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Cal Newport

Konzentriert arbeiten

Regeln für eine Welt voller Ablenkungen
 
Übersetzung aus dem Englischen
von Jordan T. A. Wegberg

 

 

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

 

 

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6. Auflage 2022

 

© 2017 by Redline Verlag,

ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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© der Originalausgabe 2016 by Cal Newport. All rights reserved.

Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei Grand Central Publishing unter dem Titel Deep Work.

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

Übersetzung: Jordan T. A. Wegberg, Berlin

Redaktion: Christiane Otto, München

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München

Umschlagabbildung: AF studio/Shutterstock.com

 

ISBN Print 978-3-86881-657-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-936-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-935-1

 

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

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Inhalt

Einleitung

Teil 1 – Die Idee

Kapitel 1: Deep Work ist wertvoll

Kapitel 2: Deep Work ist selten

Kapitel 3: Deep Work ist bedeutsam

Teil 2 – Die Regeln

Regel Nr. 1: Konzentriert arbeiten

Regel Nr. 2: Willkommen, Langeweile

Regel Nr. 3: Verlassen Sie die digitalen sozialen Netzwerke

Regel Nr. 4: Legen Sie seichte Tümpel trocken

Fazit

Anmerkungen

Einleitung

Im schweizerischen Kanton St. Gallen, am nördlichen Ufer des Zürichsees, liegt das Dorf Bollingen. Im Jahr 1922 wählte der Psychiater Carl Gustav Jung diesen Ort für die Errichtung eines Ruhesitzes. Er begann mit einem einfachen zweistöckigen Steingebäude, das er als Turm bezeichnete. Nachdem er aus Indien zurückgekehrt war, wo er die Gewohnheit beobachtet hatte, Wohnhäusern Meditationsräume hinzuzufügen, erweiterte er den Komplex um ein privates Büro. »In meinem Rückzugsraum bin ich ganz bei mir selbst«, sagte Jung über dieses Zimmer. »Den Schlüssel trage ich immer bei mir; niemand darf hineingehen ohne meine Erlaubnis.«[1]

In seinem Buch Musenküsse (engl.: Daily Rituals) bezog sich der Journalist Mason Currey auf verschiedene Quellen über Jung, um die Arbeitsgewohnheiten des Psychiaters im Turm zu rekonstruieren. Jung stand um 07:00 Uhr auf, berichtet Currey, und nach einem ausführlichen Frühstück verbrachte er zwei Stunden Schreibzeit ohne Ablenkung in seinem privaten Büro. Seine Nachmittage bestanden häufig aus Meditation oder langen Spaziergängen in der Umgebung. Im Turm gab es keine Elektrizität, daher wurden bei Einbruch der Dämmerung Öllampen angezündet, und geheizt wurde mit dem Kamin. Gegen 22:00 Uhr ging Jung schlafen. »Das Gefühl der Erholung und Erneuerung, das ich in diesem Turm erlebte, war von Anfang an sehr intensiv«, sagte er.[2]

Es mag naheliegen, sich den Bollinger Turm als ein Ferienhaus vorzustellen, aber wenn wir Jungs Karriere zu diesem Zeitpunkt mit einbeziehen, wird deutlich, dass der Ruhesitz am See keineswegs der Flucht vor der Arbeit diente. 1922, als Jung das Grundstück kaufte, konnte er sich keinen Urlaub leisten. Nur ein Jahr zuvor, 1921, hatte er Psychologische Typen veröffentlicht, ein bahnbrechendes Buch, das viele der Differenzen zementierte, die sich schon seit längerer Zeit zwischen ihm und seinem einstigen Freund und Mentor Sigmund Freud entwickelt hatten. In den 1920er Jahren war es recht kühn, Freud zu widersprechen. Zur Unterstützung seines Buches musste Jung am Ball bleiben und eine Vielzahl kluger Artikel und Veröffentlichungen produzieren, um die analytische Psychologie, wie seine neue Lehre schließlich genannt wurde, weiterhin zu stärken und zu etablieren.

Jungs Vorlesungen und seine Behandlungspraxis hielten ihn nach wie vor in Zürich beschäftigt – so viel steht fest. Aber er war nicht mit bloßer Geschäftigkeit zufrieden. Er wollte unser Verständnis des Unterbewussten verändern, und dieses Ziel erforderte eine tiefere, sorgfältigere Betrachtung, als er im Rahmen seines hektischen städtischen Lebensstils aufbringen konnte. Jung zog sich nicht nach Bollingen zurück, um seinem Berufsleben zu entkommen, sondern um es voranzubringen.

