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Über das Buch

Unsere Welt besteht aus vielen kleinen Wundern, wir nehmen uns nur zu selten Zeit für sie.

Eine Liste mit zehn Wünschen.

Ein letzter Wille.

Und zwei, die ihn gemeinsam erfüllen sollen.

Das ist die Geschichte von Yara und Noel

Für meine Schwester.
Es wird Zeit für neue Erinnerungen.

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Inhalt

1 YARA

Das Leben fragt dich nicht nach deiner Meinung – niemals

2 NOEL

Träume sind was für Idioten

3 YARA

Ich würde alles geben für einen Zeitumkehrer

4 NOEL

Das Leben ist eine Aneinanderreihung von schlechten Tagen und Tagen …

5 YARA

Die Sekunden verrinnen, tick, tack, tick, tack, und mit ihnen verändert sich alles

6 NOEL

Für manche Dinge ist es nie zu spät. Und für die anderen?

7 YARA

Erinnerungen sind Segen und Fluch zugleich

8 NOEL

Du bist, wer du bist – nicht mehr und nicht weniger

9 YARA

Nur ein Stück Papier

10 NOEL

Es kommt immer anders, als man denkt

11 YARA

Zwei Schritte vor und einen zurück

12 NOEL

Das Leben ist kein Ponyhof

13 YARA

Leichter gesagt als getan

14 NOEL

Jetzt gibt es kein Zurück mehr

15 YARA

Wir haben Angst, damit wir mutig sein können

16 NOEL

Der mit dem Wolf tanzt, oder: Wie ich mir beinahe in die Hosen mache

17 YARA

Was man verliert, kann man wiederfinden

18 NOEL

Der Anfang vom Ende

19 YARA

Manchmal sehen wir klarer, wenn wir unsere Augen schließen

20 NOEL

Ein Punkt auf einer Liste, nicht mehr und nicht weniger

21 YARA

Manchmal ist es okay, nicht okay zu sein

22 NOEL

Manchmal verletzen wir andere, um sie zu beschützen

23 YARA

Es gibt keine besseren Freunde und keine größeren Feinde als Herz und Verstand

24 NOEL

Wir bestehen aus Erinnerungen

25 YARA

Killermoskitos und andere Katastrophen

26 NOEL

Fehler sind etwas Gutes. Wir lernen aus Ihnen

27 YARA

Gefühle gleichen einem Gewitter – sie kommen manchmal völlig unerwartet, aber meistens mit voller Kraft

28 NOEL

Das Leben ist eine Kausalkette

29 YARA

Das Leben besteht nicht nur aus vielen Enden, sondern vor allem aus vielen Anfängen

30 NOEL

Alles Gute kommt von Oben

31 YARA

Manchmal geht es einfach in die Hose

32 NOEL

Auch ein ›Für immer‹ hat ein Ende

33 YARA

Wenn das Kartenhaus deines Lebens zusammenbricht, liegt es an dir, es wiederaufzubauen – Stück für Stück

34 NOEL

Alles was kaputt ist, kann repariert werden – Es wird danach wieder heil sein, aber nie wieder dasselbe

35 YARA

Nur auf das Glücklichsein kommt es im Leben an

36 NOEL

Manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen

37 YARA

Das Leben ist eine Reise

38 NOEL

Wir können sein, wer wir wollen

39 YARA

Jeder hat ein Happy End verdient

Ein Jahr später

Danksagung

Leseprobe: Die Stille meiner Worte

Über das Buch

Kapitel 1 – Hannah: Die Stille kann lauter sein als der Sturm.

Kapitel 6 – Hannah: Man will immer das, was man nicht haben kann.

1 Yara

Das Leben fragt dich nicht nach deiner Meinung – niemals

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Ich möchte meine Erinnerungen verbrennen. Ich möchte sie nehmen, zusammenknüllen oder zerreißen, es ist mir egal, und sie mit allem, was mir geblieben ist, in Asche verwandeln. Mit all dem Schmerz, der Trauer und Wut, der Angst und dem großen Loch in mir drin.

Seufzend öffne ich meine Augen, versuche mich zu entspannen, was mir aber seit Monaten nicht mehr gelingen will. Ich fühle mich wie eine alte Frau, wie jemand, der seines Lebens müde ist, und nicht wie der Teenager, der ich bin. Vielleicht, weil ich nicht mehr die bin, die ich war – und es auch nie mehr sein werde.

Meine Knöchel treten weiß hervor, weil ich meine Schultasche so fest umklammere, als wäre sie mein Halt und nicht ich der ihre. Mit wilden, chaotischen Gedanken betrete ich das Gebäude vor mir, laufe durch die vertrauten weißen Flure und rieche den bekannten Duft nach alten Menschen, nach Essen und Desinfektionsmittel. Zu Hause. Ich genieße die kühle Luft, die mir entgegenschlägt und die Hitze des Sommers verdrängt. Die mir etwas Klarheit beschert und all die Erinnerungen für den Moment vertreibt.

Meine Tante rennt wahrscheinlich ein Stockwerk höher durch die Gänge, kümmert sich um all die Menschen, die unter Demenz und anderen Krankheiten leiden. Auch um Herrn Winter, der ihr immer an die Wäsche will und ständig alles fallen lässt, damit sie sich bücken muss.

Hier auf dem Flur 2A ist es ruhig und hell. Clarissa, eine ältere und freundliche Pflegerin, und Bea, eine von Tante Ems besten Freundinnen, begrüßen mich wie immer herzlich und doch distanziert, so als würden sie verstehen, dass ich eine Umarmung nicht ertragen würde.

Ich nähere mich Zimmer 22 und mein Herz beginnt in einem langsameren Rhythmus zu schlagen. In diesem Zimmer kann ich zur Ruhe kommen, ich selbst sein.

Ich kann zerbrechen.

