cover

Gina Greifenstein wuchs im unterfränkischen Würzburg auf, lebt und arbeitet aber seit vielen Jahren als freie Autorin in der Südpfalz. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche Bestsellerkochbücher, aber auch Romane – »Der Traummann auf der Bettkante« (Piper) war 2008 für den DeLiA-Literaturpreis nominiert. Zuletzt erschienen ist die Pfalz-Krimi-Reihe um die junge Ermittlerin Paula Stern – vor der eigenen Haustür mordet es sich schließlich am besten.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/

Creativ Studio Heinemann

Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-223-6

Pfalz Krimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Kriminalromane sind Reiseführer in den Tod.

Andreas Mäckler, deutscher Autor

Der weltbeste Polizeipudel

Freitag, 17. August

Der Wasserhahn bohrte sich schmerzhaft in ihren Hinterkopf, als sie ruckartig den Kopf hob.

»Autsch!« Paula fluchte laut. Dass Telefone immer dann klingeln müssen, wenn es am ungünstigsten ist, dachte sie grantig. Ihr kam es oft so vor, als ob jemand sie mit versteckter Kamera beobachtete und dann in genau dem Moment anrief, wenn sie gerade auf dem Klo saß, eben in den Keller gegangen oder, wie in diesem Augenblick, beim Haarewaschen war – und der just dann auflegte, wenn sie alles stehen und liegen gelassen hatte und endlich an den Apparat gehetzt war.

Kurz überlegte sie, ob sie das Klingeln ignorieren sollte. Wer etwas von ihr wollte, würde sich sicher wieder melden. Letztendlich wickelte sie sich aber doch ein Handtuch um die schäumende Haarpracht und machte sich auf die Suche nach ihrem Handy. Es konnte etwas Wichtiges sein, die Zentrale zum Beispiel, die sie zu einem Tatort rufen wollte, oder – fast noch wichtiger, entschied sie – Sebastian.

Bei diesem Gedanken machte ihr Herz einen hoffnungsvollen Sprung. Ja, es muss Sebastian sein, beschwor sie das immer noch klingelnde Telefon. Aber sie fand es nirgendwo. Schon so oft hatte sie sich vorgenommen, sich einen festen Ablageplatz dafür auszusuchen, damit sie nie wieder nach dem Teil suchen musste. Doch bisher war es noch nicht zur Ausführung dieser genialen Strategie gekommen.

Seifenwasser rann ihr den Rücken hinunter, durchnässte ihr T-Shirt und tropfte auf das Parkett. Sie dachte kurz daran, doch wieder ins Bad zurückzugehen und das Shampoo auszuspülen, suchte dann aber weiter.

Othello, Nachbarpudel und seit mehreren Wochen bei ihr in Pflege, da sich seine über achtzigjährige Besitzerin den Oberschenkelhalsknochen gebrochen hatte und derzeit in Reha-Kur war, folgte jedem ihrer Schritte.

»Ein ambitionierter Polizeihund hätte das Telefon schon längst gefunden«, sagte Paula zu ihm. »Such! Such das Telefon!«

Der Hund wedelte begeistert mit seinem Stummelschwanz und rannte laut kläffend mehrmals um den Wohnzimmertisch.

Paula musste angesichts der flatternden Ohren und des an den Tag gelegten Elans lachen. Othello war wahrhaftig weit davon entfernt, ein Polizeihund zu sein, auch wenn er seit Wochen in einem Kripo-Dienstwagen mitfahren durfte.

»Hund, du bist keine große Hilfe.«

Das Klingeln verstummte genau in dem Moment, als sie das Telefon endlich in der Küche neben dem Wasserkocher entdeckte. Ihre Theorie mit der versteckten Kamera schien damit bestätigt.

Sie nahm das jetzt stumme Handy in die Hand und überprüfte das Display. Es war nicht Sebastian gewesen. Dabei fehlte er ihr so, die Sehnsucht nach ihm tat fast weh. Und das, obwohl er nur ein Stockwerk unter ihr wohnte. In ihren Augen brannten heiße Tränen. Sie versuchte sich einzureden, dass das auch am Shampoo liegen konnte, das ihr in die Augen lief.

»Keeser«, konnte sie verschwommen entziffern. Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Lider, was aber nicht hilfreich war, ganz im Gegenteil, das Brennen wurde dadurch nur noch schlimmer.

Paula legte das Handy zurück auf die Arbeitsplatte. Ihr Kollege konnte ruhig warten, bis sie die Haare fertig gewaschen hatte.

***

»Was willst du?«, fragte sie Bernd Keeser ohne jegliche Höflichkeitsfloskel, als sie ihn eine halbe Stunde später zurückrief. Es war ihr freies Wochenende, und wenn er anrief, konnte das nur etwas Unangenehmes bedeuten, zum Beispiel, dass sie einen neuen Fall hatten und das freie Wochenende zu Ende war, bevor es richtig begonnen hatte.

Allerdings war Keeser noch krankgeschrieben. Aber das konnte sich schnell ändern, wenn nicht genügend Leute zur Verfügung standen. Er war nach einer Schussverletzung zwar rekonvaleszent, aber nicht wirklich krank. Wie Paula ihn kannte, hätte er wahrscheinlich lieber heute als morgen wieder gearbeitet.

»Deine reizende Gesellschaft«, antwortete Keeser zuckersüß. »Marianne hat gerade abgesagt, und jetzt weiß ich nicht, wie ich allein nach Minfeld kommen soll.«

Das war also kein neuer Fall für sie, das war ein völlig anderer Fall, folgerte Paula, ein privater Fall. »Ich soll dich nach Minfeld fahren?«

»Genau, und bei der Gelegenheit könntest du mir bei einem Orgelkonzert Gesellschaft leisten.«

Wenn das verlockend klingen sollte, dann war Paula die völlig falsche Adressatin. »Ausgerechnet ich? Überhaupt: Hast du nicht irgendwann mal gesagt, du wärst noch zu jung für Klassikkonzerte?«

»Grundsätzlich ja, aber das ist etwas anderes. Es geht um einen guten Zweck. Das Konzert findet in der historischen Kirche in Minfeld statt. Seit Jahren wird mit derartigen Veranstaltungen das Restaurieren der alten Wandmalereien finanziert. Es ist ein wirklich süßes Kirchlein mit einer tollen Orgel. Es werden heute Werke von Bach gespielt.«

Orgelmusik?, dachte Paula wenig euphorisch.

»Ich glaube nicht, dass ich schon in dem Alter für so was bin«, sagte sie zurückhaltend.

»Ach, komm schon, mach einfach einen Ausflug in die Welt der Erwachsenen – mir zuliebe.«

Eine Möglichkeit, sich zu drücken, hatte sie noch: »Soll ich dich etwa mit dem Motorrad abholen?«, fragte sie mit spöttischem Unterton. Der große, nicht eben schlanke Keeser als Sozius war das Letzte, was sie sich vorstellen konnte.

»Quatsch, nie im Leben steige ich auf diesen Feuerstuhl! Nein, wir fahren natürlich mit dem Auto.«

»Darf ich dich erinnern, dass ich kein Auto besitze?«

»Ich komme bei dir vorbei.«

»Ich dachte, du darfst noch nicht fahren?« Die Wunde in seiner Schulter war zwar gut verheilt, aber er war noch nicht arbeitstauglich geschrieben. Autofahren war somit auch noch nicht erlaubt.

