Mami 1852 – Ein Trio mit Charme

Mami –1852–

Ein Trio mit Charme

Roman von Sina Holl

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-113-3

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Auf Zehenspitzen schlich Anita ins Arbeitszimmer ihrer Mutter. Anne Jacobsen saß konzentriert an ihrem Computer und tippte einen Text ein. Anita wußte, daß ihre Mutti arbeiten mußte, denn sie bereitete eine wichtige Fernsehsendung vor. Soviel verstand Anita von der Arbeit einer Journalistin, die nicht nur Artikel für mehrere große Zeitschriften schrieb, sondern auch für das Fernsehen arbeitete. Und es war für Anita immer ein besonderes Erlebnis, wenn sie vor dem Fernseher saß und auf dem Bildschirm ihre Mutter sah.

Verstohlen legte sie ein Blatt Papier neben den Stapel auf dem Schreibtisch und wollte sich ebenso lautlos davonstehlen. Sie hatte die Tür fast schon erreicht.

»Halt!« rief die Mutter. »Wer schleicht hier durch die Hallen?«

»Nur ich«, kicherte Anita.

»Was ist denn so wichtig, daß du mich stören mußt?« fragte Anne und blickte ein wenig streng über den Rand ihrer Brille.

»Oh, es ist nur wegen meinem Geburtstag«, erwiderte Anita, und es sollte belanglos klingen. Dabei freute sie sich schon seit Wochen auf ihren lang ersehnten zehnten Geburtstag. Es sollte eine große Feier werden, mit Oma und Opa und Tilly und vielen Kindern aus ihrer Klasse.

»Ist das dein Wunschzettel?« Anne nahm das Blatt Papier und schaute darauf.

»Ich wünsche mir eine große Feier mit all meinen Freunden und Tilly und außerdem noch eine Puppe mit Schlafaugen und einen Spielcomputer und einen Hund«, stand in farbigen, etwas krakeligen Buchstaben darauf. Rundherum waren Luftballons gemalt und bunte Blumen.

»Einen Hund?«

Anita nickte ernsthaft. »Ja, einen Hund. Der Oliver aus meiner Klasse hat auch einen. Er heißt Bernie und ist ganz lieb.«

»Ich denke, er heißt Oliver?« fragte Anne und unterdrückte ein Lachen.

»Der Hund heißt Bernie, der Junge aus meiner Klasse heißt Oliver und ist ganz lieb. Nein, ich meine den Hund. Darf er auch zum Geburtstag kommen?«

»Wer? Oliver?«

»Der Hund! Bitte, Mutti!« Anita verdrehte die Augen und blickte jetzt selbst wie der Dackel von Frau Vokmann, die dreimal pro Woche zum Saubermachen kam und manchmal ihren Dackel mitbrachte.

»Na, meinetwegen«, sagte Anne lächelnd. »Wenn du mich noch ein Stündchen arbeiten läßt, haben wir nachher genügend Zeit, deinen Geburtstag vorzubereiten. Wir müssen eine lange Einkaufsliste schreiben, das Gästezimmer für Oma und Opa richten…«

»Darf Tilly in meinem Zimmer schlafen?« unterbrach Anita sie.

»Ja, natürlich. Ich stelle das Klappbett hinein, dann hast du Tilly auch nachts in deiner Nähe.«

»Du, Mutti«, sagte Anita nach einer kurzen Weile.

Anne, die sich bereits wieder in ihren Text vertieft hatte, blickte auf. »Was ist denn noch?«

»Warum kann Tilly nicht ganz bei uns bleiben?«

Anne seufzte. »Wenn es nach mir ginge, könnte sie sofort bei uns bleiben. Aber leider habe ich das nicht zu bestimmen, sondern das Jugendamt. Wir können froh sein, daß sie uns überhaupt besuchen darf.«

»Das verstehe ich aber nicht. Sie gehört doch zu unserer Familie. Warum muß sie dann in einem Heim wohnen?«

»Ich verstehe es ja auch nicht, aber leider kann ich da gar nichts dagegen machen. Und nun geh noch etwas in den Garten spielen, bis ich mit meiner Arbeit fertig bin.«

Anita nickte und schloß die Tür von außen.

Anne konnte sich jedoch nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften ab zu Tilly, der achtjährigen Tochter ihrer Schwester. Es war jetzt fast sechs Monate her, als sie und ihr Mann bei einem schweren Eisenbahnunglück ums Leben kamen. Tilly überlebte leicht verletzt. Doch die körperlichen Leiden waren nichts gegen das, was danach auf das kleine Mädchen zukam.