Drei Mal klopfe ich an die Tür und höre das Lächeln in Phils Stimme, als er mich hereinbittet. Ich öffne die Tür und entdecke Phil sofort. Er sitzt in einem Schaukelstuhl vor dem Fenster, die Sonne strahlt ihm ins Gesicht und die Schatten seines Körpers fallen auf wunderschöne Art und Weise hinter ihn. Man könnte meinen, er betrachtet den kleinen Park des Altersheims, all die Menschen, die Bäume, doch ich weiß es besser: Phil sieht alles nur in seinen Gedanken.

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und meine Beine tragen mich wie von selbst zu ihm. Ich schmeiße meine Tasche in die Ecke und bade nun auch mein Gesicht in den Sonnenstrahlen, genieße diesen Moment und versuche vergeblich ihn festzuhalten. Meine Gedanken sind zu schnell, ich kann sie nicht stoppen, sie sind wirr und durcheinander, mein Herz ist zu schwer und ich kann das, was mich belastet, nicht einfach nehmen und wegwerfen. Ich habe es versucht.

»Heute ist dein erster Ferientag, nicht wahr? Was macht man denn heutzutage, wenn man sechs Wochen nichts zu tun hat?«

Phil lacht, sein weißer Bart und sein Bauch beben, und er zaubert mir damit ein Lächeln ins Gesicht. Seine wundervolle warme Stimme nimmt mir ein Stück meiner Unruhe.

»Wenn ich das wüsste.«

Ich ziehe mir einen Stuhl ans Fenster, lasse mich hineinfallen und stöhne auf. Ich bin so froh, dass dieser Tag zu Ende ist, und gleichzeitig bin ich es auch nicht. Sechs Wochen Ferien bedeuten sechs Wochen ohne Ablenkung. Es wird grauenhaft werden.

»Komm, so schlimm wird es schon nicht«, sagt Phil, als könne er meine Gedanken lesen. »Sag mir lieber, mit welchem Buch wir heute beginnen.«

Er klatscht freudig in die Hände. Gestern haben wir Moby Dick beendet, heute soll es mit Die Drei Musketiere weitergehen. Phil liebt Abenteuergeschichten, Märchen und Klassiker. An manchen Tagen sehe ich ihm die Sehnsucht an, wenn er meinen Worten lauscht. Ich sehe in seinem Gesicht, wie gerne er selbst die Worte lesen, sie zu einem Satz verbinden und aussprechen würde.

Manche Wünsche gehen nicht in Erfüllung, egal, wie sehr wir flehen und betteln, wie sehr unser Herz daran hängt. Aber was wären wir ohne sie?

Ich ziehe Dumas’ Buch aus meiner Tasche und reiche es Phil. Es ist ein altbekanntes Ritual, etwas Vertrautes und Beruhigendes. Etwas, an dem wir uns beide festhalten können. Er nimmt es in seine Hand, streicht über den alten Ledereinband, fühlt, um zu sehen. Vorsichtig tasten sich seine Finger am Buchrücken entlang, über die eingravierte Schrift bis hin zum Lesebändchen. Er klappt das Buch behutsam auf, lässt die Seiten geräuschvoll umblättern und saugt den Duft des alten Papiers in sich auf. Es ist, als würde er dem Buch Hallo sagen – und das Buch ihm.

»Es riecht unbeschreiblich. Wusstest du, dass man sagt, dass man während des Lesens einen Teil von sich selbst zwischen den Zeilen eines Buches hinterlässt?«

Ich blicke ihn fragend an, während ich das Buch wieder von ihm entgegennehme.

»Was genau meinst du?«

»Wenn du dieses Buch jetzt liest, wirst du die Geschichte auf eine bestimmte Art lesen und verstehen. Wenn du das Buch in zwanzig Jahren wieder liest, wirst du das Buch sehr wahrscheinlich auf eine andere Art und Weise lesen, du wirst das Geschriebene vielleicht anders verstehen und deuten, aber das Wichtigste: Du wirst dich immer daran erinnern, wie und wo du es zuvor gelesen hast. Du schlägst dann nicht einfach nur dieses Buch auf, sondern auch Erinnerungen.«

Nun bin ich diejenige, die über den Einband des Buches streicht, während ich Phils Worte sacken lasse. Ich senke meine Augen, obwohl Phil mich gar nicht sehen kann, und versuche den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Ich schlage das Buch auf, lese die ersten Zeilen und erinnere mich. Als ich diese Zeilen das letzte Mal las, saß mein Vater auf meinem Bettrand und gab mir einen Kuss auf den Scheitel.

»Lies nicht mehr so lange«, hat er gesagt. »Morgen ist Schule!«

Ich habe ihn nur verschmitzt angegrinst und genickt, was ihn zum Lachen brachte und den Kopf schütteln ließ. Er hat gewusst, dass ich das Lesen liebe, dass ich, wenn mir das Buch gefiel, nicht daran dachte, wie wenig Schlaf ich bekommen würde, sondern dass es nur noch darum ging zu wissen, was der nächste Satz brachte.

Ich zucke zusammen und atme laut ein, als ich Phils warme Hand auf meinem Knie spüre. Dass mir Tränen über die Wangen laufen, habe ich nicht mitbekommen.

»Yara, sie würden nicht wollen, dass du traurig bist.«

Ich nicke und ich weiß, Phil spürt das irgendwie, denn er nickt ebenso.

Nein, sie würden nicht wollen, dass ich traurig bin, aber ich weiß, dass sie noch gerne leben würden. Ich will, dass mein Vater mir noch einmal sagt, dass ich nicht zu lange lesen soll, und meine Mutter mir noch einmal zuflüstert: »Alles wird gut, Yara, du musst nur fest daran glauben!«

2 Noel

TRÄUME SIND WAS FÜR IDIOTEN

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Der Schweiß läuft mir über die Stirn und rinnt mir beinahe in die Augen, während ich einen Fleisch-Patty nach dem anderen drehe und wie am Fließband Burger zusammenklappe. Scheiße, es ist so heiß hier drin, dass ich für einen Moment vergessen habe, dass ich bei McDonald’s arbeite und nicht in der Karibik am Strand liege. Na ja, der ekelhafte Geruch von Fett und diese widerlichen Klamotten sind auch noch ein Indiz dafür.