»Ach, die paar Meter bis zu dir schaff ich schon. Es darf mich nur keiner dabei erwischen. Von dir aus fährst dann du.«

Paula glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Das ist doch hoffentlich nicht dein Ernst, Herr Kriminalhauptkommissar?«

»Doch …«, kam es kleinlaut aus dem Hörer. »Komm schon, sei nicht immer so akkurat.«

Paula überhörte das geflissentlich. »Gut, aber nur, wenn ich Othello mitnehmen darf.« Sie wusste genau, dass Keesers Verhältnis zu dem Hund, der Paula seit Frau Seidels Sturz im Dienst begleitete, gespalten war, besonders wenn es um das Innenleben von Autos ging.

Er antwortete dann auch wie erwartet: »Das ist aber nicht unser Dienstwagen, sondern meine Privatkutsche.«

»Das macht Othello gar nichts aus«, sagte Paula schnell.

»Aber …«

»Du weißt doch, dass Pudel nicht haaren«, unterbrach sie ihn.

»Du kannst ihn aber nicht mit in die Kirche nehmen …«

»Das ist mir klar, er bleibt im Auto, und in der Pause und danach gehen wir ’ne Runde mit ihm, das wird dir auch guttun.«

»Ach Paula …«

»Othello ist dabei, oder du bleibst mit deinem Hintern daheim!«

»Du solltest in eine andere Abteilung wechseln, das SEK und die GSG 9 brauchen immer Leute, die eiskalt mit Erpressern und Geiselnehmern verhandeln«, merkte Keeser trocken an.

»Wann?«

»Bin um achtzehn Uhr bei dir.«

***

Keeser kam fünf Minuten zu spät. Das hatte Paula noch nie bei ihm erlebt. Ungeduldig stand sie abholbereit auf der Straße und malte sich von Minute zu Minute neue Szenarien aus, wie er durch die schussbedingte Einschränkung einen Unfall gebaut hatte. Dann kam seine alte rote Klapperkiste um die Ecke und stoppte genau vor ihr.

»Ist doch gar nicht so einfach, einhändig zu fahren«, sagte er, als er ausstieg und seinen verletzten rechten Arm zurück in die Armschlaufe schob. »Genauso wie allein anziehen und aufs Klo gehen.«

»Bitte erspar mir Einzelheiten.« Paula verfrachtete Othello auf den Rücksitz und setzte sich auf den Fahrersitz, den sie mehrere Stufen nach vorn stellen musste, um an die Pedale zu gelangen. »Gegen deine eins dreiundneunzig bin ich halt doch ein Zwerg.«

Keeser hatte ihr mit kritischem Blick zugesehen. Er mochte es gar nicht, wenn sein Sitz verstellt wurde, das wusste Paula. Deshalb fuhr auch er meistens den Dienstwagen. Aber er sagte ausnahmsweise nichts dazu.

»Ich bin heilfroh, wenn ich mich wieder richtig bewegen und endlich wieder arbeiten kann.« Er stöhnte beim Anlegen des Sicherheitsgurtes. »Wenn ich wenigstens Linkshänder wäre.«

»Geduld ist nun mal nicht deine Stärke, liebster Kollege. Wohin jetzt?« Paula kannte sich inzwischen schon ganz gut in Landau und Umgebung aus, aber manche Ortsnamen hatte sie in den knapp eineinhalb Jahren, die sie jetzt in der Pfalz lebte, noch nie gehört. Minfeld gehörte dazu.

»Fahr erst mal Richtung Billigheim.«

Der Ort war Paula bekannt, also fuhr sie los. Sie fädelte sich durch die große Baustelle, die genau dort war, wo sie vom Südring in die Xylanderstraße abbiegen musste. Hier wurde gerade ein Kreisel gebaut, aber bis der fertig sein würde, war dieser Knotenpunkt ein Ärgernis für alle Landauer.

Paula musste wie meistens vor der herabgelassenen Bahnschranke in der Weißenburger Straße anhalten. Die paar Male, die sie ungehindert hatte durchfahren können, konnte sie an einer Hand abzählen.

»Was meinst du, wie lange du noch krankgeschrieben bist?« Keeser fehlte ihr im Dienst. Seine Ruhe, sein Humor, aber auch die kulinarischen Pausen, die er nur allzu gern einlegte. Jochen Lenzmann, mit dem sie zusammen Dienst tat, seit Keeser vor ein paar Wochen angeschossen worden war, fand sie zwar nett, und es war wirklich angenehm, mit ihm zu arbeiten – aber er war eben nicht Keeser. Fast drei Monate war ihr Lieblingskollege jetzt schon dienstuntauglich.

»Von mir aus könnte ich gleich loslegen. Der Kopf ist ja vollkommen in Ordnung …«

»Bist du sicher?«, fragte Paula spöttisch.

Er ging nicht darauf ein. »Es ist nur die blöde Schulter, die noch muckt. Aber das wäre grundsätzlich nicht so schlimm, weil du ja den Dienstwagen fahren und mich notfalls beschützen könntest, wenn es brenzlig wird.«

»Also fast wie gehabt«, bemerkte Paula und spielte damit auf ebenden Fall an, bei dem Keeser dienstunfähig geschossen worden war. Wäre sie damals nicht rechtzeitig gekommen …

»Das wirst du mir wohl ein Leben lang aufs Brot schmieren«, knurrte Keeser.

»Darauf kannst du deine heile Schulter verwetten.«

Sie erreichten Billigheim, fuhren geradeaus weiter, dann durch Barbelroth und nahmen im Kreisel die Ausfahrt Richtung Winden.

»In Winden waren wir schon mal«, sagte Keeser. »Da haben wir letztes Jahr die kleine Russin am Bahnhof abgefangen, erinnerst du dich?«

Klar erinnerte sich Paula. »Elena. Wie es ihr wohl heute geht?«

Weiter ging es durch Hergersweiler und Winden. Keeser wies sie an, gleich nach der Eisenbahnbrücke rechts abzubiegen. Minfeld war schon der nächste Ort.

Keeser lotste Paula rechts und wieder rechts, und als sie sich durch eine schmale Zufahrtsgasse geschlängelt hatten, standen sie direkt vor einer Kirche aus rotem Sandstein.

»Ich glaube nicht, dass wir hier stehen bleiben können«, sagte Paula. »Das sieht nicht wie ein öffentlicher Parkplatz aus.«

»Ach was, mach dir keine Gedanken. Wir sind schließlich die Polizei.«

»Wir sind aber nicht im Einsatz.«

»Wie schon mal erwähnt: Sei nicht immer so entsetzlich akkurat.« Keeser hob seinen kranken Arm in die Höhe. »Ich bin ein Krüppel, wie du unschwer erkennen kannst. Krüppel dürfen hier parken. Also komm endlich, ich will einen guten Platz haben.« Er stieg aus und marschierte zielstrebig auf die Kirche zu.

