Flint_der.mann_Inhalt.jpg

Shamini Flint

Der Mann, der zweimal starb

Inspektor Singh ermittelt auf Bali

Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger

LangenMüller

Die englische Originalausgabe erschien 2009 bei Piatkus, London, unter dem Titel »Inspector Singh Investigates: A Bali Conspiracy Most Foul«

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die deutschsprachige Ausgabe: 2010 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© 2009 für die Originalausgabe by Shamini Flint

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: shutterstock

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8298-9

Für den Major

»Und losgelassen blutgetrübte Flut,

Das Spiel der Unschuld überall ertränket;

Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten

Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.«

W. B. Yeats

Prolog

Jimi hatte klamme Hände. Auf dem unechten Leder des Lenkrads waren feuchte Handabdrücke zu sehen.

Der Motor des weißen Minivans stotterte. Jimi schaute auf die Anzeige. Man hatte ihm gesagt, er solle den Motor laufen lassen. Keiner von den anderen traute es ihm zu, ihn wieder anzulassen. Er hatte nicht einmal einen Führerschein. Darauf hatte Jimi hingewiesen. Er wollte seinen Teil beitragen, aber vielleicht konnte einer von den anderen, Amrozi oder Idris, den Van fahren?

Das Team hatte ihm versichert, dass seine Rolle ganz einfach sei. Er könne vorher ein bisschen üben. Sie würden ihm den Wagen so hinstellen, dass er auf das Ziel gerichtet sei und Jimi um keine Ecken biegen oder anhalten und wieder anfahren musste. Eine kurze Fahrt in die Geschichtsbücher.

Er kannte seine Anweisungen auswendig – er musste darauf warten, dass einer von den anderen ihn anrief, und dann den Fuß von der Bremse nehmen. Das hatten sie ihm immer wieder eingehämmert. Sie machten sich Sorgen, er könnte voreilig handeln. Doch Jimi verstand. Er musste warten und tun, was man ihm sagte. Er hatte sein ganzes kurzes ­Leben damit verbracht, zu warten und zu tun, was man ihm sagte, ob es nun um seinen Vater, seine älteren Brüder oder den Imam in der Moschee ging.

Jimi war so angespannt, dass sich sein Oberschenkelmuskel verkrampfte. Er trat noch fester auf die Bremse, entschlossen, den weißen Mitsubishi-Van nicht vorwärtsrollen zu lassen. Noch war es nicht so weit.

Er hatte keine Zweifel an dem, was er gleich tun würde. Die anderen hatten ihm versichert, dass er das Richtige tat. Es war Dschihad, der endgültige und einzige Krieg.

Er wusste, dass es schnell gehen würde. Aber würde es wehtun? Er hatte gesehen, wie viel Sprengstoff hinten in den Wagen gepackt worden war. Jimi gestand sich ein, dass ihm die Vorstellung, dass es keine Leiche geben würde, die man seinen Eltern brachte, unangenehm war. Konnte das richtig sein? Muslime sollten mit dem Gesicht in Richtung Mekka begraben werden. Aber wenn es keinen Leichnam gab, nichts, was man begraben konnte, würde er dann eine Sünde begehen? Jimi ging, wenn auch nicht ganz ohne Zweifel, davon aus, dass sein Märtyrertum seine kleineren Verstöße wettmachen würde.

Jimi sah den Sari Club vor sich. Die anderen waren in den letzten paar Tagen einige Male mit ihm daran vorbeigegangen. Er hatte nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen können. Aber es gab dort genügend Dinge, die seine Waffen­brüder zutiefst empörten: spärlich bekleidete Mädchen und junge Männer, die tanzten und tranken. Jimi wünschte sich, er hätte die Mädchen gesehen – waren sie wirklich so spärlich bekleidet gewesen? Doch er würde bald seine Belohnung erhalten: zweiundsiebzig Jungfrauen im Himmel. Hoffentlich würden sie nicht alle Burkas tragen.