»Wo bleibt der Big Mac, Alter? Die Pommes kann ich gleich wegschmeißen!«, dröhnt es von der Kasse zu mir in die Küche.

»Wenn du denkst, du kannst die Bestellungen schneller fertig kriegen, dann komm her und ich mach Feierabend!«, schreie ich wütend zurück.

Tim ist einfach ein Arsch. Er bewegt sich langsamer als eine Schnecke, bedient gerade einmal fünf Kunden, während alle anderen in der gleichen Zeit zehn schaffen, und hat dann den Nerv, mich blöd von der Seite anzumachen.

Stunden später wird es endlich etwas ruhiger und ich kann aufatmen. Ich reinige die Arbeitsflächen und muss immer wieder ganz dämlich grinsen, weil ich mir so bescheuert vorkomme. Wenn das hier nur ein Nebenjob wäre, wenn ich Ziele hätte oder überhaupt irgendetwas, dann würde mir dieser versiffte Laden nur halb so viel ausmachen. Aber zu wissen, dass ich hier wahrscheinlich auf ewig festhänge, lässt mich verrückt werden.

Ich fluche laut und schmeiße den Lappen mit voller Wucht in den Eimer. Schichtende. Ich kann es kaum erwarten, aus diesen Klamotten rauszukommen, auch wenn ich weiß, dass ich morgen bereits wieder drinstecken werde.

Zu Hause erwartet mich nichts und niemand – außer das übliche Chaos und die dreckige Wäsche, die bald Beine bekommt. Mein Zuhause beschränkt sich auf luxuriöse dreißig Quadratmeter: ein Badezimmer, in dem man sich gerade so um sich selbst drehen kann, eine Küche mit zwei Herdplatten, von denen nur eine funktioniert, und die den Namen Küche ohnehin nicht verdient hat, und den Mittelpunkt dieser Oase, mein Wohnzimmer – in dem mein Bett steht.

Ich lasse meinen Rucksack auf das Bett fallen, gehe in die Küche, die keine ist, und darf mich entscheiden zwischen trockenem Brot, schlechter Milch, abgestandenem Wasser und einem Bier. Großartig! Tierisch genervt und mit grummelndem Magen gehe ich zum Bett zurück, lasse mich fallen, verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre an die Decke. Wann, verflucht noch mal, hat mein Leben angefangen, so den Bach runterzugehen? Erst seit ein paar Monaten bin ich aus dem Heim raus und wollte eigentlich neu anfangen, stattdessen sitze ich in diesem Loch und arbeite bei McDonald’s, weil ich keine Ausbildungsstelle bekommen habe. Man sagte mir, das Ausschlusskriterium wäre gewesen, dass ich offen zugegeben hätte, kein Teamplayer zu sein. Ich lache auf, als ich an das Gespräch denke – an all die Gespräche. Ich habe denen wirklich zu erklären versucht, dass sich jeder auf mich verlassen kann, aber dass ich mich auf niemanden verlassen will. Niemals.

Wenn Phil das je rauskriegt, wird er enttäuscht sein.

Ich reibe mir über die Augen, massiere mir die Schläfen und versuche die Kopfschmerzen zu vertreiben. Immer wieder rede ich mir ein, dass alles gut werden wird, dass ich das schon schaffen werde.

Der Wecker klingelt unfassbar laut und bei dem Versuch, ihn auszuschalten, rutscht er vom Tisch und knallt auf den Boden. Als ich fluchend nach ihm taste, um den bescheuerten Ton auszumachen, falle ich aus dem Bett. Für einen kurzen Moment genieße ich die Stille und bleibe auf dem Teppich liegen. Heute muss ich zu Phil gehen, ich war schon über eine Woche nicht mehr bei ihm. Er ist alles, was ich noch habe. Und irgendwie auch nicht. Ich bin selbst mit Phil allein und das ist besser so – viel besser.

Ächzend stehe ich auf, schlurfe ins Bad und putze mir mit halb geschlossenen Augen die Zähne. Nebenbei schiebe ich einen dreckigen Pullover mit dem Fuß zur Seite. Ich muss unbedingt waschen, wenn ich von der Schicht nach Hause komme. Vielleicht sollte ich auch mal putzen, staubsaugen und mir einen Plan fürs Leben erstellen. Wer sieht sich schon mit sechzig noch allein in einer 1-Zimmer-Wohnung und in einem stinkigen Fast-Food-Restaurant?

Willkommen bei McDonald’s, was kann ich für Sie tun?

Ich schnaufe, was mir die Zahnpasta aus dem Mund laufen lässt. Eilig halte ich den Kopf über das Waschbecken. Verdammter Mist. Wenn Phil mir heute wieder sagt, dass er sich Sorgen macht, und mich noch einmal so wehleidig ansieht, dann raste ich aus.

Ich spucke ins Waschbecken und spüle meinen Mund mit klarem Wasser aus.

Beim Blick in den Spiegel wird mir ganz flau. Ich bin gerne mit Phil zusammen, aber vorher habe ich jedes Mal Schiss davor und würde mich am liebsten drücken.

Schicksalsergeben gehe ich zurück ins Schlaf- und Wohnzimmer, ziehe mir eine Jeans, Chucks und ein schwarzes T-Shirt an. Handy, Portemonnaie, Schlüssel. Auf geht’s.

Mir ist kotzübel.

3 Yara

Ich würde alles geben für einen Zeitumkehrer

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Das Hauptmerkmal der Vergangenheit? Sie ist vorbei. Das größte Problem daran? Das heißt noch lange nicht, dass sie uns loslässt. Meine Vergangenheit verfolgt mich und bricht jede Nacht über mich herein.