Paula gab auf. »Ist ja dein Auto, das abgeschleppt wird«, murmelte sie und drehte sich zu Othello um, der dann zwangsläufig mit abgeschleppt werden würde. Der Hund sah sie hoffnungsvoll an. »Nein, mein Kleiner, du bist erst später dran. Du musst in der Zwischenzeit polizeipudelmäßig das Auto bewachen.«

Mit einem enttäuschten Seufzer legte sich Othello auf den Rücksitz.

***

Keeser hatte sich bereits einen günstigen Platz in der Mitte der Bankreihen gesichert und klopfte einladend auf den Sitzplatz links neben ihm. »In der Pause gibt es Knabbereien und Kirchwein«, kündigte er an. »Der ist übrigens sehr fein, heißt ›Teufelstropfen‹. Ist doch originell in einer Kirche, oder?«

»Kostet das hier keinen Eintritt?«, fragte Paula. Sie parkte schon zweifelhaft, da wollte sie nicht auch noch als blinder Passagier in einem Konzert sitzen. »Oder hast du für mich mitbezahlt?«

»Nein, das hier ist kostenlos, aber wir können etwas spenden.«

»Warst du schon öfter hier?« Paula sah sich interessiert in dem kleinen Kirchenschiff um, das sich zügig füllte. Mehr als dreihundert Menschen würden hier nicht reinpassen.

»Ein-, zweimal. Zuletzt bei einem Konzert mit mittelalterlicher Musik.« Keeser musterte Paula prüfend. »Hast du Sebastian nicht gefragt, ob er mitkommen will? Es würde ihm sicher gefallen.«

Er konnte nicht wissen, dass er da einen wunden Punkt bei Paula getroffen hatte. Ihr Gesicht verdüsterte sich sofort. »Ich hab seit einigen Tagen nichts von ihm gehört. Er meldet sich nicht, und ich erreiche ihn nicht. Gesehen hab ich ihn auch nicht.«

»Geht das überhaupt, wenn man im selben Haus wohnt?«

»Offensichtlich«, sagte Paula trotzig.

»Hat er Schluss gemacht?«, fragte Keeser vorsichtig.

»Nein. Hätte er es getan, wüsste ich wenigstens, woran ich bin.« Tränen liefen ihr über die Wangen, obwohl sie das keinesfalls wollte. »Aber seit der Sache mit seiner Verhaftung ist er so anders, zurückhaltend und verschlossen. Seit die Sommerferien vorbei sind, komme ich gar nicht mehr an ihn ran. Er geht mir aus dem Weg.«

Keeser legte tröstend den gesunden Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. »Vielleicht hat er Probleme in der Schule. Es ging ja durch alle Zeitungen.«

»Aber warum redet er dann nicht mit mir darüber? Ich wäre doch die Letzte, die nicht versteht, was er durchmacht. Ich habe schließlich tagtäglich mit Verbrechen und Verdächtigungen zu tun.«

Keeser saß grübelnd neben Paula. »Ich könnte ihn mir mal zur Brust nehmen«, schlug er vor. »Ein Gespräch von Mann zu Mann wirkt manchmal Wunder. Sebastian kann sich vielleicht vor dir drücken, aber vor mir ganz bestimmt nicht. Notfalls lade ich ihn ganz offiziell vor.«

Paula ließ sich diesen gut gemeinten Vorschlag durch den Kopf gehen.

»Lass mal stecken, Bernd«, sagte sie gerührt, »mit meinen privaten Problemen muss ich schon selbst fertigwerden.« Allerdings hätte sie keinen Eid darauf abgelegt, dass Keeser sich wirklich aus ihrem Privatleben raushalten würde. Sie selbst ließ sich von nichts und niemandem von ihren Einmischungen in das Leben anderer abhalten, und Keeser war in diesen Dingen ähnlich gestrickt wie sie.

Die Orgel setzte ein, raumfüllend, gewaltig. Paula war froh, dass damit das Gespräch beendet war, denn sie hätte ganz sicher noch mehr geheult, wenn sie weiter über ihren Kummer mit Sebastian geredet hätte. Das war aber das Letzte, was sie in Keesers Anwesenheit tun wollte. Er hatte bisher nichts davon mitbekommen, da er daheim sitzen und Däumchen drehen musste – und Kollege Lenzmann war ihr nicht so vertraut, dass sie Persönliches austauschten.

Ihrer Mutter, die Sebastian seit ihrem Besuch im Mai kannte und sehr mochte, konnte sie ihr Herz auch nicht ausschütten. Sie würde sich nur unnötige Sorgen um die jüngste Tochter machen, die unter diesen Umständen wieder nicht im Hafen der Ehe landen würde. Keeser hatte sie einfach in einem schwachen Moment erwischt.

Die Klänge der Orgel beruhigten Paula, schalteten alles um sie herum aus. Die Bank, auf der sie saß, vibrierte leicht, die Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich wie elektrisiert auf. Es war fast wie zu Hause, wenn sie mit lauter – sehr lauter – Musik abzuschalten versuchte.

Sie hätte nie gedacht, dass mit klassischer Orgelmusik der gleiche Effekt erreicht werden könnte wie mit Linkin Park, Apokalyptica oder Rammstein. Aber sie entspannte sich tatsächlich, Sebastian rückte in den Hintergrund, der Gedanke an ihn wurde ausgelöscht vom Getöse der Orgelpfeifen.

Das Stück kenne ich doch, wunderte sich Paula nach den ersten Takten. Ja, sie war sich sicher, es schon einmal gehört zu haben. Sie glaubte sich an einen alten Jules-Verne-Film zu erinnern, in dem Kapitän Nemo das Stück auf der Orgel in seinem Unterseeboot Nautilus gespielt hatte.

»Das waren Toccata und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach«, erklärte eine Frau mit kurzen dunklen Haaren, nachdem die letzten Töne des ersten Stückes verklungen waren. »Und damit begrüße ich Sie alle recht herzlich zu unserem Konzert in der historischen Kirche in Minfeld.«

Sie stellte sich selbst als Anita Frey und als Vorsitzende des Fördervereins der historischen Kirche vor, dann den Organisten, der extra für dieses Konzert aus dem fernen Straßburg angereist war, und den Bürgermeister, der nebst Gattin in der ersten Reihe saß. Sie nannte alle fleißigen Helferlein, ohne die derartige Veranstaltungen nicht möglich seien und die sich so unermüdlich für den Erhalt des Kirchleins einsetzten. Dann wies sie noch darauf hin, dass die Restaurierungsarbeiten aus Spenden finanziert würden und die Anwesenden gern während der Pause und nach der Veranstaltung ausgiebig ihren Obolus dazu beitragen dürften.

Es ging weiter im Programm. Paula waren die nachfolgenden Musikstücke allesamt unbekannt, aber sie genoss jedes einzelne. Sie fühlte sich wie in Musik getaucht und beschloss, sich in den nächsten Tagen eine CD mit Orgelmusik zu besorgen.

***

Während sich Keeser in der Pause in einer Schlange einreihte, um Wein für sie zu besorgen, holte Paula Othello aus dem Auto, damit der sich ein bisschen die Pudelbeine vertreten beziehungsweise das eine oder andere davon kurz heben konnte. Sie nahm ihn an die Leine und verschwand mit ihm an einem grün gestrichenen Bauwagen des örtlichen Jugendtreffs vorbei in die Grünanlage hinter der Kirche.