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Carl Gustav Jung wurde zu einem der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Natürlich gibt es viele Gründe für seinen Erfolg. In diesem Buch jedoch interessiert mich seine Hingabe an die folgende Fähigkeit, die mit großer Sicherheit eine Schlüsselrolle bei seinen Errungenschaften spielte:

Deep Work: berufliche Aktivitäten, die in einem Zustand ablenkungsfreier Konzentration ausgeübt werden und Ihre geistigen Kapazitäten an ihre Grenzen bringen. Diese Leistung schafft neuen Wert, verbessert Ihre Fähigkeiten und ist schwer zu kopieren.

Deep Work ist nötig, um Ihre intellektuelle Kapazität bis auf den letzten Tropfen auszuwringen. Aus der jahrzehntelangen Forschung sowohl in der Psychologie als auch in den Neurowissenschaften wissen wir heute, dass der Zustand mentaler Spannung, der mit Deep Work einhergeht, auch für die Verbesserung Ihrer Fähigkeiten notwendig ist. Mit anderen Worten, Deep Work war genau jene Art von Bestrebung, die notwendig war, um zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem kognitiv anspruchsvollen Gebiet wie der akademischen Psychiatrie herauszuragen.

Der Begriff »Deep Work« stammt von mir und wäre von Carl Gustav Jung wohl nicht benutzt worden, aber seine Vorgehensweise in diesem Zeitraum war die eines Menschen, der das zugrunde liegende Konzept begriffen hat. Jung baute einen steinernen Turm im Wald, um Deep Work in seinem Berufsleben zu verankern – eine Aufgabe, die Zeit, Energie und Geld brauchte. Es lenkte ihn auch von unmittelbareren Beschäftigungen ab. Wie Mason Currey schreibt, verringerten Jungs regelmäßige Fahrten nach Bollingen die Zeit, die er mit seiner klinischen Tätigkeit verbrachte: »Obgleich er viele Patienten hatte, die auf ihn zählten, hatte Jung keine Scheu, sich freie Zeit zu nehmen.«[3] Deep Work war trotz der Last der Prioritätensetzung unverzichtbar für sein Ziel, die Welt zu verändern.[4]

Wenn Sie die Lebensgeschichten einflussreicher Persönlichkeiten, sowohl der älteren als auch der jüngeren Geschichte untersuchen, werden Sie feststellen, dass Deep Work ein wiederkehrendes Motiv ist. Michel de Montaigne beispielsweise, der Essayist des 16. Jahrhunderts, kam Jung zuvor, indem er in einer Privatbibliothek arbeitete, die er im Südturm der Steinmauern seines französischen Châteaus eingerichtet hatte, während Mark Twain einen Großteil von Die Abenteuer des Tom Sawyer in einer Hütte auf dem Grundstück der Quarry Farm in New York schrieb, wo er den Sommer verbrachte. Twains Arbeitsraum war so weit weg vom Haupthaus, dass seine Familie in ein Horn blies, um ihn zu den Mahlzeiten zu rufen.

Ein weniger lang zurückliegendes Beispiel ist der Drehbuchautor und Regisseur Woody Allen. In dem vierundvierzigjährigen Zeitraum zwischen 1969 und 2013 hat Woody Allen 44 Filme geschrieben und inszeniert, die 23 Academy-Award-Nominierungen erhielten – eine geradezu absurd hohe künstlerische Produktivitätsrate. In all dieser Zeit besaß Allen niemals einen Computer, sondern schrieb ausschließlich, frei von jeder elektronischen Ablenkung, auf einer deutschen Schreibmaschine der Marke Olympia SM3. Allen teilt die Ablehnung von Computern mit Peter Higgs, einem Physiker, der seine Arbeit in solcher Abgeschiedenheit ausübt, dass die Journalisten ihn nicht ausfindig machen konnten, nachdem bekannt geworden war, dass er den Nobelpreis erhalten würde. J. K. Rowling dagegen besitzt zwar einen Computer, hielt sich aber bekanntlich von den Social Media fern, während sie ihre Harry-Potter-Romane schrieb – obwohl dieser Zeitraum mit dem Aufstieg der Technologie und ihrer Beliebtheit bei Mediengrößen zusammenfiel. Im Herbst 2009 eröffneten Rowlings Mitarbeiter in ihrem Namen schließlich einen Twitter-Account, während sie an Ein plötzlicher Todesfall schrieb, und in den ersten anderthalb Jahren lautete ihr einziger Tweet: »Ich bin es wirklich, aber ihr werdet wohl leider nicht oft von mir hören, denn im Moment sind Stift und Papier meine oberste Priorität.«