Ich liege schwer atmend im Bett, höre nichts weiter als mein Keuchen und das laute Ticken der Uhr, während ich an die Decke meines Zimmers starre. Es ist furchtbar schwül, ich reibe mir den Schweiß von der Stirn, der sowohl von der Hitze als auch von dem noch nachklingenden Albtraum kommt. Ein Autounfall. Jede Nacht wieder. Innerlich schreie ich. Ich schreie und schreie, aber es ändert sich nie etwas.

Ich drehe mich zur Seite, schiebe meine Hände unter meinen Kopf und ziehe die Beine eng an mich. Tränen laufen mir still aus den Augen. Ich weiß, dass Tante Em direkt nebenan schläft und Einstein, ihr kleiner Hund, ebenso. Trotzdem schnürt es mir die Kehle zu. All das hier, alles, was passiert ist. Diese Schuld, diese Träume – die Albträume, die keine sind.

Ich versuche mich zu beruhigen und einzuschlafen, und vielleicht habe ich es geschafft, wenigstens zu dösen, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mein Wecker viel zu früh und viel zu laut klingelt, mich zusammenzucken lässt. Ich habe vergessen, ihn auszuschalten.

Mühsam stehe ich auf und schleiche auf Zehenspitzen ins Bad. Die Müdigkeit liegt schwer auf mir und meine Schlafsachen kleben an mir, genau wie die Erinnerungen an diesen einen Tag. Ich stelle mich unter die Dusche und seufze wohlig auf, als das kalte Wasser auf meine erhitzte Haut trifft. Meine Augen schließen sich beinahe von allein, mein Gesicht streckt sich dem Wasserstrahl entgegen und mit ihm fließen auch der Schweiß und der dumpfe Nachhall des Albtraums in den Abfluss.

Nach einigen Minuten drehe ich die Dusche ab, wickle mir ein großes flauschiges Handtuch um den Körper und eines um meinen Kopf, um meine Haare. Ich stelle mich vor den riesigen Badezimmerspiegel. Der Sommer hat bereits seine Spuren hinterlassen. Ich kann die Sommersprossen auf meiner Nase und auf den Wangen kaum noch zählen und meine Haut ist schon leicht gebräunt.

Meine kinnlangen Haare sind an den Spitzen noch nass, als ich mir in meinem Zimmer Shorts und ein schlichtes Top anziehe. Ich kann sie jetzt auch im Sommer offen tragen, aber es ist immer noch furchtbar ungewohnt, sodass ich mir andauernd mit der Hand über den halb frei liegenden Nacken fahre. Das passiert, wenn man denkt, ein Friseurbesuch und ein radikaler Haarschnitt würden auch garantiert radikal etwas am Leben ändern.

Ich gehe hinunter in die Küche und backe Brötchen auf.

Erster Ferientag.

Ganz große Klasse, Yara! Du weißt schon jetzt nicht, wohin mit dir.

Verärgert über meine eigenen Gedanken lasse ich den Kopf auf die Tischplatte knallen. Ich werde zu Phil gehen, ich habe es ihm gestern versprochen. Aber selbst wenn nicht, ich wäre trotzdem gegangen. Phil versteht mich, ohne dass ich etwas sagen muss. Bei ihm habe ich nicht das Bedürfnis, jemand anderes zu sein.

»Um Himmels willen, was machst du schon hier?«

Ich hebe den Kopf. Gähnend tritt Tante Em auf mich zu und reibt sich die Augen. Einstein rennt hinter ihr her. Sie trägt noch ihren Pyjama, ist barfuß und hat ihr langes Haar zu einem chaotischen Zopf gebunden.

»Dasselbe könnte ich dich auch fragen. Ich mache Frühstück.«

»Ich hab dich Duschen gehört und konnte dann nicht mehr einschlafen.« Sie zuckt mit den Schultern und lässt sich mir gegenüber auf den Küchenstuhl fallen. »Wieso bist du schon wach? Bestimmt nicht, weil du so große Lust auf Frühstück hast.«

»Ich habe vergessen, den blöden Wecker auszuschalten.«

Ich hatte einen Albtraum, wie jede verdammte Nacht seit jenem Tag. Natürlich sage ich ihr das nicht.

»Also, was machen wir heute Schönes?« Sie sieht mich mit einem Auge an. Das andere ist noch immer geschlossen und sie scheint noch halb zu schlafen.

»Musst du nicht arbeiten? Ich wollte …« Ich verstumme, als sich ihr zweites Auge plötzlich öffnet.

»Du willst zu Phil, oder?«

»Was ist so schlimm daran?«

Ich lehne mich zurück und verschränke trotzig die Arme vor der Brust.

»Gar nichts, nur …« Sie seufzt und lehnt sich ebenfalls zurück. »Wie gesagt, ich hatte gehofft, wir würden heute etwas zusammen unternehmen. Heute ist doch mein freier Tag und den würde ich ungern auf der Arbeit verbringen. Vielleicht solltest du auch mal eine Pause machen. Du bist jeden Tag nach der Schule dort. Willst du nicht wenigstens in den Ferien mal durchatmen?«

Sie sieht mich besorgt und erwartungsvoll zugleich an. Wenn ich ihr jetzt sage, dass Phil meine Pause vom Leben ist, dann hält sie mich wahrscheinlich für komplett verrückt. Sie würde es nicht verstehen, auch wenn sie es wirklich versuchen würde.

»Tut mir leid, Em. Ich wusste nicht, dass du heute freihast. Ich hab es Phil versprochen!«

Ich hoffe, dass sie nicht weiterbohrt, nicht weiter nachfragt. Und ich bin zutiefst erleichtert, als ich sie seufzen höre und sie keinerlei Anstalten macht, mich umzustimmen.

»Na gut, dann mache ich eben mit Einstein einen superlangen Spaziergang und beschäftige mich mit mir selbst.«

Sie zwinkert mir zu und hebt die Nase.

»Du hast eben etwas von Frühstück gesagt?«

4 Noel

DAS LEBEN IST EINE ANEINANDERREIHUNG VON SCHLECHTEN TAGEN UND TAGEN …

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Klopf, klopf.