Sein Telefon klingelte. Er ging nicht ran. Jimi nahm den Fuß von der Bremse und hielt das Steuer fest, die Hände so, wie Amrozi es ihm beigebracht hatte, in der Zehn- und Zweiuhrposition.

Der Wagen rollte langsam vorwärts.

1

Inspektor Singh hörte das Quaken der Frösche und das rasselnde Zirpen der Grillen. Die Geräusche auf Bali unterschieden sich stark von dem Lärm der Baustellen und Automotoren, an den er in Singapur gewöhnt war. Der Polizeibeamte kratzte sich nachdenklich an seinem grau melierten Bart. Irgendwie kam ihm die nächtliche Kakophonie vertraut vor. Ihm wurde bewusst, dass der Krach ihn an das Gezeter seiner Frau erinnerte, wenn er – was ­regelmäßig vorkam – zu spät zu einem Abendessen im Kreis der Familie erschien oder im chinesischen Café um die Ecke ein paar Bierchen zu viel getrunken hatte.

Singh holte tief Luft. Er roch den würzigen warmen Duft von ikan bakar, in Bananenblätter eingewickeltem Fisch, der auf dem Hotelgrill lag. Seine Nasenhaare zitterten ­anerkennend. Wo er sich auch befand, der Duft gekochten Essens war immer verlockend. Singh grinste – selbst an seinen eigenen Maßstäben gemessen, war es irgendwie herzlos, sich in diesem Moment nach einer Mahlzeit zu sehnen. Sein großer Bauch protestierte sofort gegen diese Schlussfolgerung und knurrte wie in der Ferne grollender Donner. Der Polizist zuckte die Schultern und bestellte sich ein kaltes Bintang-Bier und nasi goreng. Schließlich musste er essen. Er half niemandem, wenn er nicht aß. Nicht dass er überhaupt jemandem half, dachte er voller Reue.

Singh beobachtete die leuchtend weißen Schaumkronen, die an das entfernte Ufer plätscherten. Der Strand war verlassen, ebenso der zum Strand hin gelegene Speisesaal. Die wenigen Touristen, die noch geblieben waren, hatten vermutlich den Zimmerservice bestellt. Niemand wollte sich in einer Menschengruppe aufhalten, nicht einmal beim Essen. Die Bombenanschläge auf Bali hatten gesellige Besucher in scheue Einzelgänger verwandelt, die Fremde voller Argwohn und Angst von der Seite anblickten.

Sein nasi goreng wurde gebracht, eine hübsche Halbkugel ­gebratener Reis mit einem Spiegelei obendrauf, dessen weiches Eigelb an den Seiten herabfloss wie die Lava eines neu erwachten Vulkans. Eine Hähnchenkeule, sechs Satéspieße, achar genanntes eingelegtes Gemüse und ein paar Gurkenscheiben waren ordentlich am Rand des Tellers arrangiert. Voller Genuss aß er alles bis auf den letzten Bissen auf, einschließlich der in Scheiben geschnittenen grünen chili padi, die in einem Schälchen mit leichter Sojasauce schwammen.

Singh versuchte, nicht daran zu denken, wie das ölige Essen Ablagerungen an seinen Arterien entstehen ließ. Sein Arzt hatte ihm zu verstehen gegeben, welch verheerende Folgen es haben könnte, wenn er seine Ernährung nicht umstellte und nichts für seine Fitness tat. Der Polizist hatte dem Arzt mit halbem Ohr zugehört, genickt, um zu zeigen, dass er den Rat ernst nahm, und darauf hingewiesen, dass seine weißen Turnschuhe, sein Markenzeichen, von seiner Bereitschaft zeugten, Sport zu treiben. Dann war er ins Komala Villas gegangen, sein Lieblingsrestaurant in der Serangoon Road, der Hauptstraße von Singapurs Little India, um sich eine Tasse heißen süßen Tee und eine Portion ladoo, einen mit Zucker gefüllten indischen Snack, munden zu lassen. Über Sport zu sprechen machte hungrig.