Deep Work beschränkt sich natürlich nicht auf historische oder technophobe Persönlichkeiten. Der Microsoft-CEO Bill Gates führte bekanntermaßen zweimal jährlich »Denkwochen« durch, in denen er sich zurückzog (häufig in eine Hütte am See), um nichts weiter zu tun, als zu lesen und großen Gedanken nachzuhängen. In einer solchen Denkwoche des Jahres 1995 schrieb Gates sein berühmtes Memo »Internet Tidal Wave«, das die Aufmerksamkeit von Microsoft auf ein aufsteigendes Unternehmen namens Netscape Communications lenkte. Und ironischerweise ist Neal Stephenson, der viel gerühmte Cyberpunk-Autor, der unsere Vorstellung vom Internetzeitalter mitgeprägt hat, beinahe unmöglich elektronisch zu erreichen – seine Website weist keine E-Mail-Adresse auf und präsentiert stattdessen einen Essay darüber, warum er absichtlich schlecht in der Nutzung von Social Media ist. So erklärte er die Unterlassung einmal: »Wenn ich mein Leben so organisiere, dass ich lange, zusammenhängende, ununterbrochene Zeitfenster erhalte, kann ich Romane schreiben. [Werde ich dagegen häufig unterbrochen], wodurch werden sie ersetzt? Anstelle eines Romans, der lange Zeit überdauern wird … gibt es einen Haufen E-Mails, die ich an einzelne Personen geschickt habe.«[5]

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Es ist wichtig, die Allgegenwärtigkeit von Deep Work unter einflussreichen Persönlichkeiten zu betonen, denn sie steht in einem starken Kontrast zum Verhalten der meisten modernen Wissensarbeiter – einer Gruppe, die zunehmend den Wert des Tiefgangs vergisst.

Der Grund, warum Wissensarbeiter den Zugang zu Deep Work verlieren, ist allseits bekannt: Netzwerk-Tools. Das ist ein umfassendes Feld, das Kommunikationsmittel wie E-Mails und SMS umschließt, soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook und das kunterbunte Durcheinander von Infotainment-Seiten wie BuzzFeed und Reddit. Die Verbreitung dieser Tools,verbunden mit ihrer jederzeitigen Verfügbarkeit durch Smartphones und vernetzte Bürocomputer, hat die Aufmerksamkeit der meisten Wissensarbeiter in winzige Scheibchen fragmentiert. Eine McKinsey-Studie von 2012 ergab, dass der durchschnittliche Wissensarbeiter über 60 Prozent der Arbeitswoche mit elektronischer Kommunikation und Internetsuche verbringt, wobei knapp 30 Prozent der Arbeitszeit allein auf das Lesen und Beantworten von E-Mails entfallen.[6]

Diese fragmentierte Aufmerksamkeit bietet keine Grundlage für Deep Work, das lange Phasen ununterbrochener Gedankenarbeit erfordert. Gleichzeitig sind moderne Wissensarbeiter jedoch keine Faulenzer. Tatsächlich geben sie an, dass sie genauso beschäftigt sind wie eh und je. Wie erklärt sich diese Diskrepanz? Zu einem großen Teil durch eine andere Art von Leistung, die den Gegensatz zur Idee des Deep Work bildet:

Shallow Work: Kognitiv anspruchslose, logistikorientierte Aufgaben, die häufig unter Ablenkung durchgeführt werden. Diese Tätigkeiten schaffen tendenziell nicht viel neuen Wert in der Welt und sind leicht zu kopieren.

Im Zeitalter der Netzwerk-Tools ersetzen Wissensarbeiter also mit anderen Worten Deep Work durch die Shallow-Work-Alternative – sie verschicken und empfangen fortwährend E-Mail-Nachrichten wie menschliche Netzwerk-Router, durchsetzt von häufigen Unterbrechungen für kurze Ablenkungen. Größere Leistungen, denen ein intensives Nachdenken gute Dienste leisten würde, zum Beispiel der Aufbau einer neuen Geschäftsstrategie oder das Schreiben eines wichtigen Förderantrags, werden zu zerfahrenen Streiflichtern fragmentiert, die von minderer Qualität sind.

