Informationen zum Buch

Die Weihnachtszeit in Rocklin, Colorado, gerät bei den Bandinis, italienischen Einwanderern in ärmlichen Verhältnissen, zur großen Krise. Svevo, der Vater des jungen Arturo Bandini, verliebt sich in die reiche Witwe Hildegarde, und seine Frau kratzt ihm aus Eifersucht beinahe die Augen aus. Auch der vierzehnjährige Arturo wandelt auf Freiersfüßen. Doch die schöne Rosa, die er anbetet, will von ihm nichts wissen …

S-2.tif

John Fante

Warte bis zum Frühling, Bandini

Roman

Aus dem Amerikanischen von Alex Capus

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Über John Fante

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Dieses Buch widme ich

meiner Mutter, Mary Fante,

in Liebe und Ergebenheit;

und meinem Vater, Nick Fante,

in Liebe und Bewunderung.

Vorwort

Nun, da ich ein alter Mann bin, verliere ich die Spur von Warte bis zum Frühling, Bandini im Dunkel der Vergangenheit. Zuweilen erscheint, wenn ich nachts wach liege, vor meinem geistigen Auge die eine oder andere Figur, diese oder jene Szene; dann versuche ich im Halbschlaf, sie in Sätze zu fassen, eine melodische Erinnerung zu zeichnen von jenem alten Schlafzimmer in Colorado, von meiner Mutter, meinem Vater, meinen Brüdern und meiner Schwester. Diese Wachträume sind mir kostbar. Dass aber die Lektüre dieses Buchs, das ich vor so langer Zeit geschrieben habe, eine ähnlich wohltuende Wirkung auf mich haben könnte, kann ich mir nicht vorstellen. Ich bringe es nicht über mich, zurückzuschauen und diesen meinen ersten Roman aufzuschlagen und mich ihm auszusetzen. Dieses Buch werde ich bestimmt nie wieder lesen. Aber eines weiß ich gewiss: Dass alle Personen meines Schriftstellerlebens, alle meine Figuren hier schon vorhanden sind. Von mir selbst dagegen ist nichts mehr da – bis auf die Erinnerung an alte Schlafzimmer und an das Geräusch der Pantoffeln meiner Mutter auf dem Küchenboden.

John Fante

1. Kapitel

Er stapfte durch den tiefen Schnee, und jeder Schritt war ein Tritt gegen den verhassten Schnee. Sein Name war Svevo Bandini. Er wohnte drei Blocks weiter die Straße runter, und er fror und hatte Löcher in den Schuhen, die er mit Stücken von einer Makkaronischachtel verstopft hatte. Die Makkaroni aus jener Schachtel waren noch nicht bezahlt. Daran hatte er denken müssen, als er den Karton in seine Schuhe stopfte.

Bandini hasste Schnee. Er war Maurer. Bei Schnee gefror der Mörtel zwischen den Backsteinen. Bandini war auf dem Heimweg. Er hatte den Schnee schon gehasst, als er ein kleiner Junge war und in den Abruzzen lebte. Keine Sonne, keine Arbeit. Jetzt lebte er in Amerika, in Rocklin, Colorado, und war auf dem Heimweg von der Imperial-Billardhalle. Auch in Italien gab es Berge, genau solche wie die schneebedeckten Gipfel westlich von Rocklin, die aussahen wie riesige weiße Frauenröcke. Als junger Mann hatte Bandini einmal eine ganze Woche lang Hunger gelitten in den Falten eines solchen weißen Rockes. Das war vor zwanzig Jahren gewesen, als er in einer Berghütte einen Kamin mauern sollte. Im Winter war es gefährlich dort oben, aber damals war ihm das egal gewesen, denn er war zwanzig, und er hatte ein Mädchen in Rocklin, und er brauchte Geld. Aber dann war das Hüttendach unter dem Gewicht des Schnees eingestürzt.

Nichts als Ärger hatte er mit dem Schnee. Es war ihm unbegreiflich, dass er nie nach Kalifornien gezogen, sondern im Tiefschnee von Colorado stecken geblieben war. Jetzt war es zu spät. Der schöne weiße Schnee war wie die schöne weiße Frau von Svevo Bandini, die so weiß und fruchtbar in einem weißen Bett lag, das in einem Haus ein paar Häuser weiter stand. 456 Walnut Street, Rocklin, Colorado.

Svevo Bandini tränten in der Kälte die Augen. Sie waren braun und sanft, die Augen einer Frau. Diese Augen hatte er seiner Mutter bei der Geburt gestohlen; sie war vom Tag der Niederkunft an kränklich geblieben, hatte immer einen kränklichen Blick gehabt und war schließlich gestorben. Svevo aber hatte die sanften braunen Augen behalten.

Svevo Bandini wog hundertfünfzig Pfund. Sein Sohn Arturo legte ihm gern die Hand auf die runde Schulter, um die Muskeln unter der Haut zu spüren. Svevo Bandini war ein stattlicher, muskulöser Mann. Seine Frau Maria brauchte an die Kraft seiner Lenden nur zu denken, um dahinzuschmelzen wie der Schnee im Frühling.

