sie die Treppen hinaufstiegen, »die Rallye ist mir wurscht. Aber der Abend heute mit Pauli, auf den freu ich mich wie blöd.«

Paul Herwart empfing sie in der Tür. Sixten klatschte ihm seine Begrüßungsarme so heftig auf den Rücken, daß ein hinzukommendes Mädchen staunend feststellte: »Pauli, du klingst innen ganz hohl.« Dabei trat sie Plumpsack versehentlich auf die Zotteln, er heulte wehklagend.

Das Mädchen kniete nieder, um den Getretenen zu trösten, der Getretene zeigte ihrem Mitleid warnend die Zähne.

»Er ist völlig mit den Nerven runter«, entschuldigte Friederike sein Verhalten, »es war seine erste Reise in einem Backofen.«

Das Mädchen gab ihr die Hand. »Ich bin Lonka. Grüß dich.«

Unter dem Namen Ilonka Dittler hatte sie sich ein ganz anderes Mädchen vorgestellt – molliger, löckchenhafter, mehr schwäbisches Paprika.

Lonka war ein sportlicher Typ. Sie hatte ein herzliches Lachen voll unregelmäßiger Zähne und einen zuverlässigen Handschlag.

Und sie hatten zu Sixtens und Riekes stummer Enttäuschung die ganze Wohnung voll Besuch.

»Alles Rallyeteilnehmer«, erklärte sie. »Ich stell’ euch jetzt vor.« Sie hatte Mühe, sich gegen das Geschnatter durchzusetzen. »He – seid’s doch mal – Kruzinesen – könnt ihr nicht zwei Minuten die Goschen halten? Ich möchte euch mit Friederike Birkow bekanntmachen und mit Sixten Förster, Pauls Intimspezi aus unheimlich männlichen Berliner Tagen.«

Lonka führte Rieke von Sitzgruppe zu Stehgruppe.

Man sah gestört auf, lächelte flüchtig und kehrte zu seinem Gespräch zurück.

Es war doch immer wieder ein gemütliches Gefühl, als bedeutungsloser Fremder in eine geschlossene Gesellschaft einzudringen, stellte Rieke fest und hatte nun auch Lonka verloren, die neue Gäste begrüßen mußte.

Paul sah sie verloren in der Gegend stehen, links ein Bier und rechts den schlafenden Plumpsack an der Leine, und zog einen jungen Mann aus einem Gespräch mit einem andern jungen Mann.

»Geh, Bussi, kümmer dich ein bissl um den langen Fritz da aus Preußen«, wobei er auf Rieke zeigte.

So kam Friederike zu Bussi Laube und seinen Aufmerksamkeiten. Er stand plötzlich vor ihr mit einer Nickelbrille vom Flohmarkt auf der Himmelfahrtsnase, mit Haaren wie Scheitelgardinen und einem Grinsen, das Vertrautheit um sich streute.

»Ich darf mich um dich kümmern, Friederike.«

Von nun an teilten sich Bussi und Rieke einen Stuhl und ein Bierglas, und Bussi packte aus. »Damit du weißt, was hier gespielt wird. Also: Die meisten anwesenden Figuren nehmen schon zum dritten- oder viertenmal an unserer Rallye teil. Anfangs waren das lauter Liebespaare und ihre engsten Freunde. Inzwischen treffen sie sich nur noch einmal im Jahr – eben zu dieser Rallye, und die Hälfte von ihnen schaut sich nicht mehr mit dem Hintern an. So wenig Verlaß ist auf Gefühle. Ein Glück, daß immer wieder neue hinzukommen – so wie du.«

»Ich bin gar nicht richtig eingeladen, bloß so mitgefahren«, sagte Rieke.

Bussi beschaute sich nun den Plumpsack.

»Ist der auch aus Berlin gekommen? Hat er schon ein Glas?«

»Nein.«

»Was trinkt er? Bier? Wasser? Milch?«

Auf dem Weg zur Küche mußten sie ein Verkehrshindernis umrunden, das den vorderen Flur ganz ausfüllte; eine Gruppe junger Leute, geschart um eine alles beherrschende weibliche Stimme: »Es ist wahnsinnig, ich sag’s euch, echt wahnsinnig, was in unserer Gegend geklaut wird. Es gehört geradezu zum Image, eingebrochen worden zu sein. Meine Mutter war schon ganz unruhig, weil man uns bisher übergangen hatte. Die Nachbarn konnten ja denken, bei uns sei nix zu holen.«

Zu der Stimme im unterkühlten Partyleierton gehörte ein magerer Rücken mit hochangesetzten Hüften und festem Gesäß in Jeanshäuten. Zwischen den Schenkeln durfte der Wind durchpfeifen, wenn er mochte.

Jetzt wandte sich das Mädchen um und umarmte Bussi. »Hei – Sportsfreund, geht’s dir denn? Hast du’s in der Zeitung gelesen? Bei uns ist eingebrochen worden. – Na wahnsinnig, sag’ ich dir, echt wahnsinnig …« Und noch einmal das Ganze von vorn.