Was das konzentrierte Arbeiten noch erschwert: Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass der Wechsel zum Oberflächlichen keine Wahl ist, die mühelos rückgängig gemacht werden kann. Wenn Sie genügend Zeit mit fieberhafter Oberflächlichkeit verbringen, verringern Sie dauerhaft Ihre Fähigkeit, konzentriert zu arbeiten. »Das Internet scheint meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation zu reduzieren«, gestand der Journalist Nicholas Carr in einem häufig zitierten Artikel des Atlantic im Jahre 2008. »[Und] da bin ich nicht der Einzige.«[7] Carr ließ diese Feststellung in ein Buch münden, Wer bin ich, wenn ich online bin (engl.: The Shallows), das zu den Finalisten für den Pulitzer-Preis gehörte. Passenderweise musste Carr, um Wer bin ich, wenn ich online bin zu schreiben, in eine Hütte ziehen und sich gewaltsam von allem abkapseln.[8]

Der Gedanke, dass Netzwerk-Tools unsere Arbeit von der Konzentration in Richtung Oberflächlichkeit treiben, ist nicht neu. Wer bin ich, wenn ich online bin war lediglich das erste einer Reihe von neueren Büchern, die sich mit den Auswirkungen des Internets auf unser Gehirn und unsere Arbeitsgewohnheiten beschäftigen. Zu seinen Nachfolgern gehören William Powers’ Einfach abschalten (engl. Hamlet’s BlackBerry), John Freemans The Tyranny of E-Mail und Alex Soojung-Kin Pangs The Distraction Addiction – die sich alle mehr oder weniger einig darüber sind, dass Netzwerk-Tools uns von Arbeiten ablenken, die ununterbrochene Konzentration erfordern, und gleichzeitig unsere Fähigkeit zur Konzentration verringern.

In Anbetracht der bereits existierenden Beweise möchte ich in diesem Buch nicht noch mehr Zeit darauf verwenden, den Sachverhalt deutlich zu machen. Ich hoffe, wir können es als gegeben hinnehmen, dass Netzwerk-Tools einen negativen Einfluss auf Deep Work haben. Ich werde auch jegliche Stellungnahme zu den langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Wandels vermeiden, denn solche Auseinandersetzungen haben die Tendenz, unüberwindbare Gräben zu schaffen. Auf der einen Seite stehen Technologieskeptiker wie Jaron Lanier und John Freeman, die vermuten, dass viele dieser Tools zumindest in ihrer gegenwärtigen Form gesellschaftlichen Schaden anrichten, während auf der anderen Seite Technologieoptimisten wie Clive Thompson erklären, dass sie selbstverständlich die Gesellschaft verändern, aber auf eine Weise, die für uns von Vorteil ist. Google mag beispielsweise unser Gedächtnis schlechter machen, aber wir brauchen kein gutes Gedächtnis mehr, denn jetzt können wir nach allem suchen, das wir wissen müssen.

Ich habe innerhalb dieser philosophischen Debatte keinen Standpunkt. Mein Interesse an der Angelegenheit fokussiert sich vielmehr auf eine deutlich pragmatischere und stärker individualisierte These: Die Verlagerung unserer Arbeitskultur zum Oberflächlichen (ob das nun philosophisch betrachtet gut oder schlecht ist) stellt eine erhebliche ökonomische und persönliche Chance für die wenigen dar, die den Wert des Widerstands gegen diesen Trend erkennen und dem Tiefgang mehr Priorität einräumen – eine Chance, die vor gar nicht allzu langer Zeit von einem gelangweilten jungen Consultant aus Virginia namens Jason Benn genutzt wurde.

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Es gibt viele Möglichkeiten, um festzustellen, dass man keinen wirtschaftlichen Wert hat. Jason Benn hatte diese Erkenntnis, als er kurz nach seinem Berufsstart als Finanzberater erkannte, dass der überwiegende Teil seiner beruflichen Aufgaben von einem »zusammengepfuschten« Excel-Programm übernommen werden konnte.