Dio cane, Dio cane! Wieso hatte er sich an jenem Abend im Imperial zehn Dollar beim Poker abknöpfen lassen? Svevo war arm und Vater von drei Kindern, und die Makkaroni waren nicht bezahlt, genauso wenig wie das Haus, in dem die drei Kinder und die Makkaroni untergebracht waren. Dio cane.

Svevo Bandinis Frau sagte nie: Gib mir Geld, damit ich Essen für die Kinder kaufen kann. Aber sie hatte große, dunkle Augen, und mit diesen Augen konnte sie ihn durchleuchten, ihm in den Mund schauen, in die Ohren, in den Magen, in die Taschen. Diese klugen Augen wussten leider immer sofort, wenn das Imperial wieder ein gutes Geschäft gemacht hatte. Dass die Frau solche Augen haben musste! Sie sahen alles, was er war und was er zu sein hoffte. Aber seine Seele erkannten sie nie.

Das war seltsam, denn Maria Bandini betrachtete alle Lebenden und Toten als Seelen. Maria kannte sich mit Seelen aus. Die Seele war etwas Unsterbliches, darüber ließ sie nicht mit sich reden. Die Seele war unsterblich. Was immer sie war, die Seele war unsterblich.

Maria hatte einen weißen Rosenkranz. Er war so weiß, dass man ihn im Schnee für immer verlieren würde. Mit dem Rosenkranz betete sie für die Seelen von Svevo Bandini und ihren Kindern. Und weil ihr darüber hinaus keine Zeit blieb, tröstete sie sich mit der Hoffnung, dass irgendwo auf der Welt jemand – eine Nonne in einem abgeschiedenen Kloster vielleicht oder sonst wer – irgendwann ein paar Minuten Zeit fände, um für die Seele von Maria Bandini zu beten.

Dort vorne wartete ein weißes Bett auf Svevo Bandini, und seine Frau hielt es ihm warm. Er trat nach dem Schnee und dachte an seine Erfindung, die er eines Tages machen würde. Ein Schneepflug. Ein Modell davon hatte er schon gebastelt, aus Zigarrenkisten. Die Idee war da. Aber dann schauderte ihn, als ob er kaltes Metall berührt hätte, bei der Erinnerung an die vielen Male, da er zu Maria ins warme Bett gekrochen war und das kleine kalte Kreuz ihres Rosenkranzes ihn gestreift hatte wie eine kichernde kalte Schlange, worauf er sich auf die kühlere Seite des Betts zurückzog. Svevo Bandini dachte an das Schlafzimmer und an das unbezahlte Haus und an seine blasse Ehefrau, die schon ewig auf das Wiedererwachen seiner Leidenschaft wartete. Es war unerträglich. In seiner Wut stürzte er sich in den tiefen Schnee neben dem Gehsteig und ließ seine Wut an ihm aus. Dio cane, Dio cane.

Er hatte einen Sohn namens Arturo. Arturo war vierzehn und besaß einen Schlitten. Als Svevo in den Hof seines nicht bezahlten Hauses einbog, flogen plötzlich seine Füße den Baumkronen entgegen. Er landete auf dem Rücken, und der Schlitten schoss davon und kam im Fliederbusch zum Stillstand. Dio cane! Er hatte dem Jungen doch gesagt, diesem nichtsnutzigen Hundesohn, dass er den Schlitten nicht auf dem Fußweg abstellen sollte. Der kalte Schnee an Bandinis Händen fühlte sich an wie wild gewordene Ameisen. Er rappelte sich auf, schaute bebend vor Zorn zum Himmel hoch und drohte Gott mit der Faust. Dieser Hundesohn von einem Arturo! Er zerrte den Schlitten unter dem Flieder hervor und riss mit systematischer Bosheit die Kufen ab. Erst als das Werk der Zerstörung vollbracht war, fiel ihm ein, dass der Schlitten sieben Dollar und fünfzig Cent gekostet hatte. Er klopfte sich den Schnee von den Kleidern. Der Schnee war ihm von oben in die Schuhe gedrungen, und seine Knöchel fühlten sich seltsam heiß und kribbelig an. Sieben Dollar und fünfzig Cent in Stücke gerissen. Diavolo! Lass den Jungen einen neuen Schlitten kaufen. Er wollte ja schon lange einen neuen.

Das Haus war nicht bezahlt. Dieses Haus war sein Feind. Es hatte eine Stimme, und es konnte zu ihm sprechen wie ein Papagei, ewig das Gleiche. Wann immer die Bodenbretter der Veranda unter seinen Füßen ächzten, sagte das Haus frech: Du besitzt mich nicht, Svevo Bandini, und ich werde dir nie gehören. Wenn er den Türknauf am Eingang drehte, war es dasselbe. Seit fünfzehn Jahren hänselte ihn dieses Haus mit seiner idiotischen Unabhängigkeit. An manchen Tagen hätte er es mit Dynamit in die Luft jagen mögen. Früher einmal war das Haus eine Herausforderung gewesen, wie eine Frau, die einen lockt und sich entzieht. Aber in den letzten dreizehn Jahren war er müde und schwach geworden, und das hochmütige Haus hatte die Oberhand behalten. Jetzt war es Svevo Bandini egal.