Friederike betrachtete bewundernd den langen, zerbrechlichen Hals des Mädchens, von dem sie so viel Gebrauch machte wie ein Schwan oder ein afghanischer Windhund. Er war ständig in Bewegung, und mit ihm die blonde Mähne.

Sie war übrigens nicht allein gekommen, sondern mit einem Mann, der ihre Zartheit immer wieder in den ausladenden Bereich seiner Schulter zog und offensichtlich bis zur Verblödung verliebt sein mußte. Nur so war es zu erklären, daß er die siebenundzwanzigste Wiederholung der Einbruchstory unbeschadet überstand.

An diesem jungen Mann fielen Rieke vor allem die mahagoniroten Haare auf, und ein halbes Kilo Sommersprossen.

»Wer ist das Mädchen?« fragte sie Bussi.

»Die Vera.«

»Nett?«

»Naja, wir sind nicht direkt unser Typ.«

»Was macht sie?«

»Arbeitet in einer Kunstgalerie. Das heißt, sie sitzt da herum und tratscht. Hauptberuflich aber ist sie Prominentenhalsnasenohrenarzttochter. «

»Und der Mann dazu?«

»Der Rote? Kenn’ ich nicht. Das scheint ihr neuer Vortänzer zu sein.«

Inzwischen waren alle Rallyeteilnehmer eingetroffen, und Paul hielt eine angenehm kurze Rede:

»Fein, daß ihr so zahlreich erschienen seid. Morgen um zwölf ist Start in Starnberg. Seid bitte pünktlich, auch wenn’s schwerfällt. Die genaue Adresse steht auf den Zetteln, die Lonka gerade verteilt. Außerdem kriegt jeder von euch eine Liste mit den Gegenständen, die er zum Lösen der Extraaufgaben mitbringen muß. Das wär’s. Wer Fragen hat, bitte jetzt–!«

Es meldete sich sogleich ein Mädchen. »Hier steht, wir sollen ein Messer mitbringen. Was für eins?«

»Na, eins mit Klinge, mit ’m Griff und ’ner Schneide vielleicht.«

»Ein großes oder ein kleines?«

»Ich würde sagen, eins, das in dein Auto paßt.«

»Okay«, sagte das Mädchen und schrieb es auf.

Rieke hatte auch eine Liste bekommen und las sie halblaut vor:

1. eine Wanderkarte

2. ein Messer

3. ein wasserdichter Behälter

4. ein Fernglas

5. Bastelzeug

6. Nähzeug

7. Badesachen

8. Schreibzeug

9. Zeichenblock

10. Schere

11. eine Säge

12. einen Zitatenschatz bzw. Lexikon und viel gute Laune.

»Du meine Güte«, ihre Miene war in Besorgnis getaucht, »wo nehm’ ich das alles bis morgen Mittag her? Ich hab’ einen Kulturbeutel aus Berlin mitgebracht, aber keine Säge. Wer reist denn auch mit Säge?«

»Borg dir die Sachen von Lonka und Pauli«, riet Bussi. »Du wohnst doch bei ihnen. Und den Rest pumpst du dir im Haus zusammen.«

»Aber ich kenn’ hier keinen einzigen Mieter.«

»Du sollst sie nicht kennen, du sollst sie anpumpen!« Friederike dachte einen Augenblick über Bussis Ratschläge nach. Dann nickte sie. »Ich lerne zu.«

»Außerdem brauchst du nicht alles selber mitzubringen. Dein Partner muß ja auch anschaffen.«

»Mein Partner? Wer ist mein Partner?«

»Das entscheidet das Los.«

»Oh!« sagte Friederike. »Ich bin auf Nieten abonniert.« Und Bussi, zuversichtlich: »Dann ziehst du sicher mich.« Sie hätte nichts dagegen gehabt. Schließlich war Bussi Laube ihr einziger Vertrauter in diesem Kreise.

»Ich würde ganz gerne mit dir«, sagte er nach einem gründlichen Seitenblick auf Rieke. »Obgleich es vielleicht schöner aussähe, wenn ich einsachtzig wäre und du einsneunundsechzig.«

»Ich bin bloß einsachtundsiebzig«, versicherte sie ihm.

»Und außerdem sind das voremanzipationelle Vorurteile, daß der Mann größer sein sollte als die Frau«, beruhigte er seine Eitelkeit.

Lonka ging mit einem Trachtenhut voller Lose herum. Daraus mußten sich die weiblichen Teilnehmer der Rallye ihren Partner ziehen. Die erste, die hineingriff, war trotz ihrer Jugend eine fraulicher, ernsthafter Typ.

Während sie ihr Los entrollte, klärte Bussi Friederike auf. »Das ist Gundi Ferstl. Sonderschullehrerin. Ganz nett.«

Gundi las laut den Namen vor, der auf ihrem Los stand: »Martin Laube«, und hielt sich vor Überraschung den Mund: »Uiiii – der Bussi!«