Die Firma, die Benn eingestellt hatte, verfasste Berichte für Banken, die sich in komplexen Transaktionen engagierten. (»Es war genauso interessant, wie es sich anhört«, scherzte Benn in einem unserer Interviews.) Der Berichterstellungsprozess erforderte stundenlange manuelle Datenbearbeitung in einer Reihe von Excel-Tabellen. Anfangs brauchte Benn bis zu sechs Stunden pro Bericht, um diese Phase abzuschließen (die versiertesten Veteranen in der Firma erledigten die Aufgabe ungefähr in der Hälfte der Zeit). Das wurmte Benn.

»So, wie es mir beigebracht wurde, kam der Vorgang mir mühsam und aufwendig vor«, erinnert sich Benn. Er wusste, dass Excel eine Funktion namens Makros besitzt, mit der die Anwender häufige Aufgaben automatisieren können. Benn las Artikel zu dem Thema und erstellte rasch eine neue Arbeitstabelle, die mit einer Reihe dieser Makros verknüpft war und den sechsstündigen Vorgang manueller Datenbearbeitung im Großen und Ganzen durch einen Mausklick ersetzen konnte. Das Erstellen eines Berichts, das ihn zuvor einen ganzen Arbeitstag gekostet hatte, konnte nun auf weniger als eine Stunde abgekürzt werden.

Benn ist ein cleverer Mann. Er schloss sein Ökonomiestudium an einer Eliteuniversität ab (der University of Virginia), und wie viele andere in seiner Situation strebte er voller Ehrgeiz eine Karriere an. Recht schnell erkannte er, dass diese Ambitionen vereitelt würden, solange seine beruflichen Fähigkeiten durch ein Excel-Makro ersetzt werden konnten. Daher beschloss er, seinen Wert für die Welt zu erhöhen. Nach einer Recherchephase kam Benn zu einem Schluss: Er würde, so erklärte er seiner Familie, den Job als menschliche Tabelle kündigen und Computerprogrammierer werden. Doch wie es oft der Fall ist bei derart großen Plänen, hatte auch dieser einen Haken: Jason Benn hatte nicht die leiseste Ahnung vom Programmieren.

Als Computerwissenschaftler kann ich das Offensichtliche bestätigen: Programmieren ist schwierig. Die meisten neuen Entwickler absolvieren vor ihrer ersten Anstellung eine vierjährige Universitätsausbildung, um die Grundbegriffe zu erlernen – und selbst dann herrscht ein erbitterter Kampf um die besten Stellen. Diese Zeit hatte Jason Benn nicht. Nach seinem Excel-Erlebnis kündigte er seinen Arbeitsplatz bei der Finanzfirma und zog wieder zu Hause ein, um seinen nächsten Schritt vorzubereiten. Seine Eltern waren froh, dass er einen Plan hatte, aber nicht sonderlich erbaut von der Vorstellung, dass diese Rückkehr nach Hause eine Dauerlösung werden könne. Benn musste eine schwierige Qualifikation erwerben, und zwar schnell.

An diesem Punkt stieß Benn auf dasselbe Problem, das viele Wissensarbeiter davon abhält, einen steileren Karriereweg einzuschlagen. Etwas so Komplexes wie Programmierung zu erlernen erfordert intensive, ununterbrochene Konzentration auf kognitiv anspruchsvolle Konzepte – jene Art von Konzentration, die Carl Gustav Jung in die Wälder rund um den Zürichsee trieb. Mit anderen Worten, diese Aufgabe ist eine Frage von Deep Work. Doch wie ich weiter oben in dieser Einführung erläuterte, haben die meisten Wissensarbeiter ihre Fähigkeit zu Deep Work verloren. Benn war keine Ausnahme dieses Trends.

»Ich ging ständig ins Internet und checkte meine E-Mails; ich konnte mich einfach nicht bremsen; es war wie ein Zwang«, sagte Benn über den Zeitraum vor der Kündigung seines Finanzjobs. Zur Erläuterung seiner Schwierigkeiten mit dem Konzentrieren erzählte mir Benn von einem Projekt, das ihm ein Supervisor der Finanzfirma einst antrug. »Sie wollten, dass ich einen Businessplan schreibe«, erklärte er. Benn wusste nicht, wie man einen Businessplan schreibt, also entschloss er sich, fünf verschiedene existierende Pläne zu suchen und zu lesen – sie miteinander zu vergleichen, um zu verstehen, worin die Erfordernisse lagen. Das war eine gute Idee, aber Benn hatte ein Problem: »Ich konnte nicht bei der Sache bleiben.« Es gab Tage während dieser Zeit, gesteht er heute, in denen er praktisch jede einzelne Minute (»98 Prozent meiner Zeit«) im Internet surfte. Das Businessplan-Projekt – eine Chance, sich zu einem frühen Zeitpunkt seiner beruflichen Laufbahn hervorzutun – blieb auf der Strecke.