Einer seiner schlimmsten Feinde war der Bankier, dem das Haus gehörte. Beim Gedanken an ihn bekam er wütendes, selbstzerstörerisches Herzklopfen. Helmer, der Bankier. Der Abschaum der Menschheit. Immer wieder hatte er Helmer gegenübertreten und gestehen müssen, dass er seine Familie nicht ernähren konnte. Dieser Helmer mit seinem sorgfältig gescheitelten grauen Haar, den weichen Händen und den Glubschaugen, die jedes Mal glibberig feucht wie Austern wurden, wenn Svevo Bandini sagte, dass er kein Geld für die Miete hatte. Er hatte das oft sagen müssen, und jedes Mal hatte ihn Helmer mit den weichen Händen zur Weißglut getrieben. Mit so einem Mann konnte er nicht verhandeln. Er hasste Helmer. Das Genick hätte er Helmer brechen mögen, ihm das Herz herausreißen und mit beiden Füßen darauf herumtrampeln. »Dich kriege ich noch! Irgendwann erwische ich dich!«, murmelte er beim Gedanken an Helmer. Das Haus war nicht sein Eigentum. Er brauchte nur den Türknauf zu berühren, um daran erinnert zu werden.

Ihr Name war Maria, und für ihre dunklen Augen war die Nacht hell wie der Tag. Auf Zehenspitzen ging Bandini zum Stuhl in der Ecke. Das grüne Rollo am Fenster war heruntergezogen. Als er sich setzte, knackten seine Knie. Wie zwei Glocken, die für Maria läuteten. Wie dumm von einer Frau, einen Mann dermaßen zu lieben, dachte er. Es war kalt im Zimmer. Der Atem strömte ihm als weißer Dampf aus dem Mund. Er nestelte an seinen Schnürsenkeln und grunzte dazu wie ein Ringer. Immer dieser Ärger mit den Schnürsenkeln. Diavolo! Würde er es bis ans Sterbebett nicht lernen, seine Schnürsenkel ordentlich zu binden wie jeder andere Mann?

»Svevo?«

»Ja.«

»Zerreiß sie nicht, Svevo. Mach Licht, und ich binde sie dir auf. Reg dich nicht auf, und zerreiß sie nicht.«

Herrgott im Himmel! Maria Mutter Gottes! War das nicht typisch Frau? Sich nicht aufregen? Wieso sollte er sich aufregen? Er hätte mit der Faust das Fenster einschlagen mögen. Mit den Fingernägeln fummelte er am Knoten herum. Schnürsenkel! Wozu brauchte man Schnürsenkel? Krrr. Krrr. Krrr.

»Svevo.«

»Ja.«

»Ich mache das. Schalte jetzt das Licht an.«

Die Kälte hatte seine Finger hypnotisiert, und der Knoten war widerspenstig wie Stacheldraht. Mit aller Kraft seiner Arme und Schultern machte er seinem Ärger Luft. Der Schnürsenkel zerriss mit einem kleinen Knall. Svevo Bandini fiel beinahe vom Stuhl.

»Ach, Svevo. Du hast ihn wieder zerrissen.«

»Na und«, sagte er. »Soll ich etwa mit den Schuhen ins Bett gehen?«

Er schlief nackt, denn er verachtete Unterwäsche. Nur einmal im Jahr, wenn der erste Schnee fiel, durfte Maria seine lange Unterwäsche auf dem Stuhl für ihn bereitlegen, und dann zog er sie an. Nur einmal in zwanzig Jahren Ehe hatte Svevo die lange Unterwäsche beim ersten Schnee verschmäht – und wäre beinahe an Grippe und Lungenentzündung gestorben. Schließlich hatte er sich aus dem Delirium aufgerafft, weil er die Pillen und Tropfen des Doktors nicht mehr riechen konnte, und hatte in der Speisekammer ein halbes Dutzend Knoblauchzehen hinuntergewürgt, um anschließend ins Bett zurückzukehren und den Tod auszuschwitzen. Als er wieder gesund war, schrieb Maria das der heilenden Kraft ihrer Gebete zu, während Svevos Religion der Knoblauch war. Dem hielt Maria entgegen, dass auch den Knoblauch der Herrgott geschickt hatte, was wiederum Svevo für ein derart haltloses Argument hielt, dass er nicht darauf einging.

Seit fünfzehn Jahren waren sie nun verheiratet. Er war ein gewandter Redner und sprach oft und gern von allem Möglichen – aber noch kaum je hatte er Maria gesagt, dass er sie liebte. Maria hingegen redete wenig; aber wenn sie etwas sagte, so war es oft dieses langweilige »Ich liebe dich«.

Er ging zur Bettkante und tastete unter der Decke nach dem Rosenkranz. Dann schlüpfte er zwischen die Laken und drückte sie an sich, schlang die Arme um sie und verschränkte seine Beine mit ihren. Es war nicht Leidenschaft, nur die Kälte der Winternacht, und sie war ein kleiner Ofen von einer Frau, ihre traurige Wärme hatte ihn vom ersten Tag an gefesselt. Fünfzehn Winter lang, Nacht für Nacht neben dieser warmen Frau, die seine eiskalten Füße, Arme und Hände immer freundlich willkommen hieß; er seufzte beim Gedanken an so viel Liebe.