Die Erinnerung an ladoo weckte sein Verlangen nach einem Nachtisch. Er winkte einen Kellner herbei, bat um eine Speisekarte und studierte sie sorgfältig. Er seufzte. Das Problem mit diesen noblen Hotels auf Bali war, dass sie ihre Speisekarten völlig auf westliche Touristen ausrichteten. Statt einer echten Auswahl an schmackhaften Gerichten und Desserts gab es typisch europäische Kost wie Spaghetti Bolognese und Fish and Chips. Die asiatischen Gerichte waren eine laue Imitation des Originals – um den Touristen einen Eindruck vom Geschmack des Ostens zu geben, ohne dass sie ständig zur Toilette rennen mussten.

Auf der Speisekarte standen auch keine asiatischen Desserts. Es gab entweder ein Stück Schokoladenkuchen oder eine Crème brûlée.

Singh bestellte sich noch ein Bier.

Im Speisebereich im Freien gab es nicht viel Licht. Er zog die schwimmende Kerze näher. Die weiße Frangipaniblüte, die dekorativ am Rand thronte, fiel in die Flamme, kräuselte sich und wurde schwarz, und ihr schwerer Duft wich dem ranzigen Geruch brennender organischer Materie.

Seine Betrachtungen zur Unbeständigkeit der Natur wurden unsanft unterbrochen.

»Da sind Sie also! Ich habe überall nach Ihnen gesucht. Ich hätte mir denken können, dass Sie im Restaurant sind.«

Eine Frau mit mausgrauem Haar, kakifarbener Hose und Männerhemd kam mit schweren Schritten auf ihn zu.

Inspektor Singh nahm einen Schluck Bier und spürte, wie ihn die Gasblasen in der Kehle kitzelten. Eine Schaumschicht zierte seinen Schnurrbart.

»Jedes Mal wenn ich Sie sehe, umklammern Sie ein Bintang-Bier, als wäre es Ihr Lieblings-Teddybär«, sagte sie.

Singh wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Seine rosafarbene volle Unterlippe verzog sich leicht zu einem Schmollen, das einzige äußere Anzeichen seines Unbehagens. Diese Frau war so nervig wie eine ganze Horde seiner Sikh-Verwandtschaft – die sich gegenseitig und ihm etwas über seine schlechten Gewohnheiten vorjammerte. Doch Bronwyn Taylor war Mitglied der australischen Bundespolizei, der AFP, die man nach den Bombenanschlägen nach Bali geschickt hatte, um bei den Sicherheitsmaßnahmen und der Terrorismusbekämpfung Unterstützung zu leisten. Inspektor Singh von der Singapurer Polizei war mit der gleichen Aufgabe nach Bali geschickt worden. Wenn er sich mit den Australiern stritt, würde er sich bei seinen Bossen nicht gerade beliebt machen. Er wusste nur allzu gut, dass die Suche nach einem Vorwand, ihn rauszuschmeißen, einen beträchtlichen Teil der Freizeit seiner Vorgesetzten einnahm. Er hatte nicht vor, es ihnen leicht zu machen.

Bronwyn, die zum Public Liaison Team der AFP gehörte, ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. »Und wie ­sehen Ihre Pläne für morgen aus? Wie wollen wir dafür sorgen, dass die Welt sicher für die Demokratie bleibt?«

Singh war inzwischen klar, dass sich hinter der schnodderigen Art der Australierin eine außergewöhnliche Sensibilität verbarg. Er ignorierte ihre Frage und stellte selbst eine: »Geht es mit den Ermittlungen voran?«

Sie nickte. »Ein kleiner Durchbruch. Sie haben Bombenreste an einem liegen gelassenen Motorrad gefunden – es wurde von jemandem benutzt, der an den Anschlägen beteiligt war.«

»Und was tun Sie als Nächstes? Den Besitzer ausfindig ­machen?«

Sie nickte, wobei ihr widerspenstige Haarsträhnen in die Stirn fielen. Ungeduldig schob sie sie weg.