Ich öffne die Tür, ohne auf eine Reaktion zu warten. Mein Blut rauscht in den Ohren und ich schlucke ein paarmal, um den komischen Geschmack in meinem Mund loszuwerden. Ein alter kranker Mann sorgt bei mir für Schweißausbrüche. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste ich lachen.

Phil liegt im Bett und wirkt blass. Er atmet schwer. Sieht aus, als hätte er abgenommen. Schritt um Schritt, ganz langsam wage ich mich in das Zimmer. Mit jedem Zentimeter schnürt sich meine Kehle enger zu.

»Hallo, mein Junge.«

Seine Stimme klingt rau, beinahe kratzig und ziemlich schwach. Ich schäme mich, dass ich nicht öfter hier bei ihm war, dass ich nur ab und an zu Besuch komme und das hauptsächlich auch nur wegen meines schlechten Gewissens.

»Hey.«

Mehr bringe ich nicht heraus. Mit den Händen in den Hosentaschen gehe ich schließlich um das Bettende herum und stelle mich neben ihn.

»Du hörst dich nicht gut an.«

Keine Ahnung, warum ich das sage, bestimmt weiß er das selbst. Sein Lachen verwandelt sich in einen übel klingenden Husten.

»Mir geht es gut. Wie geht es dir?«

Es sind nicht seine Worte, die mich jedes Mal innerlich fluchen und schreien lassen, sondern die Art, wie er sie sagt. Wahrscheinlich auch, weil sie einfach von ihm kommen. Dem Mann, dessen Tochter sich wie eine feige Kuh aufgeführt hat.

»Gut.«

Eine Lüge, die ich so oft sage, dass ich manchmal nicht weiß, ob sie nicht doch stimmt.

»Dann haben wir wohl beide gelogen, was?«

Er grinst und versucht, sich aufrecht hinzusetzen. Ich stehe einfach nur da und fühle mich fehl am Platz – wie immer.

»Es tut mir leid.«

Seine Stimme klingt belegt und leise, sodass ich die Worte beinahe nicht gehört hätte.

»Was tut dir leid?«

Überrascht sehe ich ihn an, hebe die Augenbrauen. Ich habe keine Ahnung, was er meint. Ich bin erst seit fünf Minuten hier und wir sehen uns nur alle paar Wochen. Das war meine Schuld, nicht seine.

»Alles. Du weißt ganz genau, was ich meine. Aber ich glaube, dass ich es dir noch nie gesagt habe.«

Einen Moment lang bin ich zu überrumpelt, um zu antworten. Ja, ich weiß, was er meint. Und nein, er hat mir nie gesagt, dass es ihm leidtut oder dass er das alles genauso beschissen findet wie ich. Es tut gut, es zu hören, und gleichzeitig reißt es alte Wunden auf. Er kann nichts dafür, gar nichts. Trotzdem habe ich in ihm immer, wenn ich ihn angesehen habe, das Gesicht meiner Mutter erkannt.

Verflucht, es tut höllisch weh.

»Wieso heute?«

Ich kriege die Worte kaum raus.

»Ich weiß es nicht. Es hat sich richtig angefühlt. Es war an der Zeit.«

Ich ziehe den Stuhl, der am Fenster steht, heran und setze mich zu ihm ans Bett. Ich klammere meine Hände an die Stuhllehnen, damit sie nicht so labbrig und nichtsnutzig an meiner Seite hängen oder auf meinem Schoß liegen. Vielleicht auch, weil mir die Lehnen die Illusion geben, ich würde etwas halten oder etwas würde mich halten.

Meine Gedanken sind ein einziges beschissenes Chaos. Ich will etwas sagen, aber ich weiß nicht, was. Was soll ich darauf antworten? Kein Problem? Halb so wild? Danke? Ich schnaufe. Phil legt seine Stirn in Falten und wartet ab.

Ich schiebe den Stuhl schnell nach hinten, stehe auf, kann auf einmal doch nicht mehr sitzen und frage mich, warum ich den dämlichen Stuhl überhaupt herangezogen habe. Gestresst gehe ich hin und her, fahre mir durch die Haare und übers Gesicht. Ich bin nervös, unruhig, ich fühle, wie all der Druck, der Hass und die Wut wieder größer werden, genau wie Erinnerungen, die ich nicht mehr sehen will. Ich will sie vergessen.

»Es tut mir leid.«

Ich halte an, erwidere Phils Blick und entgegne ziemlich giftig: »Das sagtest du bereits!«

»Ich meine, dass ich dich damit so aufwühle. Ich wusste nicht, dass es noch so schlimm ist. Mein Junge, wieso redest du nicht mit mir?«

Fassungslos starre ich ihn an, bevor sich ein lautes Gelächter den Weg aus meinem Mund bahnt.

»Mit dir reden, Phil? Soll ich dich etwa auch Opa nennen? Ich bitte dich! Deine Tochter hat uns sitzen lassen und wir beide hatten doch nie viel gemeinsam. Seit Jahren bist du hier und ich bin dort draußen. Worüber soll ich mit dir reden? Wieso sollte ich das tun? Woher willst du bitte wissen, wie schlimm es ist oder war?«

Ich weiß, dass ich verbittert klinge – verbittert, wütend und schroff. Ich weiß, dass ich gemein bin und meine Worte ihn verletzen. Aber ich kann nichts dagegen tun. Sie sprudeln aus mir heraus und auf eine schräge Art und Weise fühlt es sich gut an, sie zu sagen.

Ich liebe Phil. Er kann nichts dafür. Trotzdem bin ich allein und Phil wird irgendwann auch weg sein. Es macht keinen Sinn, sich an etwas oder jemanden zu binden. Er wird dich sowieso früher oder später verlassen, wie alles im Leben. Meine Mutter hat mir das klargemacht.