Und gerade eben hatte das Imperial seine letzten zehn Dollar genommen. Wenn diese Frau nur einen kleinen Fehler hätte, hinter dem er seine eigenen Schwächen verstecken könnte. Teresa DeRenzo beispielsweise. Angenommen, er hätte Teresa DeRenzo geheiratet – die war verschwenderisch und geschwätzig, ihr Atem roch nach Kloake, und in seinen Armen spielte sie gern das schwache Weibchen, obwohl sie eine starke, muskulöse Frau war – nicht auszudenken! Und dann war sie auch noch größer als er! Hätte er eine Frau wie Teresa geheiratet, wäre es ihm ein Vergnügen gewesen, im Imperial zehn Dollar beim Poker zu verlieren. Er hätte an ihren Mundgeruch gedacht und an ihr Geplapper, und dann hätte er seinem Herrgott gedankt für die wunderbare Gelegenheit, sein hart erarbeitetes Geld zu verschleudern. Bei Maria war das anders.

»Arturo hat das Küchenfenster eingeworfen«, sagte sie.

»Wie denn das?«

»Er hat Federicos Kopf hindurchgestoßen.«

»Dieser Hundesohn.«

»Es war keine Absicht. Sie haben nur gespielt.«

»Und was hast du gemacht? Nichts, nehme ich an.«

»Ich habe Federicos Kopf mit Jod behandelt. Eine kleine Schnittwunde. Nichts Schlimmes.«

»Nichts Schlimmes! Was heißt da, nichts Schlimmes! Was hast du mit Arturo gemacht?«

»Er war wütend. Wollte ins Kino.«

»Und ist gegangen, nehme ich an.«

»Die Jungs mögen halt Kino.«

»Dieser dreckige kleine Hurensohn.«

»Svevo, wie kannst du das sagen? Er ist dein Sohn.«

»Du hast ihn verzogen. Du hast sie alle drei verzogen!«

»Er ist wie du, Svevo. Du warst auch ein schlimmer Junge.«

»Ich? Teufel noch mal! Ich habe jedenfalls nie meinem Bruder den Kopf durchs Fenster gestoßen!«

»Du hattest keinen Bruder, Svevo. Aber du hast deinen Vater die Treppe runtergestoßen und ihm den Arm gebrochen.«

»Hab ich etwas dafür gekonnt, dass mein Vater … ach, was soll’s.«

Er rutschte näher zu ihr und vergrub sein Gesicht in ihrem geflochtenen Haar. Seit der Geburt ihres dritten Sohnes August roch Marias rechtes Ohr nach Chloroform. Vor zehn Jahren war sie mit diesem Geruch aus dem Krankenhaus heimgekommen; oder bildete er sich das nur ein? Jahrelang hatte er mit ihr darüber gestritten, denn sie hatte immer abgestritten, dass ihr rechtes Ohr nach Chloroform rieche. Auch die Kinder waren als Zeugen hinzugezogen worden und hatten keinerlei Geruch wahrnehmen können. Und doch war er immer da, genau wie in jener Nacht im Kindbett vor zehn Jahren, da er sich über sie gebeugt und sie geküsst hatte, nachdem sie den Kampf auf Leben und Tod gewonnen hatte.

»Und was, wenn ich meinen Vater wirklich die Treppe hinuntergestoßen habe? Was hat das damit zu tun?«

»Hat es deiner Erziehung geschadet? Warst du von da an ein verzogener Junge?«

»Was weiß ich?«

»Du bist kein verzogener Junge.«

Was ging nur in ihrem Kopf vor? Selbstverständlich war er ein verzogener Junge! Teresa DeRenzo hatte ihm oft genug gesagt, dass er niederträchtig, selbstsüchtig und verdorben sei. Das hatte ihm immer gefallen. Und dieses andere Mädchen – wie hieß sie noch gleich – diese Carmela, Carmela Ricci, die Freundin von Rocco Saccone, hatte ihn für einen Teufel gehalten, und die musste es wissen, war ein kluges Mädchen, hatte an der Universität von Colorado studiert. Einen wunderbaren Halunken hatte sie ihn genannt, eine Gefahr für jedes junge Mädchen. Aber Maria? Ach, Maria hielt ihn für einen Engel, unschuldig wie Brot. Maria hatte keine Ahnung. War nicht an der Universität gewesen, hatte noch nicht mal die High School abgeschlossen.

Nicht mal die High School. Ihr Name war Maria Bandini. Vor der Heirat hatte sie Maria Toscana geheißen. Ihr Bruder Tony und ihre Schwester Teresa hatten beide die High School abgeschlossen, aber Maria? Der Fluch der Familie lag auf diesem Mädchen, das immer seinen Kopf durchsetzen musste und sich weigerte, einen Schulabschluss zu machen. Die ungebildete Toscana, die ohne Abschluss – bis kurz vors Examen gekommen nach dreieinhalb Jahren, aber eben kein Abschluss. Tony und Teresa hatten einen Abschluss, und Carmela Ricci, Roccos Freundin, hatte sogar die Universität besucht. Gott war gegen ihn. Wieso hatte er sich ausgerechnet in diese Frau verlieben müssen, die keinen Schulabschluss hatte?