Trotz einsetzender Dämmerung konnte sie ihre Umgebung recht gut erkennen. Als sie allein waren, ließ sie Othello frei laufen.

»Aber nur ganz kurz, mein Lieber, Onkel Keeser wartet auf uns«, schickte sie ihm hinterher, als er schnüffelnd im Schatten einer Hecke verschwand.

Mehrere Minuten vergingen, ohne dass Othello wiederauftauchte. Paula hörte nur weit von sich Rascheln und Hecheln.

»Othello, komm her!«, rief sie.

Der Hund kam nicht. Aber zu dem Rascheln war ein weiteres Geräusch hinzugekommen, es klang nach spritzender Erde. Othello buddelte also nach etwas. Paula war alles andere als begeistert, denn Keeser würde sich sicher maßlos aufregen, wenn sie ihm einen verdreckten Hund ins Auto setzte.

»Othello, komm sofort hierher!«

Der Hund scherte sich kein bisschen um diesen Befehl, sondern scharrte weiter im Erdreich. Paula verließ den Weg und ging über den Rasen auf das Geräusch zu.

»Othello – Fuß!« Der Ärger verheißende Ton ließ den Hund in seiner Tätigkeit innehalten. Trotz der schlechter werdenden Lichtverhältnisse konnte Paula erkennen, dass er mit gesenktem Kopf zu ihr geschlichen kam. Das Ausmaß seiner Schmutzigkeit konnte sie allerdings nur erahnen.

Sie leinte ihn an und zerrte den nur widerstrebend folgenden Pudel hinter sich her, zurück auf den Kirchenvorplatz. Ein derartiges Verhalten hatte sie bisher noch nicht bei ihm erlebt.

»Na los doch, Onkel Keeser trinkt sonst meinen Wein aus. So lecker kann das doch gar nicht gewesen sein, was du da gefunden hast«, sagte sie.

Othello begann zu winseln. Immer wieder blieb er stehen und warf sehnsüchtige Blicke zurück in den Park. Erst als sie wieder vor der Kirche waren, gab er Ruhe.

Paula mischte sich unter die Konzertgäste, die plaudernd vor der Kirche standen. »Du bist aber ein Süßer«, wurde Othello von vielen angesprochen und trotz der mit Dreck verkrusteten Schnauze von unzähligen Händen gestreichelt. Paula war beruhigt, der kleine Kerl hatte das, was er gerade noch auszubuddeln versucht hatte, offensichtlich schon vergessen.

»Ich bin immer noch fast taub«, stellte Keeser fest und reichte Paula ein gefülltes Weinglas. Mit dem Zeigefinger der frei gewordenen Hand bohrte er demonstrativ im Ohr, als ob das etwas helfen würde. »Und du hörst immerzu solchen Lärm.«

»War doch genial, alter Mann, ich weiß gar nicht, was du willst.«

Keeser zog erstaunt eine seiner buschigen Augenbrauen in die Höhe. »Na so was! Sag bloß, die Alte-Leute-Musik gefällt dir? Daran merkt man, dass du eben auch nicht mehr die Jüngste bist.«

Paula winkte ab und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Der Wein schmeckt gut – und der heißt wirklich ›Teufelstropfen‹?«, versuchte sie abzulenken.

Keeser nickte bestätigend. »Eigentlich ein Hergersweilerer Narrenberg, genauer gesagt ein Cabernet Mitos, aber der Förderverein hat sich den originellen Namen ›Teufelstropfen‹ dafür einfallen lassen.«

»Wenn das nicht meine Lieblingskommissare sind«, flötete eine wohlbekannte Stimme neben ihnen. »Frau Stern, Herr Keeser, Sie verbringen also auch Ihre Freizeit zusammen?« Eine Spur leiser fügte sie hinzu: »Oder sind Sie dienstlich hier?«

Bettina Mertens, eine Journalistin der »Rheinpfalz«, stellte sich mit Block und Stift bewaffnet neben Keeser. Mit ihren höchstens hundertsechzig Zentimetern Körpergröße musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

»Verfolgen Sie uns?«, brummte Keeser hörbar unterbegeistert.

Die pummelige Reporterin lachte ausgelassen und blitzte ihn mit ihren wasserblauen Augen übermütig an. »Aber nein, heute bin ich ausnahmsweise nicht Ihretwegen hier. Ich soll einen Artikel über das Konzert schreiben. Da kann ich Sie ja gleich mal interviewen, um die Meinung des Publikums einzufangen.«

Keeser war anzusehen, dass er davon überhaupt nicht begeistert war. Paula wusste, dass er mit dieser lästigen Zeitungsschnüfflerin beruflich nichts zu tun haben wollte, privat dann sicherlich erst recht nicht. Wahrscheinlich traute er der Journalistin sogar zu, dass sie ihnen ein Verhältnis andichtete, nur weil sie gemeinsam auf einer Veranstaltung waren.

»Keine Zeit, wir müssen vor Pausenende noch den Hund ins Auto bringen«, sagte Keeser unfreundlich.

»Welchen Hund?«, fragte Bettina Mertens und sah sich suchend um.

»Na, den hier«, sagte Paula und sah zu ihren Füßen, neben denen allerdings kein Pudel mehr saß. Lediglich das leere Halsband lag im Gras. »Dieser kleine Mistkerl!«, zischte sie.

»Such du den Hund, ich bringe die Gläser zurück«, bot Keeser an.

Paula trank hastig den letzten Schluck Wein aus und stellte ihr Glas auf einem großen Sandsteinquader ab. Sie war stinksauer auf Othello. Sie wusste genau, wo sie ihn finden würde. Bevor sie sich jedoch einen Weg durch die Leute in Richtung Park gebahnt hatte, tauchte Othello plötzlich vor ihr auf. Noch dreckiger als zuvor, trug er etwas im Maul.

»Aus!«, befahl Paula streng.

Othello legte den Kopf schief und sah zu ihr hoch. Er schien zu überlegen, ob er gehorchen sollte. Paulas düstere Miene überzeugte ihn dann wohl, das eben ausgegrabene Beutestück vor ihren Füßen abzulegen. Aus den Augen ließ er es aber nicht.

Paula ging in die Hocke und versuchte zu erkennen, was es war.

»Sieht aus wie ein Stück Knochen«, diagnostizierte Bettina Mertens fachmännisch. Sie war Paula gefolgt und spähte ihr interessiert über die Schulter.

Paula stupste das Knochenfragment mit dem Zeigefinger an. Othello bellte daraufhin aufgeregt und wollte danach schnappen. Sie konnte ihn gerade noch davon abhalten.

Eines von Keesers karierten Stofftaschentüchern tauchte in ihrem Gesichtsfeld auf. »Hier, nimm das, sonst erfahren wir nie, was er da gefunden hat.«

Mit Hilfe des Taschentuches hob Paula das Fundstück auf und ging damit ins Licht. Es war definitiv ein Knochen. Ein übler Geruch ging von ihm aus. Paula vermutete, dass das an den halb verwesten Fleischresten lag, die noch an ihm hingen. Als sie zwei kleine Gelenke erkannte, hätte sie den Knochen beinahe fallen lassen.

»Das ist ein menschlicher Finger«, sagte sie tonlos.