Singh fiel auf, dass sich Bronwyns Züge in der Mitte ihres fleischigen Gesichts konzentrierten. Ihre kleinen Goldohrringe wirkten an den großen Ohrläppchen richtig verloren.

»Das Motorrad muss gestohlen worden sein«, fuhr sie fort. »Die Bombenattentäter können nicht so dumm gewesen sein, eins hier auf Bali zu kaufen.«

»Unterschätzen Sie nie die Unzulänglichkeit des kriminellen Geistes«, erwiderte Singh, zufrieden, einmal das letzte Wort zu haben.

»Gibt es irgendein Zeichen von ihm?«

Sarah Crouch schüttelte den Kopf. Ihr feines blondes Haar, das normalerweise in der Sonne Balis glänzte, hatte seinen Schimmer verloren. Sie hockte am Rand eines Klappstuhls aus poliertem Teakholz wie ein nervöses Schulmädchen. Ihre blassen Hände zerrissen eine weiße Papierserviette in winzige Stückchen.

Die beiden Paare, die mit ihr am Tisch saßen, starrten sie mit einem unterschiedlichen Maß an Mitgefühl und Besorgnis an.

Eine der Frauen, Karri Yardley, sagte: »Ich kann nicht glauben, dass er einfach so verschwunden ist. Glaubst du … ich meine, könnte da eine andere Frau im Spiel sein? Das ist doch normalerweise der Grund, oder?«

Ihr Mann sah sie zornig an. Karri war sonnengebräunt, ihr Haar in dieser Woche tiefschwarz. Das unechte Tattoo eines Paradiesvogels zierte einen ihrer dünnen braunen Arme. Tim Yardley legte seine Hand auf Sarahs und sagte schroff: »Es gibt keinen Grund, das anzunehmen.«

Karri war in streitsüchtiger Laune. »Sarah hat gesagt, es sei in letzter Zeit nicht so gut gelaufen«, konterte sie, ohne die wütenden Blicke der anderen wahrzunehmen. »Richard war nicht sehr mitteilsam. Er ist oft alleine ausgegangen. Klingt für mich nach einer Affäre.«

»Du musst es ja wissen!«, spottete ihr Mann und strich mit einer Hand sorgfältig das spärliche Haar glatt, während er mit der anderen noch immer Sarahs schlaffe Finger umklammert hielt.

Sarah zog ihre Hand weg. Sie wollte nicht in eine der endlosen Streitereien zwischen dem australischen Paar verwickelt werden. Sie bemerkte Tims Versuch, sie auf sich aufmerksam zu machen, schaute aber weg.

»Bist du sicher, dass er nicht im Sari Club war?«, fragte Julian Greenwood mit leiser, tröstender Stimme.

Karri brach in lautes Lachen aus und hielt sich dann eine Hand mit rot lackierten Krallen vor den Mund. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass die Sache nicht zum Lachen ist – aber Richard in einem Nachtclub …«

Julian starrte sie hasserfüllt an. »Er war vielleicht in der Gegend …«, sagte er. »Kam gerade dort vorbei oder so was!«

Sarah schwieg weiterhin. Die anderen wandten sich ihr zu, mit Ausnahme von Emily, Julians Frau. Sie war in ihr Glas Wein vertieft, nippte nervös daran und starrte in die rubinrote Flüssigkeit, als würde es sich um einen magischen Spiegel handeln.

»Ich habe mich natürlich im Leichenschauhaus umgesehen.« Sarah schüttelte sich. »Es war schrecklich. Überall Leichen. Der Gestank. Ich konnte ihn nicht finden. Ich hab ihnen gesagt, dass Richard vermisst wird … hab ihnen ein Foto gegeben. Sie haben nach seinen Zahnbefunden aus Großbritannien gefragt. Seitdem habe ich nichts mehr gehört.«

Julian verfiel von der artikulierten Sprechweise, die er normalerweise annahm, wieder in das heimische Cockney. »Sie haben die meisten Leichen zur Beerdigung freigegeben … vielleicht brauchst du dir um dieses Szenario keine Sorgen mehr zu machen.«

Emily Greenwood schaute von ihrem Glas auf. Sie strahlte, und ihre grauen Augen wurden leicht glasig, als sie sich zu konzentrieren versuchte. »Ich bin heute Morgen auf dem Weg hierher an einem Leichenzug vorbeigekommen. Es war wirklich reizend. Viel Obst und viele Blumen, und alle waren so schön angezogen.«

»Du bist betrunken!«, sagte Julian grob.