»Bald ist Weihnachten, Svevo«, sagte sie. »Sprich ein Gebet. Bitte Gott um ein schönes Weihnachtsfest.«

Maria sagte ihm immerzu Dinge, die er schon wusste. Musste man ihn denn daran erinnern, dass Weihnachten nahte – in der Nacht zum neunten Dezember? Wenn ein Mann sich an einem Donnerstag zur Ruhe begibt an der Seite seiner Frau: Muss sie ihn dann darauf aufmerksam machen, dass am nächsten Tag Freitag ist? Und dann dieser Arturo – wieso war Svevo mit so einem Sohn geschlagen, der mit einem Schlitten spielte? Ah, povera America! Und da sollte er für ein frohes Fest beten?

»Ist dir warm genug, Svevo?«

Da war sie schon wieder. Dauernd wollte sie wissen, ob ihm warm genug war. Sie war nur fünf Fuß groß und so still, dass er nie wusste, ob sie wach war oder schlief. Eine Frau wie ein Gespenst, immer zufrieden in ihrer Hälfte des Ehebetts, und ständig mit dem Rosenkranz zugange im Hinblick auf ein schönes Weihnachtsfest. War es da ein Wunder, dass er dieses Haus nicht bezahlen konnte, dieses Irrenhaus, das eine religiöse Fanatikerin besetzt hielt? Ein Mann braucht eine Frau, die ihn fordert, inspiriert und zu harter Arbeit antreibt. Aber Maria? Ah, povera America!

Sie schlüpfte aus dem Bett und fand im Dunkeln mit den Füßen zielsicher ihre Pantoffeln auf dem Bettvorleger. Er wusste, dass sie erst auf die Toilette gehen und dann nach den Jungen sehen würde. Das war ihr letzter Rundgang, bevor sie für den Rest der Nacht ins Bett zurückkehrte. Eine Ehefrau, die ständig aus dem Bett schlüpfte, um nach ihren drei Söhnen zu sehen. Ach, was für ein Leben! Io sono fregato!

Wie konnte ein Mann schlafen bei dem ständigen Aufruhr in diesem Haus? Wenn die Frau ständig wortlos aus dem Bett kletterte? Zum Teufel mit dem Imperial! Ein Full House mit zwei Damen, und trotzdem verloren. Madonna! Und bei so viel Pech sollte er auch noch Zwiesprache mit Gott halten? Für ein schönes Weihnachtsfest beten?

Genauso leise, wie sie verschwunden war, legte sie sich wieder neben ihn.

»Federico hat sich erkältet«, sagte sie.

Auch Svevo hatte sich erkältet – die Seele. Sein Sohn Federico musste nur ein wenig jammern, und schon rieb ihm Maria die Brust mit Menthol ein und lag dann die halbe Nacht wach, um über den Gesundheitszustand ihres Sohnes zu reden. Er aber, Svevo Bandini, musste einsam leiden, und zwar keine körperlichen Schmerzen, sondern schlimmer: seelische. Welcher Schmerz in aller Welt war schlimmer als der seelische? Und stand ihm Maria jemals bei? Hatte sie ihn jemals gefragt, ob er leide in den schweren Zeiten? Hatte sie je gesagt, Svevo, mein Geliebter, wie geht’s denn heute deiner Seele? Bist du glücklich, Svevo? Hast du diesen Winter auch nur die geringste Aussicht auf Arbeit, Svevo? Dio maledetto! Und sie wünschte sich ein schönes Weihnachtsfest! Wie kannst du ein schönes Weihnachtsfest haben, wenn du ganz und gar allein bist inmitten von drei Söhnen und einer Frau? Löcher in den Schuhen, Pech im Spiel, keine Arbeit, brichst dir das Genick auf einem gottverdammten Schlitten – und du wünschst dir ein schönes Weihnachtsfest! War er etwa Millionär? Er wär’s vielleicht geworden, wenn er die richtige Frau geheiratet hätte. Wenn. Aber dazu war er nun mal zu blöde gewesen.

Ihr Name war Maria, und er fühlte, wie die Matratze unter ihm nachgab, und er lächelte, denn er wusste, dass sie näher rutschte. Svevo öffnete leicht den Mund, um sie zu empfangen, und dann berührten drei Finger einer kleinen Hand seine Lippen und entführten ihn in wärmere Gefilde. Mit spitzen Lippen blies sie ihren Atem in seine Nüstern.

»Cara sposa«, sagte er. »Meine liebe Frau.«

Sie rieb ihre feuchten Lippen an seinen Augen. Er lachte leise.

»Ich bringe dich um«, flüsterte er.

Sie lachte, dann hielt sie plötzlich inne und lauschte, ob die Jungen im Nebenzimmer noch schliefen.

»Che sara, sara«, sagte sie.

Ihr Name war Maria, und sie wartete geduldig auf ihn, streichelte die Mitte seiner Lenden, küsste ihn geduldig hier und da. Dann kam die große Hitze über ihn, die er so sehr liebte, und sie sank zurück in die Kissen.