»Quatsch, wo soll denn der herkommen?« Keeser schüttelte ungläubig den Kopf.

»Zuerst wollte ich diesen Auftrag ablehnen. Wenn das nicht Fügung ist! Das wird einen ganz außerordentlichen Artikel geben«, frohlockte Bettina Mertens und machte ein Foto mit der Kamera, die um ihren Hals hing.

»Sie halten sich gefälligst zurück, bis wir mehr wissen«, fuhr Keeser sie schlecht gelaunt an. »Es handelt sich hier vielleicht um ein Verbrechen und ganz sicher nicht um eine unterhaltsame Gute-Nacht-Geschichte.«

Bettina Mertens sah ihn ernst an. »Aber ja, Herr Kommissar, ich warte natürlich, bis Sie grünes Licht geben. Habe ich Sie schon jemals in dieser Hinsicht enttäuscht?«

Ein verächtliches Schnauben war Keesers Antwort. Paula war sich sicher, dass er gerade das Gleiche dachte wie sie: Als ob sich schon jemals ein Journalist zurückgehalten hätte!

»Das Gelände rund um die Kirche war vor langer Zeit mal ein Friedhof, der Knochen könnte also noch von früher sein«, mutmaßte ein älterer Herr neben Paula, der die Aktion mitbekommen hatte und den Fund ebenfalls neugierig betrachtete.

»Dafür ist er viel zu frisch«, sagte Paula.

»Dann vielleicht vom neuen Friedhof. Der befindet sich gleich im Anschluss an den Kirchgarten.«

Paula hatte jedoch einen ganz anderen Verdacht. »Hast du eine Taschenlampe im Auto?«, fragte sie Keeser, da es zunehmend dunkler wurde. Als er nickte, bat sie ihn, sie zu holen.

Ohne den üblichen spöttischen Kommentar zog er los und kam wenig später mit der Lampe zurück. »Ich wollte schon immer mal nachts auf einen Friedhof gehen.« Seine Augen sprühten vor kindlicher Unternehmungslust.

»Halt das mal«, sagte Paula und drückte ihm das Taschentuch mit dem Knochen in die Hand, die aus der Stützschlinge ragte, um Othello das Halsband wieder anzulegen. Vorsichtshalber schnallte sie es ein Loch enger, damit er nicht noch einmal ausbüxen konnte.

Keeser verzog das Gesicht, aber Paula machte keine Anstalten, ihm das stinkende Ding wieder abzunehmen.

»Los, Othello, such noch mehr von den leckeren Knochen!«

Der Hund ließ sich das nicht zweimal sagen. Er stürmte sofort los und zerrte Paula hinter sich her.

»Sie bleiben alle hier«, sagte Keeser zu den inzwischen versammelten Neugierigen. Erst dann folgte er Paula.

»Du weiß schon, dass man dich und Othello wegen Grabschändung drankriegen wird«, prophezeite Keeser dicht hinter ihr.

Wie Paula erwartet hatte, zog sie der Hund nicht zum Friedhof, sondern bog nach wenigen Metern bei einer Bank nach rechts auf den Rasen ab. Bevor er unter den Büschen verschwinden konnte, hielt Paula ihn zurück, übergab Keeser die Leine und schaltete die Taschenlampe ein.

Allerlei Gesträuch stand da durcheinander. Paula bahnte sich einen Weg hindurch, bis sie im kreisrunden Lichtstrahl die Stelle entdeckte, an der Othello gegraben hatte.

»Das ist nicht der Friedhof«, stellte Keeser enttäuscht fest.

Paula kämpfte sich weiter durch das Gebüsch und näherte sich vorsichtig dem Loch. Da waren noch mehr Knochen, musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen. Erst als sie auf allen vieren halb unter einen Busch gekrochen war, erkannte sie, worum es sich handelte: eine teilweise skelettierte Hand. Die Hand, von der der Finger in Keesers Taschentuch stammen musste, denn genau dieses Stück fehlte hier.

»Jedenfalls nicht der offizielle Friedhof«, sagte Paula trocken und kroch zu Keeser und Othello zurück. »Dort liegt ein Mensch begraben.«

»Willst du mich verarschen?« Er forschte in ihrem Gesicht. »Scheiße, du meinst das ernst!«

»Wir brauchen die Spurensicherung, es muss weiträumig abgesperrt werden – das volle Programm eben.« Paula zückte ihr Handy und wählte die Nummer der Zentrale.

Keeser setzte sich auf die Bank neben dem Weg und betrachtete Othello, der in Habachtstellung vor ihm saß und nur Augen für das Taschentuch mit dem Knochen in seiner Hand hatte. »Gar nicht schlecht, Kleiner. Du bist tatsächlich der beste Polizeipudel, den ich je kennengelernt habe«, sagte er anerkennend.

»Na, haben Sie was gefunden?« Bettina Mertens stand plötzlich neben der Bank, neben ihr der ältere Herr, der ihnen den Tipp mit dem Friedhof gegeben hatte.

Paula erschrak beinahe zu Tode, da sie die beiden nicht hatte kommen sehen.

Keeser erhob sich. »Hab ich mich so undeutlich ausgedrückt? Sie haben hier nichts verloren. Ich muss Sie beide bitten, den Park zu verlassen. Das hier ist ein Tatort. Gehen Sie am besten zurück zu den anderen, es wird gleich ein Einsatzteam kommen und Sie instruieren, was Sie tun müssen.«

»Hier liegt eine Leiche?« Der Herr wirkte mehr begeistert als erschüttert.

»Das darf ich aber doch schreiben?« Bettina Mertens wollte die Chance auf eine Exklusivmeldung keinesfalls ungenutzt verstreichen lassen.

»Ich kann Ihnen noch gar nichts sagen, erst wenn die Spurensicherung alles untersucht hat, wissen wir mehr. Ich bitte Sie also noch einmal zurückzugehen.«

»Frau Mertens«, sagte Paula, »warten Sie einfach ab, bis wir die Spurensicherung dahaben. Alles andere wäre wilde Spekulation.«

»Aber um zweiundzwanzig Uhr ist Abgabeschluss …«

»Es dauert so lange, wie es dauert«, sagte Keeser unfreundlich und drängte die beiden neugierigen Mitmenschen in Richtung Kirche.

In diesem Moment setzte die Orgel ein. Die Pause war vorbei, und das Konzert ging weiter. Paula kam das sehr entgegen. Die Gäste saßen also wieder auf ihren Plätzen und würden von dem, was gleich passieren würde, erst einmal nichts mitbekommen.

Sichtlich ungern entfernten sich die Journalistin und der ungebetene Zaungast. Paula konnte sich genau vorstellen, wie er die Neuigkeit trotz der lauten Musik in der Kirche verbreitete. Sie hoffte, dass nicht noch mehr Schaulustige hier auftauchten.

Paula setzte sich neben Keeser auf die Bank. Othello legte sich mit einem theatralischen Stöhnen vor ihre Füße. Er hatte erkannt, dass das mit dem leckeren Knochen nichts mehr werden würde.

»Die Mertens hat uns gerade noch gefehlt«, brummte Keeser.