Selbstverständlich hatte Anne die kleine Tilly sofort zu sich genommen, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, tage- und nächtelang ihre Tränen getrocknet und immer wieder die gleichen Fragen beantwortet. Dann sprangen auch die Großeltern ein, die ein kleines Haus auf der wunderschönen Insel Rügen bewohnten. Tilly war immer gern zu den Großeltern in die Ferien gefahren, und sie tröstete sich über den Verlust der Eltern mit der Herzenswärme der Großeltern hinweg. Für Anne war klar, daß sie für Tilly eine zweite Mutter sein würde. Allerdings hatte das Jugendamt dazu eine ganz andere Meinung. Denn Anne, die zwar eine neunjährige Tochter besaß, hatte einen Makel – sie war nicht verheiratet. So stand eines Tages eine Dame vom Jugendamt vor der Tür der Großeltern und nahm Tilly kurzerhand mit. Seitdem lebte sie in einem Kinderheim.

Tilly sehnte sich schrecklich nach Tante Anne, nach Anita und den Großeltern, doch weder nach Rügen noch zur Tante durfte sie fahren. Immer wieder erzählte ihr diese Frau vom Amt, daß man nach passenden Eltern für sie suche. Doch Tilly wollte gar keine fremden Eltern haben! Aber Tilly wurde nicht gefragt, was sie wollte.

*

Der Garten hinter der geräumigen, einstöckigen Villa war bunt geschmückt mit Girlanden und Luftballons, helles Kinderlachen erklang zwischen den Blumenbeeten, Büschen und großen Bäumen. Es gab genug Platz zum Spielen und Toben, eine Tafel war aufgebaut mit allerlei Leckereien, eine Kinderbowle schwappte verführerisch in einer riesigen Glasschüssel und auf dem Rost brutzelten

Würstchen.

Ständig klingelte es an der Tür, weil neue Gäste kamen. Anne hastete emsig zwischen Veranda, Garten und Haustür hin und her. Doch sie freute sich über die ausgelassene Geburtstagsparty.

»Guten Tag«, sagte der freundliche Mann, der jetzt mit einem kleinen Jungen an der Hand vor der Tür stand. »Dr. Sonntag. Das ist mein Sohn Oliver.«

»Guten Tag!« erwiderte Anne und konnte ihren Blick nicht von dem riesigen Hund wenden, der neben dem Jungen stand.

»Donnerwetter!« entfuhr es ihr.

»Oliver sagte, Sie hätten nichts dagegen, wenn er Bernie mitbringt.«

»Ach, das ist Bernie?« fragte Anne und wunderte sich, warum sie nicht gleich darauf gekommen war, daß Bernie ein Bernhardiner war. »Nein, nein, das geht schon in Ordnung«, erwiderte sie schnell und bat die Gäste, hereinzukommen.

»Ich hole meinen Sohn heute abend wieder ab«, sagte Dr. Sonntag mit einem entschuldigenden Lächeln.

»In Ordnung.« Anne trat zurück, und Oliver und Bernie stürmten gleichzeitig durchs Haus und zur Terrasse wieder hinaus in den Garten. Anne seufzte leise, aber diesen Tag würde sie schon irgendwie überstehen. Sie setzte sich neben ihre Eltern, die es sich in den Korbmöbeln auf der Terrasse bequem gemacht hatten und das bunte Treiben im Garten beobachteten.

»Siehst du, wie Tilly auflebt«, sagte Annes Mutter. »Als wir sie aus dem Heim abholten, war sie blaß, still und total verschüchtert. Es wäre wirklich das Beste für sie, sie könnte bei dir bleiben.«

Anne hob resigniert die Schultern. »Ich weiß nicht, wie viele Male ich geschrieben, telefoniert und mich persönlich im Amt vorgestellt habe. Auch wenn Sie eine bekannte Person sind, so können wir doch keine Ausnahme machen«, äffte Anne die Dame vom Jugendamt nach. »Unverheiratete Menschen sind offensichtlich in ihren Augen überhaupt keine Menschen. Mich wundert, daß sie mir zutraut, daß ich mein eigenes Kind großziehen kann.«

»Vielleicht traut sie es dir gar nicht zu«, sagte ihr Vater. »Deshalb wollen sie dir Tilly nicht geben.«

Anne winkte ab. »Nein, nein, ohne Stempel ist man nur ein halber Mensch.« Dabei hatte sie gerade viel Wert auf ihre persönliche Freiheit gelegt und sich nicht an Anitas Vater gebunden, der so wenig Interesse für seine Tochter zeigte und dafür mehr und mehr dem Alkohol zusprach. Das war für Anne keine Basis für eine Ehe. So zielstrebig, wie sie als freie Journalistin an ihrer Karriere arbeitete und schon bald bei Presse und Fernsehen einen Namen hatte, so zielstrebig hütete sie ihre kleine Familie. Sie fand, daß sie Anita ganz gut allein großziehen konnte und das Kind auch ohne Vater nichts vermißte. Trotz ihrer Arbeit, die sie meist von ihrem heimischen Büro aus erledigte, verbrachte sie jede freie Minute mit Anita. Und wenn sie doch einmal für ein, zwei Tage in die Fernsehstudios fahren mußte, sprang Frau Volkmann ein und kümmerte sich um Anita. Bislang gab es keine Probleme, und der Höhepunkt des Jahres war der Urlaub bei den Großeltern an der Ostsee.