»Ah, Svevo. Wunderbar!«

Er liebte sie mit sanftem Ungestüm, und er war stolz auf sich. Sie ist gar nicht so dumm, meine Maria, dachte er die ganze Zeit; sie weiß zumindest, was gut ist. Irgendwann löste sich alles in weißem Licht auf, und er stöhnte erleichtert, stöhnte glücklich wie ein Mann, der für eine kurze Weile viele Dinge hatte vergessen können. Maria lag still auf ihrer Seite des Bettes, lauschte dem Wummern ihres Herzens und fragte sich, wie viel Svevo wohl im Imperial verloren hatte. Bestimmt ziemlich viel; wahrscheinlich um die zehn Dollar. Zwar hatte Maria keinen Schulabschluss, aber sie konnte die Verzweiflung ihres Mannes an der Stärke seiner Leidenschaft ermessen.

»Svevo«, flüsterte sie.

Aber der schlief schon tief.

Bandini, der Schnee-Hasser. Morgens um fünf schoss er aus dem Bett wie eine Rakete, schnitt Grimassen in den kalten Wintermorgen und feixte: Verfluchtes Colorado, das Hinterteil von Gottes Schöpfung, ewiges Eis und kein Platz für einen italienischen Maurer, ein Fluch lag auf seinem Leben. Er stelzte auf den Außenristen seiner Füße zum Stuhl, schnappte sich seine Hose und steckte die Beine hinein. Er dachte daran, dass er Tag für Tag zwölf Dollar verlor, Tariflohn für acht Stunden harte Arbeit – nur wegen dieses verfluchten Schnees! Er ließ das Rollo hochschnellen, dass es ratterte wie ein Maschinengewehr. Knurrend begrüßte er den bleichen, kahlen Morgen. Sporca chone. Sporcaccione ubriaco.

Maria hatte den leichten Schlaf eines Kätzchens geschlafen, bis das ratternde Rollo sie weckte.

»Svevo. Es ist noch zu früh.«

»Schlaf weiter. Dich hat keiner gefragt. Schlaf du nur weiter.«

»Wie spät ist es?«

»Für einen Mann Zeit aufzustehen, für eine Frau Zeit zu schlafen. Halt jetzt die Klappe.«

Sie hatte sich nie an dieses frühe Aufstehen gewöhnen können. Ihre Zeit war sieben Uhr, abgesehen von den Tagen, die sie im Krankenhaus verbracht hatte. Einmal war sie sogar bis neun im Bett geblieben und hatte Kopfschmerzen bekommen davon; aber dieser Mann da, den sie geheiratet hatte, schoss im Winter immer um fünf aus dem Bett, im Sommer um sechs Uhr. Sie wusste um die Qualen, die ihm das weiße Gefängnis des Winters bereitete; sie wusste, dass er in zwei Stunden alle Fußwege ums Haus vom Schnee befreit haben würde. Er würde die hinterste und letzte Schneeflocke unter den Wäscheleinen wegfegen und draußen auf der Straße den Gehsteig den halben Block hinunter makellos schwarz räumen, und den Schnee würde er zu hohen Haufen auftürmen und mit seiner Schaufel wütend darauf einschlagen.

Und so war es auch. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging in die Küche. Dort beobachtete sie durchs Fenster, wie er sich in der Gasse zu schaffen machte, die hinter dem Garten durchführte. Er war ein Hüne von einem Mann, ein zwergenhafter Hüne hinter einem sechs Fuß hohen Zaun, und man konnte von ihm nur die Schaufel sehen, mit der er in gleichförmigem Takt den Schnee zurück in den Himmel warf.

Ums Feuer im Küchenherd aber hatte er sich nicht gekümmert. Er schürte niemals den Herd an. Wer war er denn, dass er Feuer machen sollte – eine Frau? Es gab natürlich Ausnahmen. Einmal waren sie alle zusammen zum Grillen in die Berge gefahren, und niemand außer ihm hatte sich ums Grillfeuer kümmern dürfen. Aber den Küchenherd! Wer war er denn – eine Frau?

Es war ein bitterkalter Morgen. Marias Zähne klapperten, das dunkelgrüne Linoleum unter ihren Füßen fühlte sich an wie Eis, und selbst der Herd war ein Eisblock. Was war das für ein Herd! Ein ungezähmter, übellauniger Despot von einem Herd. Sie redete ihm gut zu, besänftigte ihn und schmeichelte ihm, aber dieser Schwarzbär von einem Herd lehnte sich immer wieder gegen sie auf und widersetzte sich allen Versuchen, ein Feuer in Gang zu bringen; und wenn dieser streitsüchtige Herd dann heiß war und eine wohlige Wärme verbreitete, konnte er plötzlich Amok laufen und gelb glühend damit drohen, das ganze Haus in Schutt und Asche zu legen. Nur Maria konnte mit diesem mürrischen schwarzen Eisenblock umgehen. Sachte legte sie Zweig um Zweig nach, streichelte die zarte Flamme, legte vorsichtig ein Holzscheit nach, dann noch eins und noch eins, bis der Ofen zu schnurren begann und das Eisen sich erhitzte. Der Herd dehnte sich und bullerte in der Hitze, und dann fing er wohlig an zu grunzen und zu stöhnen wie ein Idiot. Der Herd liebte nur sie allein. Wenn Arturo oder August auch nur ein Stück Kohle in seinen gefräßigen Schlund fallen ließen, geriet er außer Rand und Band und wurde so heiß, dass die Farbe an der Wand Blasen warf, er verfärbte sich bedrohlich gelb und zischte nach Maria, die dann herbeieilte und ihn zur Ruhe brachte. Mit einem Lappen in der Hand zupfte sie geschickt an diesem und jenem Hebel, schloss flink die Luftklappen und schüttelte seine Innereien durch, bis er wieder in seinen dumpfen Normalzustand zurückkehrte. Marias Hände waren nicht größer als erblühte Rosen, aber dieser schwarze Teufel war ihr Sklave, und sie hatte ihn wirklich gern. Sie hielt ihn immer sauber, dass er boshaft glänzte, und sein vernickelter Firmenschriftzug sah aus wie ein teuflisches Grinsen mit gebleckten Zähnen.