»Reg dich nicht auf, es wäre doch eh irgendwann an die Presse gegeben worden.«

»Ja, irgendwann, aber doch nicht gleich heute. Die macht aus der Fundstelle im Gebüsch doch erfahrungsgemäß ein Massengrab.«

Sie lauschten schweigend den gedämpften Klängen der Orgel, die hinter den dicken Kirchenmauern das vorgesehene Programm weiterspielte. Der Mond kroch über das Kirchendach, er war voll und tauchte alles in gespenstisches Licht. Vereinzelte Wolken dunkelten ihn immer wieder ab, bevor sie weiterzogen.

»Wenn du nicht darauf bestanden hättest, den Hund mitzunehmen, wären die sterblichen Überreste dort drüben vielleicht nie gefunden worden«, sagte Keeser plötzlich.

»Willst du mir damit sagen, dass du es toll findest, dass ich manchmal so stur bin?«

»Nein, ich werde mich hüten, dich auch noch dafür zu loben. Ich wollte nur feststellen, dass manches einfach von der Verkettung verschiedener Umstände abhängt. Hätte Marianne nicht abgesagt, dann hätte ich dich nicht dazu überreden müssen, mit mir hierherzukommen. Und wenn Frau Seidel nicht in Reha wäre, hättest du den Hund nicht in Pflege. Ist es nicht denkwürdig, wie sehr alles von Zufällen abhängt?«

Paula setzte gerade zu einer Antwort an, da hörte sie Motorengeräusche und Türenknallen. Sie tippte auf die Verstärkung, die sich jetzt um alles Erforderliche kümmern würde. Sie stand auf.

»Weißt du, was ich meine?«, hakte Keeser nach. »Wäre Sebastian damals mit zu mir zum Essen gekommen, wäre er nie unter Verdacht geraten.«

Paula grinste ihn schief von oben an. »Und hätte ich damals nicht zufällig meine Dienstwaffe in der Handtasche gehabt und wäre damit nicht auch noch rechtzeitig im Parkhaus gewesen, dann wärst du jetzt tot und könntest heute nicht so tiefschürfende philosophische Überlegungen anstellen.«

Keeser brummte unwillig. »Musst du schon wieder davon anfangen?«

»Klar, bei der wunderbaren Vorlage, das muss ich doch auskosten.« Sie legte ihm die Hand auf die fast verheilte Schulter. »Natürlich verstehe ich, was du meinst – aber so ist das Leben nun mal. Jedes Tun und auch Nicht-Tun löst etwas aus. Das macht es doch so spannend.«

Paula ging auf die Kollegen von der Kriminaltechnik zu. Es waren Werner Dreißigackers Leute. Der etwas kleinere, untersetzte Mann, der ihnen folgte, war Dreißigacker selbst.

Sie schleppten Metallkoffer, aber auch Kabeltrommeln und Strahler herbei. Gleich würden der Fundort und die nähere Umgebung in grelles Licht getaucht sein. Mehr Menschen folgten ihnen. Polizeibeamte, Leute von der Gerichtsmedizin. Paula erkannte Andreas Knopp. Sie freute sich, dass er Dienst hatte. Es war immer angenehm, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Der lange, schlaksige Umriss, der zum Schluss erschien, konnte nur zu Polizeianwärter Hartmut Berger gehören, der sogar ein paar Zentimeter größer als Keeser war und dadurch noch dünner und staksiger wirkte. Er begann sofort, den Zugang zur Grünanlage mit Absperrband zu verschließen.

»Wir brauchen Strom«, sagte Dreißigacker nach flüchtiger Begrüßung.

Paula erklärte sich bereit, sich darum zu kümmern. Ihrer Meinung nach hatte sie lange genug untätig herumsitzen müssen. Sie ging zurück in die Kirche, wo das Konzert noch immer im Gange war. Die Veranstalterin saß zum Glück in der Nähe des Eingangs, so konnte Paula sie herauswinken, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen. Nur der ältere Herr, der die Knochengeschichte hautnah miterlebt hatte, sah neugierig zu ihr herüber.

Wenig später konnte einer der Techniker den Stecker einer Kabeltrommel in einem kleinen Anbau der Kirche in die Steckdose stecken. Die Strahler tauchten Teile des Weges, die Bank, auf der Keeser noch immer saß, die Rasenfläche davor und die Hecken, unter denen sich das kühle Grab eines Unbekannten befand, in unnatürlich helles Licht.

Paula sah, wie sich zwei Beamte daranmachten, mit Baumscheren einen Zugang freizuschneiden. Sie fragte sich, ob diverse Gartengeräte zur normalen Grundausstattung von Einsatzwagen auf dem Land gehörten.

»Ihr zwei macht aber auch immer Ärger«, stellte Knopp mürrisch fest, der gerade seinen »Werkzeugkoffer«, wie er ihn nannte, neben der Bank abstellte. »Beinahe hätte ich es in den Feierabend geschafft. Warum habt ihr nicht ein paar Minuten später angerufen?«

Keeser hob entschuldigend die Schultern. »Wir wollten ja eigentlich auch nur Konzert und nicht Konzert mit Leiche.«

Knopp sah sich über den goldenen Rand seiner Brille hinweg den Knochen auf Keesers Taschentuch genau an. »Das ist eindeutig nichts Frisches.«

»Was meinen Sie, wie lange der schon dort liegt?«, fragte Paula.

»Ein paar Wochen, ein paar Monate – auf den ersten Blick schwer zu sagen«, antwortete Knopp. »Wir müssen erst mal abwarten, was wir zutage fördern. Es gibt in solchen Fällen vieles zu beachten, zum Beispiel, ob die Leiche in etwas eingewickelt war. Wenn ja, worin? In Folie? In einen Teppich? Der Grad der Verwesung hängt auch vom Erdreich ab – Lehmboden oder sandiger Grund? Und noch von vielem mehr. Ihr merkt schon, das wird spannend. Und es wird ganz bestimmt nicht schnell gehen, nur damit ihr beiden von vornherein Bescheid wisst und mich nicht nervt. Und jetzt entschuldigt mich, ich will bei der Freilegung dabei sein.«

Keeser sah seinem alten Freund ungläubig nach. »Ich habe so das Gefühl, Knoppi freut sich richtig auf diesen Job. Der tut gerade so, als ob es sich um eine archäologische Ausgrabungsstätte handelt.«

Genau so sieht es auch aus, dachte Paula.

Dreißigacker kniete mit einem Kollegen auf dem Boden und entfernte vorsichtig Zentimeter um Zentimeter Gras und Erde, um ja nichts zu beschädigen oder zu verrücken. Er wollte den Leichnam in der originalen Liegeposition freilegen und fotografieren.

Polizeiobermeister Hans Becker trat zu ihnen. »Hännen ihr zwää nit eischendlisch freig’hätt?«, fragte er in schönstem Eingeborenenpfälzisch.

Paula sah ihn verständnislos an. Becker brachte sie regelmäßig an ihre sprachlich-dialektischen Grenzen. Sie erkannte nur, dass es sich um eine Frage handelte.

Zum Glück antwortete Keeser: »Kollegin Stern hatte eigentlich frei – ich bin noch krankgeschrieben. Aber das hat sich wohl gerade für uns beide erledigt.«

Ein Paula noch unbekannter Beamter trat zu ihnen und stellte sich als Polizeihauptmeister Robert Schuster von der Polizeidienststelle Wörth vor.