Alles änderte sich, als das Unglück geschah und Tilly ohne Eltern war. Annes Rechtssinn bekam einen gehörigen Knacks, nachdem sie sich wochenlang mit dem Jugendamt um Tilly gezankt hatte. Doch auch der Rechtsanwalt, den Anne einschaltete, hob nur bedauernd die Schultern. Er verwies auf die Gesetze und den Ermessensspielraum des Amtes.

»Das ist ja ein Höllenlärm«, hörte sie eine tiefe Stimme hinter sich und riß sie aus ihren Gedanken.

»Oh, Werner, du bist auch schon da?« Es klang ein wenig spitz, denn sie wußte, daß Werner Schlegel lautstarke Kinderpartys haßte und lieber die ruhige Zweisamkeit mit Anne suchte. Trotzdem bemühte er sich um einen halbwegs guten Kontakt zu Anita und hatte neben einem bunten Blumenstrauß auch ein riesengroßes, in buntes Papier eingeschlagenes Paket in der Hand.

Frau Jacobsens Augen leuchteten auf. »Oh, Herr Schlegel, wie nett, daß Sie gekommen sind!« Sie reichte ihm ihre schmale Hand und warf ihm schmachtende Blicke zu. Ihr Mann schien es nicht zu bemerken, wußte er doch, daß sich seine Frau diesen Herrn Schlegel sehnlichst als Schwiegersohn wünschte.

Er sah ja auch gut aus mit seinem graumeliertem Haar, dem zart gebräunten Teint und der teuren Uhr am Handgelenk. Stets war er korrekt in blaue, graue oder schwarze Anzüge gekleidet, seine Schuhe spiegelten wie Lack, und wenn er lächelte, zeigte er zwei Reihen tadelloser weißer Zähne. Lina Jacobsen verstand nicht, warum ihre Tochter immer wieder zögerte, diesen netten und gutaussehenden Herrn zu heiraten, zumal sich damit auch das Problem Tilly erledigt hätte.

Werner Schlegel bahnte sich einen Weg durch die lärmende Kinderschar und sprang erschrocken zur Seite, als Bernie mit seinen sabbernden Lefzen in die Nähe seiner messerscharfen Bügelfalten kam.

»Hallo, Geburtstagskind, herzlichen Glückwunsch!« Er überreichte Anita das Riesenpaket und forderte sie auf, es sofort auszupacken. Anne hätte jede Wette darauf gemacht, daß es das teuerste Geburtstagsgeschenk auf der Festtafel sein würde.

Eigentlich mochte Anita den Onkel Werner nicht besonders gut leiden. Wenn er zu ihnen zu Besuch kam, dann benahm er sich immer wie ein leibhaftiger Meckerer. »Anita, sitz gerade! – Anita, stör jetzt nicht! – Anita, ich möchte mit deiner Mutti auch mal allein sein! – Anita, sprich nicht so laut, ich habe Kopfschmerzen! – Anita, leg die Hand neben den Teller! – Anita…«

Anita strahlte, als sie das Riesenpaket sah. Sie öffnete es und holte einen riesigen Teddybären heraus, der sie fast in der Körperlänge überragte. »Oh, ist der groß!« rief sie überrascht aus. Mit Mühe schleppte sie ihn auf die Terrasse, nachdem alle Kinder ihn ausgiebig bestaunt hatten. Sie platzierte ihn auf den letzten freien Korbstuhl, und Werner Schlegel hob ihn wieder herunter, damit er sich selbst setzen konnte.

Anne erhob sich, um ihm ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Werner würde sich sicher schon bald wieder verabschieden, heute war kein Tag, wo er sich mit Anne in trauter Zweisamkeit üben konnte.

Die attraktive, rothaarige Journalistin war Werners Traum, seit er sie bei einem Interview das erste Mal gesehen hatte. Er wurde zum Manager des Jahres gekürt, und Anne machte eine Reportage darüber. Nach dem Interview lud er Anne zu einem Glas Sekt ein, und sie kamen sich näher. Eines Tages stand er mit einem riesigen Rosenstrauß vor ihrer Tür, und Annes Freiheitsentschluß kam kräftig ins wanken. Noch konnte sie Werners intensives Werben sanft, aber entschieden abwehren, doch lange würde sie seinem Drängen nicht standhalten können.

Eigentlich gab es keinen Grund, Werner Schlegel nicht zu heiraten. Er sah ungemein gut aus, war der gut verdienende Manager eines großen Unternehmens, weltgewandt, unterhaltsam und geschieden. Wenn er nur nicht diese Abneigung gegen Kinder hätte! Doch mit der Zeit schien er sich an Anita zu gewöhnen.