»Phil, ich …«

Die Tür öffnet sich plötzlich schwungvoll und wir drehen uns um. Ein Mädchen macht einen Schritt in das Zimmer. Sie trägt ein Buch im Arm und strahlt über das ganze Gesicht, bis sie den Blick hebt. Sie sieht mich, dann Phil – wieder mich. Sie bleibt stehen, ihr Lächeln verliert sich und ihre Wangen werden rot.

»Ich … Entschuldigung. Ich hätte klopfen sollen. Ich meine …«

»Ja, das hättest du!«, blaffe ich sie an, während ich das Bett umrunde, an ihr vorbeigehe und Phil grußlos hinter mir lasse.

Ihr Duft weht zu mir herüber – Gänseblümchen. Ich kenne das Mädchen, ich bin ihr schon ein paarmal hier begegnet. Sie liest Phil immer vor und ich hätte schwören können, dass sie das nicht so lange durchhält. Es macht mich wütend, dass sie noch da ist, dass sie für Phil da ist. Ich müsste für ihn da sein und immer wieder frage ich mich, wieso ich das einfach nicht kann.

5 Yara

Die Sekunden verrinnen, tick, tack, tick, tack, und mit ihnen verändert sich alles

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Noel rauscht an mir vorbei, nachdem er mich herablassend angesehen und mich angemeckert hat. Nur kurz blicke ich in seine Augen, deren Farbe ich nicht zuordnen kann, bemerke seine zusammengepressten Lippen und seine angespannten Muskeln. Ich bin einfach in Phils Zimmer gegangen, ohne zu klopfen. Viel zu sehr habe ich mich darauf gefreut, ihn zu sehen, mit jedem Schritt in seine Richtung wurde mir leichter ums Herz, ich konnte aufatmen. Bis ich ins Zimmer trat und die dicke Luft zwischen den beiden mich beinahe umwarf.

Ich gehe einen Schritt zurück, schaue Noel hinterher, wie er wütend den Flur Richtung Ausgang entlangeilt, bevor ich entschuldigend mein Gesicht verziehe und zu Phil ans Bett trete.

»Ich hätte klopfen sollen, ich wollte euch nicht stören.«

Phil schüttelt nur den Kopf, versucht sich an einem Lächeln, aber ich weiß, dass er sich Sorgen macht. Sorgen um Noel. Ich habe ihn erst wenige Male gesehen und dann auch nur kurz. Jedes Mal hat er schlechte Laune gehabt, war unfreundlich oder mürrisch und ich frage mich immer wieder, womit Phil das verdient hat. Er hat nie ein Wort darüber verloren, nichts über Noel erzählt, aber in einem dieser besonderen Momente hat er seinen Namen genannt und dass er sich um ihn sorgt, seinen Enkel.

Ich lege meine Hand auf seinen Arm, drücke ihn kurz und hoffe, dass er versteht, wie leid es mir tut. Gleichzeitig nehme ich wahr, dass Phil blasser ist als sonst, seine Haut ist fahl, fühlt sich klamm an und kühl. Seine Stirn ist schweißnass und sein Atem beschleunigt sich.

»Phil? Hörst du mich?« Ich beuge mich zu ihm.

»Ja, mir geht es gut.«

Es ist mehr ein Keuchen als alles andere.

»Lies mir vor, Yara, bitte!«

Er macht mir Angst. Seine blasse Haut, sein Keuchen und schnelles Atmen, einfach alles macht mir Angst.

»Lüg mich nicht an! Du siehst furchtbar aus. Ich werde jemanden rufen, du solltest …«

Ich bin schon auf dem Weg zu einem der Pfleger, bewege mich vom Bett weg hin zur Tür, aber ich komme nicht weit. Phil stöhnt laut auf, krampft sich plötzlich zusammen und ich lasse erschrocken das Buch auf den Boden fallen. Der Schrei, der in meinem Kopf widerhallt, findet keinen Weg nach draußen, meine Beine tragen mich aus dem Zimmer, in den Flur. Ich renne, ich bete, ich weine – ich brauche Hilfe.

Mein Kopf ist benebelt, einfach alles und jeder bewegt sich langsam und verschleiert, die Stimmen und Geräusche dringen nur gedämpft zu mir. Wie in Trance folge ich den Pflegern in Phils Zimmer, sehe, wie sie sich um ihn versammeln, ihm helfen. Ich stehe einfach nur da, allein, mit schwitzenden, zu Fäusten geballten Händen und diesem einen Gedanken in meinem Kopf, der sich wie eine Endlosschleife zieht: Es geht ihm gut, es wird ihm nichts passieren!

Worte wie Krankenhaus, Wiederbelebung, Herzdruckmassage, Notarzt, Herzinfarkt dringen ohne Zusammenhang zu mir. Ich glaube, ich zittere. Von jetzt auf gleich stürze ich auf die Knie, umschlinge mich selbst, spüre plötzlich zwei Arme, die mich umfangen, mich hochziehen und aus dem Zimmer drängen, weg von all dem Schmerz, dem Lärm, den Worten ohne Sinn.

»Yara!«

Die Stimme wird immer klarer. Bea, Tante Ems beste Freundin und Kollegin.

»Hörst du? Alles wird gut! Ich habe Em angerufen, sie ist auf dem Weg. Yara? Antworte doch.«

Ich nicke. Ich starre in die Leere und nicke weiter, obwohl ich keine Ahnung habe, was sie eigentlich gesagt hat. Die Zeit vergeht und ich weiß nicht, wie schnell. Sanitäter stürzen in Phils Zimmer. Tante Em ist irgendwann bei mir, flüstert mir irgendwas ins Ohr, immer und immer wieder, sie hält mich. Ich aber bleibe einfach nur stumm und bete. So lange, bis sie plötzlich aus dem Raum kommen, alle. Sie halten ihre Köpfe gesenkt, wirken verlegen und erschöpft. Ich reiße mich von Em los, schiebe Bea und die anderen beiseite und stürme ins Zimmer. Phil ist noch blasser als zuvor. Er liegt da, er regt sich nicht, sein Brustkorb hebt und senkt sich nicht. Ich sehe noch, wie einer der Notärzte seine Lider schließt.