Emily kicherte: »Vielleicht ein bisschen beschwipst, Schatz.«

Tim stand hastig auf, und der Tisch wackelte, als er mit dem Bauch dagegenstieß. »Verdammt noch mal, Emily«, sagte er schnell. »Denkst du nicht, du könntest Sarah ein bisschen Respekt erweisen und einmal nüchtern bleiben? Schließlich hat sie ihren Mann verloren.«

»Die Glückliche«, flüsterte Emily, zwinkerte ihrem Mann zu und beugte sich so zu ihm vor, dass ihr üppiger Busen auf seinem Arm ruhte.

Sarah fiel trotz ihrer Geistesabwesenheit auf, dass Julian die Zähne zusammenbiss und die Knöchel seiner Hand, die das Bierglas umfasste, ganz weiß waren. Wenn er nicht acht­gab, würde das Glas noch zerspringen. Aber er zog seinen Arm nicht weg. Er hätte ihr leidgetan, wäre er mit seinem herabhängenden Schnurrbart, der knochigen Nase und dem fast lippenlosen Mund nicht eine so erbärmliche Kreatur gewesen.

Karri schaltete sich ein. Sie sah Sarah durchdringend an. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie.

Sarah schloss die Augen, von deren Winkeln sich fächerförmig Müdigkeitsfalten ausbreiteten. »Weitersuchen, denke ich«, erwiderte sie. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll …«

Seine Frau war größer als er. Mit elastischen, männlichen Schritten entfernte sie sich vom Hotel. Tim Yardley musste sich anstrengen, um mitzukommen. Er keuchte vor Anstrengung, und seine Oberschenkel, die in weiten Leinenshorts steckten, rieben gegeneinander. Er wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab und starrte voller Zorn seine Frau an. Er war wütend auf sie, bestürzt über ihre gleichgültige Grausamkeit, obwohl er sie schon seit so vielen Jahren zu spüren bekam.

»Wie konntest du in einem solchen Moment nur lachen?«, fragte er ungehalten.

Karri blieb vor einem Schaufenster stehen, um ihr Spiegelbild zu prüfen und ihr Haar zu ordnen. Mit ihren langen dünnen Fingern wirbelte sie die schwarzen Locken herum, als mische sie Salat. »Das war doch wirklich zum Schießen – die Vorstellung, dass Richard Crouch die Nacht tanzend im Sari Club verbringt.«

»Darum geht es nicht, und das weißt du. Ich mache mir Sorgen um Sarah – und das solltest du auch. Sie ist unsere Freundin.«

Seine Frau zupfte sorgfältig ein paar Haarsträhnen über der Stirn zurecht und starrte das Spiegelbild ihres Mannes an. »Du machst dir genug Sorgen für uns beide, meinst du nicht? Es ist mir völlig egal, wenn Richard vielleicht irgend­wo tot in einem Graben liegt. Ich konnte diesen selbstgerechten Kerl sowieso nicht ausstehen.« Karri drehte sich um und sah ihren beleibten Ehemann an. »Zumindest hat er sich in Form gehalten.«

Tim zog die Hemdenden zusammen und steckte sie in die Shorts, wobei er versuchte, jene Teile seines Bauchs zu verdecken, die durch die Lücken hervorlugten. Die Sommersprossen auf seinen Armen sahen aus wie feine Schlammspritzer.