Bei seiner Kündigung war Benn sich seiner Konzentrationsprobleme durchaus bewusst. Als er beschloss, sich dem Erlernen des Programmierens zu widmen, wusste er also, dass er sich gleichzeitig beibringen musste, fokussiert bei einer Sache zu bleiben. Seine Methode war drastisch, aber effektiv. »Ich schloss mich in einem Zimmer ohne Computer ein: nur Lehrbücher, Notizzettel und ein Textmarker.« Er markierte sich Passagen in den Programmierlehrbüchern, übertrug die Erkenntnisse auf Notizzettel und lernte sie dann auswendig. Anfangs waren diese Zeiten ohne jegliche elektronische Ablenkung hart, aber Benn ließ sich selbst keine andere Wahl: Er musste dieses Material durcharbeiten, und er musste sicherstellen, dass es in diesem Zimmer nichts gab, das ihn ablenken konnte. Im Laufe der Zeit jedoch fiel ihm das Konzentrieren leichter, und schließlich erreichte er einen Punkt, an dem er regelmäßig fünf oder mehr Stunden täglich ohne Unterbrechung in diesem Zimmer verbrachte, ganz fokussiert auf das Erlernen dieser schwierigen neuen Materie. »Als ich fertig war, hatte ich bestimmt an die achtzehn Bücher über das Thema gelesen«, erinnert er sich.

Nachdem er sich zwei Monate lang zum Studieren eingeschlossen hatte, besuchte Benn das bekanntermaßen schwierige Dev-Bootcamp: einen Hundert-Wochenstunden-Crashkurs für die Programmierung von Webanwendungen. (Bei seinen Recherchen zu diesem Programm fand Benn einen Princeton-Studenten mit Doktorgrad, der Dev als »das Schwerste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe« beschrieb.) Angesichts sowohl seiner Vorbereitung als auch seiner frisch erworbenen Fähigkeit zu Deep Work schnitt Benn hervorragend ab. »Manche Leute kommen unvorbereitet da hin«, sagte er, »Sie können sich nicht konzentrieren. Sie können nicht schnell lernen.« Nur die Hälfte der Studenten, die den Lehrgang mit Benn begannen, schlossen ihn fristgemäß ab. Benn schaffte nicht nur den Abschluss, sondern war zudem Klassenbester.

Deep Work hatte sich ausgezahlt. Rasch erhielt Benn eine Stelle als Entwickler bei einem Technologie-Start-up in San Francisco mit einem Venture-Kapital von 25 Millionen Dollar und sorgfältiger Mitarbeiterauswahl. Als Benn nur ein halbes Jahr zuvor seine Stelle als Finanzberater gekündigt hatte, hatte er 40.000 Dollar jährlich verdient. Bei seinem neuen Job als Computerentwickler bekam er 100.000 Dollar – eine Summe, die im Silicon-Valley-Markt im Prinzip unbegrenzt, zusammen mit seinem Qualifikationslevel kontinuierlich wachsen kann.

Als ich das letzte Mal mit Benn sprach, blühte er in seiner neuen Position auf. Als neuer Anhänger von Deep Work mietete er ein Apartment schräg gegenüber seinem Büro, was es ihm ermöglichte, frühmorgens zur Arbeit zu kommen, ehe alle anderen eintrafen, und ungestört zu arbeiten. »An guten Tagen kann ich mich vor dem ersten Meeting vier Stunden lang versenken«, sagte er mir, »und dann vielleicht noch mal drei oder vier Stunden nachmittags. Und damit meine ich auch ›versenken‹: keine E-Mails, keine Hacker News [eine unter Technologen beliebte Website], nur Programmieren.« Für jemanden, der zugegebenermaßen bis zu 98 Prozent der Zeit an seinem ehemaligen Arbeitsplatz mit Internetsurfen verbracht hat, ist Jason Benns Verwandlung wirklich erstaunlich.

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Jason Benns Geschichte hebt eine wichtige Lektion hervor: Deep Work ist keine nostalgische Anwandlung von Schriftstellern und Philosophen der Jahrhundertwende. Vielmehr handelt es sich um eine Fähigkeit, die heutzutage von hohem Wert ist.