Als die Flammen höher schlugen und der Herd »Guten Morgen« grummelte, setzte sie Kaffeewasser auf und kehrte zum Fenster zurück. Svevo stand keuchend im Hühnergehege und stützte sich auf die Schaufel. Die Hühner waren glucksend aus dem Stall gekommen beim Anblick dieses Mannes, der immer das weiße Zeug vom Boden aufhob und über den Zaun warf. Vom Fenster aus beobachtete Maria, wie die Hühner vorsichtig Abstand hielten von Svevo. Maria wusste, wieso. Die Hühner gehörten ihr; ihr fraßen sie aus der Hand. Ihn hingegen hassten sie, denn er war der Mann, der gelegentlich Samstagabends kam, um zu töten. So hatte alles seine Ordnung. Die Hühner waren dankbar, dass er den Schnee weggeschippt hatte und sie wieder in der Erde scharren konnten. Sie schätzten das, aber niemals hätten sie ihm so vertrauen können wie der Frau, die mit ihren kleinen Händen Maiskörner verstreute, und auch mal eine Schüssel Spaghetti; sie küssten Maria mit dem Schnabel, wenn sie ihnen Spaghetti brachte. Aber Vorsicht vor diesem Mann.

Die Söhne hießen Arturo, August und Federico. Sie waren jetzt wach und blinzelten aus ihren schlaftrunkenen, dunklen Augen. Sie teilten sich alle drei ein Bett. Arturo war vierzehn und der Älteste, August war zwölf und Federico acht. Italienerjungs, die zu dritt in einem Bett rumalberten und einander kichernd obszöne Dinge erzählten. Arturo wusste eine Menge, und seine Worte strömten als weiße Dampfwolken ins kalte Zimmer. Er wusste wirklich Bescheid. Ihr wisst ja gar nicht, was ich gesehen habe. Sie hat auf der Verandatreppe gesessen. Ich war etwa so weit von ihr weg. Ich habe alles gesehen.

Federico, acht Jahre alt: » Was hast’n gesehen, Arturo?«

»Halt’s Maul, du Dussel! Wir reden nicht mit dir.«

»Ich sag’s keinem, Arturo.«

»Halt jetzt die Klappe! Du bist noch zu klein!«

»Dann sag ich’s eben.«

Darauf warfen sie ihn mit vereinten Kräften aus dem Bett. Er plumpste zu Boden und heulte, und als ihn auch noch die Eiseskälte mit zehntausend Nadeln piekste, schrie er auf und versuchte wieder unter die Decke zu klettern. Aber die zwei Großen waren stärker als er. Also sauste er ums Bett herum ins Zimmer der Mutter, die gerade ihre Baumwollstrümpfe anzog.

»Sie haben mich rausgeworfen! Arturo war’s. Und August!«

»Petze!«, riefen die zwei nebenan.

Maria fand ihn wunderschön, ihren Federico; seine Haut war so schön. Sie nahm ihn in die Arme, rieb mit beiden Händen über seinen Rücken und kniff ihn fest in seinen hübschen kleinen Po, um ihn aufzuwärmen.

»Schlaf noch ein bisschen in Mammas Bett«, sagte sie.

Er schlüpfte schnell hinein. Sie packte ihn fest in die Decken ein und schüttelte ihn vergnügt. Er war glücklich, dass er Mammas Bettseite erwischt hatte, denn ihr Kopfkissen war warm und duftete süß; Papas Kissen roch streng und sauer.

»Ich weiß noch was«, sagte Arturo. »Aber ich sag’s nicht.«

August war zwölf und hatte noch keine Ahnung; natürlich hatte er mehr Ahnung als dieser Knilch von einem Federico, aber nicht halb so viel wie sein großer Bruder Arturo, der schon eine ganze Menge wusste über Frauen und so.