»Du brauchst nicht so unfreundlich zu sein«, sagte er. Schweiß rann ihm an der Nase herab, verweilte auf deren Spitze wie eine Träne und tropfte dann zu Boden. »Ich kann nichts dafür, dass ich ein bisschen Übergewicht habe.«

»Du musst einfach weniger essen und trinken.«

Tim wandte sich ab, um wegzugehen, mit hochgezogenen Schultern als Schutz gegen weitere Beschimpfungen.

»Was hast du vor?«, bellte Karri. »Zurücklaufen und wieder Sarahs Hand halten?«

Tim drehte sich langsam um. Er wusste nicht, warum er sich mit seiner Frau stritt. Seit der Heirat mit Karri vor fünfzehn Jahren hatte er bei jeder verbalen Auseinandersetzung den Kürzeren gezogen. Schon sehr früh in ihrer Ehe hatte er festgestellt, dass seine Frau sich, auch wenn er recht hatte, nicht davon abhalten ließ, ihn mit ihrer scharfen Zunge zutiefst zu verletzen – und dass er sich anschließend jedes Mal so ­lädiert und übel zugerichtet fühlte, als sei er in einer Gasse von Schlägertypen überfallen worden.

Wie ein Mann, der in einem dunklen Raum nach dem Lichtschalter tastet, suchte er nach etwas Würde und sagte leise: »Ich weiß nicht, warum du es auf Sarah abgesehen hast – sie ist eine gute, nette Frau, die unsere Hilfe braucht – und unser Mitgefühl. Ich versuche einfach nur, sie zu unterstützen, das ist alles!«

»Ich finde es wirklich erbärmlich, dass du diesem vertrockneten Weib hinterherläufst.«

»Tu ich nicht!« Er wurde knallrot.

»Es bereitet mir keine schlaflosen Nächte«, sagte seine Frau abfällig. »Sie würde dich nicht mal mit der Zange anfassen.«

Tim holte tief Luft, zog den Bauch so weit wie möglich ein und streckte die Brust heraus. »Da wäre ich mir nicht so ­sicher«, entgegnete er.

Karri lachte.

Nuri machte sich nach Denpasar auf.

Untätig in dem kleinen Apartment herumzusitzen, in dem sie seit einem Monat wohnte, war unerträglich. Sie war ­unruhig und nervös gewesen, hatte an einem losen Faden ­ihrer Bluse gezogen und die schmutzigen Vorhänge beiseite­geschoben, um durch die gesprungenen Fensterscheiben hinauszuschauen.

Nuri hatte ihren Brüdern Abu Bakr und Ramzi gesagt, sie wolle Einkäufe fürs Abendessen erledigen und sie sollten Ghani, wenn er nach Hause kam, bitte sagen, wo sie sei. Ihr Mann war unterwegs, denn er suchte noch immer nach ­einem geeigneten Standort für die Religionsschule, die sie auf Bali gründen wollten. Nuri wunderte sich, dass er fest entschlossen war, den Plan weiterzuverfolgen, wo doch eine Religionsschule, die sich auf strenge islamische Lehren konzentrierte, jetzt nach den Bombenanschlägen auf Bali sicher zum Scheitern verurteilt war. Vorsichtig hatte sie Ghani gegenüber ihre Zweifel geäußert. Er hatte sie angelächelt und erklärt, dass Allah lediglich ihre Entschlossenheit teste und dass er nicht beim kleinsten Hindernis, das man ihm in den Weg lege, aufgeben werde. Nuri hatte den Blick gesenkt und zustimmend genickt. Es war so leicht, die gehorsame Ehefrau zu spielen – wieder in die Gewohnheit zu verfallen, sich ihrem Mann zu unterwerfen –, eine Rolle, die sie seit ihrer Hochzeit vor einem Jahr mit dem grauhaarigen alten Mann widerspruchslos erfüllt hatte.

Nuri hatte Sulawesi, die große, dünn besiedelte Insel, die zum indonesischen Archipel gehörte und geformt war wie ein kopfloser Mann, vor dieser Reise nach Bali noch nie verlassen. Sie hatte mit ihrem Mann und ihren Brüdern die überfüllte, heruntergekommene Fähre nach Java genom­men. Nach einem kurzen Besuch des pesanteren in Solo, des Internats, das Ghani als Junge besucht hatte, wo er sich mit den geistigen Führern beraten hatte, waren sie weiter nach Bali gereist.