»Bei uns ist die Meldung über einen Leichenfund eingegangen.« Er sah Becker kritisch von der Seite an. »Was mich allerdings wundert, ist die Tatsache, dass hier die Kollegen aus Landau vor Ort sind. Kriminaltechnik und Kripo sind auch schon da, das ging aber verdammt schnell.«

Keeser stand auf, zog seinen männertypisch dicken Geldbeutel aus der Gesäßtasche und zeigte ihm seinen Dienstausweis. »Das ging nur so schnell, weil zwei Leute von der Kripo, genauer gesagt von der Mordkommission, die Leiche gefunden haben, nämlich Kollegin Paula Stern und meine Wenigkeit.«

Paula schüttelte Robert Schuster die Hand.

»Können mein Kollege und ich noch etwas tun?«, fragte er und sah sich eingehend um.

»Die Personalien der Konzertbesucher müssen aufgenommen werden«, schlug Keeser vor. »Polizeiobermeister Becker und seine Landauer Kollegen freuen sich bestimmt über jegliche Unterstützung.«

Becker nickte zustimmend, er hielt generell nichts von Kompetenzstreitigkeiten. Je mehr Leute anpackten, desto schneller ging alles und desto früher kamen sie alle nach Hause. Er begleitete Schuster zum Kirchenvorplatz.

Paula überlegte, dass sie eigentlich Jochen Lenzmann, ihren momentanen Ermittlungspartner, anrufen müsste.

»Guten Abend, Kollegen«, sagte da eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Unangenehm bekannt. Sie sagte sich aber auch, dass das gar nicht sein konnte.

Irritiert drehte sie sich zu dem Besitzer der Stimme um. Sie hatte sich nicht getäuscht: Da stand tatsächlich Matthias Weber vor ihnen und begrüßte alle mit Handschlag.

»Hallo, Paula, schön, dich zu sehen«, sagte er, als sie an die Reihe kam.

Paula zögerte, gab ihm dann aber doch die Hand. Sie fragte sich, was dieser schleimige Kerl hier wollte. Der konnte doch nicht zufällig hier vorbeigekommen sein. War er etwa genauso wie sie und Keeser in dem Konzert gewesen? Weber und Orgelmusik? Möglich ist alles, dachte sie, schließlich war sie auch hier. Aber dann hätte er sich doch sicherlich schon in der Pause bemerkbar gemacht.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie und sah Weber zutiefst argwöhnisch an.

»Ich bin dein neuer Partner. Ich hab mich zur Mordkommission versetzen lassen«, antwortete er breit lächelnd.

Paula verschlug es die Sprache. Weber war der letzte Mann, mit dem sie etwas zu tun haben wollte, und mit ihm zusammenarbeiten wollte sie schon dreimal nicht.

»Ich dachte mir schon, dass du dich wahnsinnig darüber freust«, sagte Weber ironisch.

Keeser beobachtete die beiden wie zwei Bakterien unter einem Mikroskop. Er wusste genau, wie sehr Paula Matthias Weber verabscheute. Schließlich hatte er hautnah mitbekommen, wie Weber Paulas Freund hinter Gitter gebracht und zudem äußerst mies behandelt hatte. Sein skeptischer Blick verriet, dass er nicht ganz verstehen konnte, dass Weber trotz allem eine Zusammenarbeit mit Paula anstrebte. Er machte einen Schritt nach vorn, als rechnete er damit, dass Paula Weber gleich an die Gurgel ging.

»Du mein neuer Kollege? Das wüsste ich aber.« Paulas Stimme klang scharf. »Und was machen in der Zwischenzeit die ganzen Vergewaltiger, Nutten und Zuhälter?«

»Die müssen wohl ohne mich auskommen. Mann, Paula, sei nicht so aggressiv. Die Sache ist inzwischen Schnee von gestern. Wir hatten doch das Kriegsbeil längst begraben.«

»Hatten wir das? Ich kann mich nicht daran erinnern. Im Gegenteil, ich habe dir damals die Pest an den Hals gewünscht, und daran hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert.« Paula schenkte ihm einen kühlen Blick.

Wenigstens hat er die Haare jetzt anders, dachte sie, ganz kurz und nicht mehr so eklig mit tonnenweise Gel nach hinten geklebt. Bis auf die angeberische Lederjacke, die einer aufwendig gearbeiteten Motorradjacke nachempfunden war und die er schon bei ihrem ersten Zusammentreffen getragen hatte, wirkte er nicht mehr ganz so prollig auf sie wie damals. Aber leiden konnte sie ihn deswegen noch lange nicht.

Auch nicht, wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. Zumal die Sache, wie er Sebastians Verhaftung wegen angeblicher Vergewaltigung und den daraus resultierenden unfreiwilligen Aufenthalt im Gefängnis so lapidar genannt hatte, in ihrer Beziehung eben nicht Schnee von gestern war. Sebastian hatte sich seitdem sehr verändert, er war verschlossen und unzugänglich geworden.

Wut kochte in Paula hoch. Der wollte ihr Kollege sein? Was bildete sich dieser arrogante Kerl eigentlich ein?

»Ey, ich hatte mich doch für alles entschuldigt.« Weber sah hilfesuchend zu Keeser, konnte aber an dessen ungerührter Miene erkennen, dass von ihm keinerlei Intervention zu erwarten war.

»Mir egal«, fauchte Paula, »ich habe jedenfalls schon einen Kollegen. Im Moment ist es Jochen Lenzmann und in Kürze wieder Keeser. Such dir also jemand anderen, den du bei der Mordkommission nerven kannst.«

»Das musst du mit Kriminaloberrat Sonne klären. Der Chef hat nämlich befunden, dass wir zwei ganz vorzüglich zusammenpassen«, sagte Weber mit einem überheblichen Lächeln. »Und jetzt werde ich das Konzert beenden und mit ein paar Kollegen die Personalien der Leute aufnehmen. Bis später.« Er hob die rechte Hand zum militärischen Gruß an die Stirn, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung Kirche.

Paula sah ihm ungläubig nach. Auch wenn er besser aussieht als früher – er ist doch immer noch derselbe Arsch, dachte sie. »Wie kann Sonne so was über meinen Kopf hinweg entscheiden?«

Keeser verzog das Gesicht und antwortete nur mit einem Schulterzucken. Paula schloss daraus, dass er sich das auch anders vorgestellt hatte. Bestimmt hatte er gehofft, er selbst könnte bei diesem Fall, der besonders interessant werden könnte, endlich wieder mitermitteln. Aber sein Schulterzucken und der Gesichtsausdruck sagten ihr auch noch etwas anderes: Er schien sich Sorgen zu machen, dass er nach seiner Rekonvaleszenz eventuell gar nicht mehr mit Paula zusammenarbeiten würde.