»Was gibst du mir, wenn ich’s dir erzähle?«

»Mein Milchgeld.«

»Milchgeld! Was zum Teufel soll ich mit deinem Milchgeld mitten im Winter?«

»Ich geb’s dir nächsten Sommer.«

»Quatsch. Was krieg ich jetzt?«

»Alles, was ich habe.«

»Klingt gut. Was hast du?«

»Gar nichts.«

»Okay. Dann erzähl ich auch nichts.«

»Du weißt ja eh nichts.«

»Wenn du es sagst …«

»Erzähl’s mir umsonst.«

»Bin doch nicht blöd.«

»Du lügst. Lügner.«

»Nenn mich nicht Lügner.«

»Wenn du’s mir nicht erzählst, bist du ein Lügner. Lügner!«

Arturo war vierzehn. Er war die Miniaturausgabe seines Vaters, nur ohne Schnurrbart. Über sein Gesicht schwärmten Sommersprossen wie Ameisen über einen Kuchen, und auf seiner gekräuselten Oberlippe zeigte sich sanfte Grausamkeit. Er war der Älteste, und er hielt sich für einen ziemlich harten Burschen, und keiner von diesen Rotznasen durfte ihn ungestraft einen Lügner nennen. Fünf Sekunden später wand sich August unter Schmerzen. Arturo war unter die Bettdecke verschwunden und hatte seinen Bruder an den Zehen gepackt.

»Hier kommt die Zehenschraube!«

»Au! Lass los!«

»Wer ist hier ein Lügner?«

»Niemand!«

Ihre Mutter hieß Maria, aber sie nannten sie Mamma, und jetzt stand sie neben ihrem Bett und hatte wieder einmal keine Ahnung, wie sie ihrer Pflicht als Mutter nachkommen sollte. Augusts Mutter zu sein war leicht; sie war vernarrt in sein blondes Haar, beugte sich dauernd zu ihm hinunter, grub sich in sein blondes Haar und überhäufte ihn mit Küssen. Er war ein guter Junge, obwohl sie viel Sorgen mit ihm gehabt hatte. Schwache Nieren, hatte Doktor Hewson gesagt, aber das war jetzt vorbei, die Matratze war morgens nicht mehr feucht. August würde nun zu einem stattlichen jungen Mann heranwachsen und nicht mehr ins Bett machen. Endlose Nächte hatte Maria im Dunkeln kniend neben dem schlafenden Jungen verbracht, und die Perlen des Rosenkranzes hatten zwischen ihren Fingern geklickt, während sie betete: Bitte, lieber Gott, lass ihn nicht ins Bett machen. Hundert Nächte lang, zweihundert Nächte lang. Für den Arzt waren es schwache Nieren, für sie war es Gottes Wille; für Svevo war es nur verfluchte Achtlosigkeit, und er hatte August im Hühnerhof einquartieren wollen, blondes Haar hin oder her. Jeder hatte gute Ratschläge gehabt. Der Arzt verschrieb weiter Tabletten. Svevo wollte den Jungen mit dem Riemen kurieren, was Maria immer hatte verhindern können. Und ihre eigene Mutter, Donna Toscana, hatte darauf bestanden, dass August seinen eigenen Urin trinken müsse. Aber da sie Maria hieß wie die Mutter des Erlösers, hielt sie persönlich Zwiesprache mit jener anderen Maria, und zwar über viele Meilen ihres Rosenkranzes hinweg. Und hatte August etwa nicht damit aufgehört? War er jetzt nicht trocken und warm, wenn ihre Hand am frühen Morgen unter seine Decke schlüpfte? Weshalb? Maria wusste es. Nach Bandinis Meinung war es höchste Zeit gewesen. Der Doktor schrieb den Erfolg seinen Tabletten zu, und Donna Toscana meinte, dass es schon längst vorüber gewesen wäre, wenn man auf sie gehört hätte. Auch August staunte und war glücklich, dass er morgens trocken und sauber aufwachte und diese Nächte der Vergangenheit angehörten, da er vom Klicken des Rosenkranzes aufwachte und seine Mutter neben ihm kniete und unablässig »Heilige Maria Mutter Gottes, Heilige Maria Mutter Gottes« flüsterte, ihm diese Worte geradezu einträufelte, sodass ihn schreckliche Schwermut befiel zwischen diesen zwei Marias und der dringende Wunsch, es diesen beiden recht zu machen. Er würde von nun an ganz einfach nicht mehr ins Bett machen.

Augusts Mutter zu sein war einfach. Sie konnte mit seinem blonden Haar spielen, wann immer sie wollte, denn er bewunderte und verehrte sie. Sie hatte so viel für ihn getan. Sie hatte ihn großgezogen. Sie hatte einen richtigen Jungen aus ihm gemacht, und Arturo konnte ihn nicht länger wegen seiner schwachen Nieren aufziehen. Sie und die andere Maria hatten ihn von einem Weichling in einen ganzen Kerl verwandelt; daran erinnerte er sich jede Nacht, wenn sie auf leisen Sohlen ans Bett kam und ihm das Haar streichelte. Maria gewöhnte sich nie an das Wunder seines blonden Haars. Gott allein wusste, woher er das hatte, und sie war unbändig stolz darauf.

Sie machte Frühstück für drei Jungen und einen Mann. Der Älteste hieß Arturo, aber er hasste diesen Namen und wollte lieber John genannt werden. Sein Familienname war Bandini, aber er wollte Jones heißen. Seine Mutter und sein Vater waren Italiener, aber er wollte Amerikaner sein. Sein Vater war Maurer, aber er wollte Werfer bei den Chicago Cubs werden. Sie lebten in Rocklin, Colorado, einer Stadt mit zehntausend Einwohnern,