Die Insel hatte dem jungen Mädchen, das auf dem Dorf aufgewachsen war, die Augen geöffnet. Noch nie hatte sie so viel Alkohol und Drogen und so viele Kontakte zwischen Männern und Frauen gesehen. Es hatte sie mit Ekel erfüllt und verlegen gemacht. Sie hatte weggeschaut, wenn Paare sich ­öffentlich ihre Zuneigung zeigten, und war an Nachtclubs und Massagesalons mit auf den Boden gerichteten Augen vorbeigeeilt. Und sie hatte ihren jüngeren Bruder Ramzi ­getadelt, als er den Blick nicht von den spärlich bekleideten Touristinnen hatte losreißen können.

Nuri sah mit ihrer klaren Haut und den weit auseinanderstehenden mandelförmigen Augen, die ihr einen fragenden, naiven Ausdruck verliehen, wunderschön aus. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar, das sie jedoch hochgesteckt und unter einem Tuch verborgen trug. Für die Dauer ihres Aufenthalts auf Bali verzichtete sie auf den Hijab, das schwarze Gewand, das den gesamten Körper, vom Kopf bis zu den ­Zehen, bedeckte und auch einen Schleier für das Gesicht mit einschloss. Ghani hatte behauptet, ein Hijab würde zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen; nach den Bombenanschlägen sei Bali kein guter Ort für Muslime.

Nuri war einverstanden gewesen, solange sie ein Kopftuch tragen durfte. Doch selbst mit dem Stück Stoff, das sie sich ums Haar gebunden hatte, fühlte sie sich schändlich entblößt – so als sei sie eine der Frauen aus dem Westen, die sie im Bikini am Strand hatte liegen sehen und deren sonnengebräunte Körper den Blicken jedes vorbeikommenden Fremden preisgegeben waren. Bei der Erinnerung daran schüttelte Nuri den Kopf, und eine Locke stahl sich unter dem Kopftuch hervor und fiel ihr in die Stirn. Sorgfältig steckte sie sie wieder zurück. Seit der Pubertät hatte sie den Hijab getragen. Zu Hause auf Sulawesi beharrte ihr Vater ­darauf, dass Frauen in der Gesellschaft eine den Männern untergeordnete Rolle spielten. Nuri hatte seine strenge Auffassung als die natürliche Ordnung der Dinge akzeptiert. Als einziges Mädchen in einer Familie von insgesamt dreizehn Kindern der vier Frauen ihres Vaters wusste sie, wie ungehobelt und schwierig Jungen waren. Nuri fühlte sich wohler, wenn sie sich den Männern nicht als Objekt der Anziehung anbot. Das lag nicht allein an der Erziehung durch ihren Vater; es war auch ihre eigene Entscheidung.

Schlendernden Schrittes erreichte sie eine kleine Holzhütte mit einem Wellblechdach, wo Lebensmittel an indonesische Arbeiter verkauft wurden. Nuri kaufte ein Glas Chilipaste. Es würde ihren Mann und ihre Brüder davon überzeugen, dass sie tatsächlich unterwegs gewesen war, um für das Abendessen einzukaufen.

Die Unterhaltung der anderen Kunden drehte sich ausschließlich um die Bombenanschläge und die Ermittlungen, doch Nuri schenkte ihr nicht viel Aufmerksamkeit. Sie war sich nicht sicher, was sie von den Explosionen halten sollte. Ghani hatte ihr erzählt, die Bewohner Balis hätten ihre Insel in ein Bordell verwandelt. Aber sie wusste auch, ja hatte auf Bali selbst die bittere Erfahrung gemacht, dass – egal wie streng die religiöse Erziehung gewesen war und wie gut man den Unterschied zwischen Richtig und Falsch kannte – ein widerspenstiges Herz schwer zu kontrollieren war.