»Sonne hätte mich fragen müssen, bei Lenzmann hat er schließlich auch gefragt«, sagte Paula unglücklich. Immerhin musste sie den größten Teil des Arbeitstages mit dem Teamkollegen verbringen, oft zehn oder zwölf Stunden am Stück, viele davon in einem engen Büro oder im Dienstwagen. Da musste ihrer Meinung nach die Chemie zwischen den Partnern stimmen. Mit der Chemie zwischen ihr und Weber konnte man nur eines, nämlich Bomben bauen. »Mensch, Keeser, sag doch auch mal was dazu!«

»Ich kann ja morgen mal bei Sonne vorsprechen, aber solange ich nicht vom Amtsarzt einsatzfähig geschrieben werde, hab ich da wenig Hoffnung.«

Die Orgel erstarb mitten im Lied. Schlagartig wurde es still, nur die leisen Unterhaltungen der Beamten um sie herum waren zu hören, ab und zu das Scharren auf Erde und ganz in der Nähe das Zirpen einer Grille.

Es hätte so eine schöne Sommernacht sein können, wenn nicht dieser blöde Weber aufgetaucht wäre, dachte Paula betrübt. Musste Othello denn auch unbedingt eine menschliche Leiche finden, hätte es nicht auch ein Kaninchenkadaver sein können? Jetzt würde es auf jeden Fall eine lange Sommernacht werden.

In der Ferne sah sie Blitze über den Nachthimmel zucken. Ein Gewitter war im Anzug – gar nicht gut für Grabungen im Freien.

»Frau Schdern? Do is e Frää, die mit Ihne schbreche will«, unterbrach Berger ihre trüben Gedanken.

Paula folgte ihm bis zur Absperrung, wo sich inzwischen eine größere Menschenmenge angesammelt hatte. Es war die Frau, die Paula vorhin wegen des Stroms aus der Veranstaltung geholt hatte.

»Anita Frey«, stellte sie sich erneut vor. »Ich bin die Vorsitzende des Fördervereins der historischen Kirche. Wenn Sie schon unser Konzert platzen lassen, dann will ich wenigstens wissen, was hier los ist.«

Paula hob das Absperrband an und führte Anita Frey ein Stück von den Schaulustigen weg.

»Becker«, rief sie dem Beamten zu, der ihr am nächsten stand, »sorgen Sie doch bitte dafür, dass die Leute von hier verschwinden!«

Hans Becker nickte, setzte ein wichtiges Gesicht auf und begab sich zu der Absperrung.

»Hier ist doch nicht etwa während des Konzerts ein Mord geschehen?« Frau Frey sah Paula mit großen Augen an.

»Nein, nein, keine Sorge, heute Abend ist gar nichts geschehen«, konnte Paula sie beruhigen. »Aber wir haben die sterblichen Überreste eines Menschen gefunden, die schon länger hier in der Erde geruht haben müssen. Bis wir herausgefunden haben, um wen es sich bei dem oder der Toten handelt und was der Person passiert ist, bleibt die Parkanlage erst einmal gesperrt.«

»Eine Leiche ist hier vergraben? Das ist ja eine schreckliche Vorstellung!« Nicht so schrecklich, dass sie sich nicht den Hals verrenkte, um hinter Paula etwas sehen zu können. »Dort unter dem Gebüsch?«

»Frau Frey, ich bitte Sie jetzt zu gehen. Ihre Adresse haben wir?«

Die Frau nickte, ohne den Blick von dem Geschehen abzuwenden.

»Wir werden uns morgen bei Ihnen melden, falls wir Fragen haben sollten.« Paula nahm sie am Arm und führte sie mit Nachdruck zurück zur Absperrung.

»Was denn für Fragen? Wie könnte ich Ihnen denn helfen?« Anita Frey sah Paula ängstlich an. »Ich habe nichts damit zu tun. Ganz bestimmt nicht.«

»Das habe ich auch gar nicht gesagt. Aber Sie kennen sich rund um die Kirche doch bestens aus, nicht wahr?« Paula versuchte geduldig zu bleiben. Sie wollte lieber hinübergehen und bei den Grabungsarbeiten zusehen, als aufgeschreckte Bürger zu beruhigen.

»Ach, das meinen Sie. Natürlich kenne ich hier alles wie meine Westentasche. Und ich helfe Ihnen natürlich gern, jederzeit.«

»Wir rufen vorher an«, sagte Paula und nickte ihr lächelnd zu.

Anwärter Berger hob das Absperrband, und Paula schob Anita Frey sanft darunter hindurch auf die andere Seite. Grußlos machte sie danach kehrt und eilte hinüber zu Keeser, der noch immer auf der Bank saß. »Wie sieht’s aus?«

»Scheint ein kompletter Körper zu sein.«

Paula ging über den frisch freigeschnittenen Pfad und sah über die gebeugten Rücken der Kollegen auf die inzwischen nahezu freigelegten Reste eines Menschen. Makellose Zähne grinsten sie aus einem lippen- und augenlosen Gesicht an.

Die Augen sind immer das Erste, über das sich Insekten und Vögel hermachen, dachte Paula. Bei der Vorstellung hob sich ihr Magen. Sie musste gegen den plötzlich aufkommenden Brechreiz ankämpfen. Wenn sie bei Knopp in der Autopsie war, hatte sie zwar immer ein komisches Gefühl in der Magengegend, aber diese Art Übelkeit hatte sie nie zuvor erlebt. Es war schließlich nicht ihre erste unappetitliche Leiche. Mit weichen Knien ging sie zurück zu Keesers Bank.

Zum Glück war ein leichter Wind aufgekommen – Vorbote des nahenden Gewitters, vermutete Paula und atmete tief durch. Es ging ihr gleich ein bisschen besser.

»Bist ja so blass um die Nase«, stellte Keeser fest, als sie sich neben ihn setzte. »So ein schlimmer Anblick?«

»Weiß auch nicht, liegt wahrscheinlich daran, dass ich seit dem Mittagessen nichts mehr in den Magen bekommen habe«, versuchte Paula mehr sich selbst als ihren Kollegen zu überzeugen.

»Ich würde dich ja gern zum Essen einladen, ich hab auch Hunger. Aber es ist jetzt fast elf, da sind die Küchen der Weinstuben und Restaurants schon zu.«

Dass Keeser Hunger hatte, konnte sich Paula gut vorstellen, er hatte schließlich immer Hunger. Aber sie wollte gar nicht von hier weg. Dazu war sie viel zu neugierig, was in dem Grab lag, und Weber würde dann ganz sicher die Ermittlungen an sich reißen. Das ging schon mal gar nicht. Erstens, weil Weber der Neue im Team war, und zweitens, weil es ihre Leiche war – sie hatte sie gefunden beziehungsweise Othello, aber der gehörte ja zu ihr.

»Du solltest dich heimfahren lassen«, sagte Paula.

»Warum denn das? Ich denke ja gar nicht daran. Ich bin ein wichtiger Zeuge.« Keeser sah sie mit drohend zusammengezogenen Augenbrauen an.

»Wir können doch morgen deine Aussage aufnehmen«, schlug Paula vor.

»Vergiss es. Da passiert endlich mal was Interessantes auf meinem langweiligen Krankenabstellgleis, und du willst mich wegschicken?«

»Du darfst sowieso nicht mit an dem Fall arbeiten …«

»Wer sagt denn das? Ich kann euch zwei Jungspunde mit meinem schier unendlichen Wissen und meiner langjährigen Erfahrung schließlich ganz immens unterstützen und beraten.« Er sah sie flehentlich an. »Bitte, lass mich ein bisschen mitermitteln. Als Berater oder so. Daheim werde ich sonst noch verrückt.«