Er ist tot. Phil ist nicht mehr da und ich werde ihm nie wieder etwas vorlesen.

Ich drohe zu kollabieren, muss mich an der Wand abstützen, bis Em erneut bei mir ist und mir immer wieder sagt, dass es ihr leidtut. Wenn das doch nur etwas ändern würde.

6 Noel

FÜR MANCHE DINGE IST ES NIE ZU SPÄT. UND FÜR DIE ANDEREN?

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Ich bin immer noch wütend – auf mich! Egal, wie oft ich die Szene von eben durchspiele, ich komme zu dem Schluss, dass ich mich wie ein Vollidiot benommen habe. Ich hätte schon längst umkehren und Phil sagen sollen, dass er recht hat und ich nicht so hart zu ihm sein wollte. Dass er keine Schuld hat. Aber wie so oft tue ich nicht das, was ich tun sollte oder was richtig wäre.

Der Bus hält und ich steige aus, ich fluche vor mich hin und mit jedem Schritt sinkt meine Laune weiter in den Keller. Die Türen des Busses haben sich hinter mir geschlossen und unter lautem Dröhnen fährt er weg. Ich sehe ihm nach, bis mein Handy anfängt zu vibrieren und mich aus meinen Gedanken reißt. Automatisch ziehe ich das alte Ding aus meiner Hosentasche. Ohne auf das Display zu sehen, gehe ich einfach ran und setze mich endlich in Bewegung, Richtung Wohnung.

»Hallo?«

»Noel?«

»Ja«, antworte ich irritiert.

Die Stimme kommt mir bekannt vor und ein dumpfes Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus.

»Hier ist Bea.«

Eine von Phils Pflegerinnen. Wieso ruft sie mich an? Wieso, zum Teufel, fühlt sich das hier gar nicht gut an?

»Gott, ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll. Phil, er ist … er hatte wieder einen Herzinfarkt. Wir haben alles versucht, aber …«

Sie redet nicht weiter, sondern beginnt plötzlich zu schluchzen, immer wieder und immer lauter. Ich bleibe stehen, bin keine zwei Meter weit gekommen, seit ich aus dem Bus gestiegen bin. Ich kann nichts sagen. Das, was sie mir gerade mitzuteilen versucht, kann ich nicht glauben.

»Ich war gerade noch bei ihm. Er lebt. Ich war eben noch bei ihm!«

Ich wiederhole diese Sätze immer wieder, in der Hoffnung, sie wären wahr. Ich umklammere mein Handy so fest, dass es wehtut, mein Kiefer mahlt, meine Zähne pressen so stark aufeinander, dass ich glaube, sie brechen jeden Moment.

»Es tut mir leid, wir konnten nichts mehr tun.«

Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern und in meinen Gedanken bildet sich nur ein Wort: tot. Phil ist tot.

Ich lege einfach auf, stecke das Handy weg und gehe nach Hause. Ich denke an nichts, ich tue nichts, ich fühle nichts. Es ist, als wäre ich betäubt, als wären meine Gedanken eingefroren. Stille und Leere, mehr gibt es nicht, bis ich in meiner Wohnung ankomme und ich mir endlich erlaube zusammenzubrechen.

Das Letzte, was ich zu ihm sagte, war im Streit gesagt worden. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht und ich werde keine Chance bekommen, mich zu entschuldigen und es wiedergutzumachen. Meine Worte haben Phil verletzt und ich habe sie ausgesprochen, obwohl ich das gewusst habe.

Meine Hände, meine Finger krallen sich schmerzhaft in meine Haare. Meine Atmung will sich einfach nicht beruhigen, ich springe auf, gehe im Zickzack durchs Zimmer, ich drehe durch, fahre mir durchs Gesicht, verschmiere die Tränen, schmecke das widerliche Salz und fange an zu schreien. Meine Faust trifft die Wand, einmal, zweimal – und es tut gut. Es tut, verdammt noch mal, richtig gut.

Ich habe Phil verloren. Für immer. Ich habe es gewusst. Ich wusste, es würde passieren, irgendwann. Aber niemand kann dich auf den Moment vorbereiten, wenn das, was du weißt und ahnst, wirklich eintritt. Niemand kann dich darauf vorbereiten zu fallen – in ein Loch ohne Boden.

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Heute soll es um die dreißig Grad warm werden. Trotzdem zwänge ich mich in den einzigen schwarzen Anzug, den ich besitze. Ich sollte ihn zu den Vorstellungsgesprächen tragen. Er war ein Geschenk von Phil. Eines, das ich nie haben wollte.

Vor dem kleinen Badezimmerspiegel binde ich die Krawatte, mechanisch, ruhig. Meine Augen sind leicht geschwollen, ich bin müde, ausgelaugt und das sieht man mir an. Das Jackett fühlt sich schwerer an als in meiner Erinnerung. Meine schwarzen Chucks wirken fehl am Platz, aber ich habe keine schickeren Schuhe.

Vor drei Tagen hat mich Bea erneut angerufen. Sie hat nicht gefragt, wie es mir geht, wofür ich ihr dankbar war. Hätte sie es getan, hätte ich sie anlügen müssen, denn ich wusste es selbst nicht. Sie haben sich um die Beerdigung im kleinen Kreis gekümmert. Phil hatte extra dafür ein Sparbuch angelegt, wie man mir gesagt hat. In diesem Moment musste ich mir ein spöttisches Auflachen verkneifen. Es ist egoistisch und es ist hart, aber so ist das Leben nun mal. Wieso hätte Phil auch mir etwas hinterlassen sollen?

Ich trete aus dem Badezimmer, schnappe mir mein Portemonnaie und die Haustürschlüssel. Mein Magen rebelliert und mir ist bereits jetzt viel zu warm. Der Druck um meine Brust wird größer und ich fluche innerlich, weil ich es einfach nicht schaffe, stark zu sein.

Ich schließe die Tür, lasse meine dreckige Wohnung hinter mir, fahre ein paar Stationen mit dem Bus. Dann steige ich aus, weil sich einfach alles dreht. Ich gehe zu Fuß weiter und auf dem Weg zum Friedhof übergebe ich mich dreimal. Ich muss lachen. Wenn ich nicht ausgestiegen wäre, hätte ich über die giftig blickende Dame mit Hut neben mir gekotzt. Ich spucke noch einmal in das Gebüsch und atme tief durch, bevor ich die letzten Meter zur Kapelle gehe. Den ekelerregenden Geschmack in meinem Mund kann ich nur mit Mühe verdrängen. Ich richte mich auf, versuche, nicht zu schwanken.

Zum Glück haben meine Klamotten nichts abbekommen. Das Jackett habe ich längst ausgezogen, es ist zu warm und ich drohe zu kollabieren. Scheiße, was ist nur los mit mir? Mit geschlossenen Augen lehne ich mich an die Mauer der kleinen Kapelle, versuche mich zu beruhigen und genug Spucke zu sammeln, um den widerlichen Geschmack in meinem Mund runterzuspülen. Mit geschlossenen Augen denke ich an Phil, spüre mein wild klopfendes Herz und diese beschissene Übelkeit. Ich weiß, ich bin zu spät dran, aber niemanden wird interessieren, warum.

7 Yara

Erinnerungen sind Segen und Fluch zugleich

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Der mahagonibraune Sarg wirkt unwirklich, so fehl am Platz zwischen all den farbenfrohen Blumengestecken. Das alles hier wirkt unwirklich, so unglaublich falsch.

Der Pfarrer erzählt Anekdoten aus Phils Leben, meist aus der Zeit im Pflegeheim. Wie er Bea und alle anderen Pfleger und Pflegerinnen der Etage sofort mit seinem Charme um den Finger gewickelt hat. Wie sehr er gute Geschichten geliebt hat, den Regen, wenn er gegen das Fenster prasselte, oder Schokoladenpudding. Er war stets freundlich gewesen, zuvorkommend und gut gelaunt.

Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen, dabei versuche ich mein Bestes. Em hält meine Hand fest gedrückt, während sie links neben mir sitzt und selbst mit den Tränen kämpft. Beas Hand liegt auf meinem Knie, sie hat es aufgegeben, ihre Tränen wegzuwischen, und man hört sie alle paar Minuten laut aufschluchzen. Wir sitzen vorne links in der zweiten Reihe. Die erste Reihe ist auf beiden Seiten nicht besetzt und wenn ich meinen Blick schweifen lasse, sehe ich nur Menschen aus dem Pflegeheim. Niemanden sonst. Niemanden aus Phils Familie, aus seiner Vergangenheit. Und diese Erkenntnis bricht mir das Herz. Für einen Moment frage ich mich, ob man an seiner Trauer ersticken kann.

Mein Hals tut weh, meine Augen brennen und in mir drohen alte Wunden aufzureißen. Mit Phil ist mein Anker verschwunden, mein Halt. Er war ein Fremder und doch mein bester Freund. Em kann das nicht sein, nie, auch wenn ich sie von Herzen liebe. Ich sehe sie an und sehe meine Mutter. Sie sieht ihr so ähnlich. Em weiß es nicht, aber wenn sie da ist, mit mir redet und mich anblickt, dann will die Trauer mich ersticken, dann prasseln alle Erinnerungen auf mich ein – die guten und die schlechten – und sie sorgen dafür, dass ich nie vergesse, was ich getan habe, woran ich schuld bin.

Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, wiege mich vor und zurück.

Es wird alles gut, es wird alles gut, es wird alles gut.

Und wenn nicht, dann geht es weiter. Das Leben geht immer weiter, egal, ob alles gut wird oder nicht.

Plötzlich dringt Licht in die Kapelle, ich sehe es durch meine Finger, sehe, wie es auf dem Boden tanzt. Die Tür wird geöffnet und gibt dabei ein leicht schabendes Geräusch von sich. Der Pfarrer lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, aber viele drehen sich automatisch um. Auch ich kann mich nicht gegen den Drang wehren, wische die Tränen weg und somit den Schleier, der über meinen Augen liegt.

Noel.

Die Blicke, die ihm folgen, sind meist nur interessiert und schnell wieder abgewandt, aber manche sehen ihn beinahe herablassend und anklagend an.

»Unfassbar, dass er zur Beerdigung seines Opas zu spät kommt«, höre ich eine leise und belegte Stimme hinter mir.

Er hält den Kopf gesenkt, aber ich bemerke die dunklen Augenringe, registriere das blasse Gesicht und den unsicheren Gang. Sein Hemd ist leicht verschwitzt, was man durch das Weiß kaum erkennt.

Sosehr ich auch versuche, wütend zu sein, darüber, dass er an diesem Tag zu spät kommt und dadurch so wenig Respekt für Phil zeigt, ich kann es einfach nicht. Ich glaube nicht, dass er es mit Absicht getan hat. Vielleicht will ich es auch nicht glauben.

Er geht an uns vorbei, setzt sich vor uns in die erste Reihe, als Einziger, und rührt sich nicht, bis die Rede des Pfarrers zu Ende ist und die Sargträger den Raum betreten. Mein Blick hängt an seinem Rücken, an dem Hemd, das über seine breiten Schultern gespannt ist und zeigt, wie verkrampft er dasitzt. Sein hellbraunes Haar sieht wirr aus und die Spitzen kleben an seinem Nacken, sind nass von Schweiß.

Noel erhebt sich als Erster und folgt den Sargträgern nach draußen, nur für wenige Sekunden fängt sein Blick meinen und ich muss mich zusammenreißen, keine Regung zu zeigen. Seine Augen sind voller Emotionen. Wenn ich ehrlich bin, sieht er mich an, als würde er mich hassen, als wäre ich schuld an Phils Tod. Das trifft mich so unvermittelt, dass ich mich an der Lehne der Bank festhalten muss.