Dieser Wert hat zwei Gründe. Der erste hat etwas mit dem Lernen zu tun. Wir leben in einem Informationszeitalter, das sich auf rapide wechselnde komplexe Systeme stützt. Einige der Computersprachen zum Beispiel, die Benn erlernte, hat es vor zehn Jahren noch nicht gegeben, und in zehn weiteren Jahren werden sie vermutlich überholt sein. Gleichermaßen hatte jemand, der in den 1990er Jahren in den Marketingbereich einstieg, sicherlich keine Vorstellung davon, dass er heute digitale Analysemethoden beherrschen muss. Um in unserem wirtschaftlichen Umfeld seinen Wert zu erhalten, muss man daher in der Lage sein, rasch komplizierte Dinge zu erlernen. Das erfordert Deep Work. Wer diese Fähigkeit nicht kultiviert, wird mit den Entwicklungen der Technologie nicht Schritt halten können.

Der zweite Grund für den Wert von Deep Work ist die Tatsache, dass sich die Revolution digitaler Netzwerke in unterschiedliche Richtungen auswirkt. Wenn Sie etwas Nützliches schaffen können, ist die erreichbare Zielgruppe (zum Beispiel Mitarbeiter oder Kunden) im Prinzip unbegrenzt – was äußerst lohnend sein kann. Andererseits haben Sie ein Problem, wenn Sie etwas Mittelmäßiges herstellen, denn für Ihre Zielgruppe ist es nur allzu leicht, online eine bessere Alternative zu finden. Ob Sie nun Computerprogrammierer sind, Autor, Marketingfachmann, Berater oder Unternehmer, Ihre Situation ist ähnlich wie die von Jung, der Freud auszustechen versuchte, oder die von Jason Benn, der sich in einem brandaktuellen Start-up behaupten musste: Um Erfolg zu haben, müssen Sie das absolut Beste bieten, das Sie zu bieten in der Lage sind – eine Aufgabe, die hohe Konzentration erfordert.

Die wachsende Notwendigkeit von Deep Work ist neu. Im Rahmen der Industriegesellschaft war Deep Work entscheidend für ein eng begrenztes Berufsfeld, die meisten Arbeitnehmer jedoch kamen wunderbar zurecht, ohne jemals die Fähigkeit ablenkungsfreier Konzentration kultivieren zu müssen. Sie wurden dafür bezahlt, irgendetwas zu schaffen, und während der Jahrzehnte ihrer Berufstätigkeit unterlag ihre Aufgabe keinen großen Veränderungen. Doch durch den Wechsel zur Informationsgesellschaft haben wir einen zunehmend größeren Anteil an Wissensarbeitern, und Deep Work wird zu einer Schlüsselqualifikation – auch wenn die meisten diese Tatsache noch nicht erkannt haben.

Mit anderen Worten, Deep Work ist keine altmodische Fähigkeit, die an Relevanz verliert. Es ist vielmehr eine maßgebliche Fähigkeit für jeden, der sich in einer weltweiten, wettbewerbsstarken Informationsgesellschaft durchsetzen will, die tendenziell jeden aussortiert, der sein Geld nicht wert ist. Die echte Belohnung wartet nicht auf diejenigen, die sich mühelos bei Facebook zurechtfinden (eine oberflächliche, leicht nachzuahmende Aufgabe), sondern auf jene, die am Aufbau der innovativen Distributionssysteme beteiligt sind, welche der Plattform zugrunde liegen (eine eindeutig konzentrationsstarke, schwer imitierbare Aufgabe). Deep Work ist so wichtig, dass wir es mit den Worten des Business-Autors Eric Barker durchaus als »Supermacht des 21. Jahrhunderts« bezeichnen dürfen.[9]

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Wir haben bis hierhin also zwei Gedankengänge verfolgt – den der zunehmenden Seltenheit von Deep Work und den seines wachsenden Wertes. Verknüpfen wir sie nun zu der Idee, welche die Grundlage für alles schafft, was in diesem Buch folgt:

Die Deep-Work-Hypothese: Die Fähigkeit zu Deep Work ist zunehmend selten und gleichzeitig zunehmend wertvoll in unserem wirtschaftlichen Umfeld. Infolgedessen gehört der Erfolg den Wenigen, die diese Fähigkeit kultivieren und zum Kern ihrer beruflichen Tätigkeit machen.

Dieses Buch hat zwei Zielsetzungen, die in zwei Teilen behandelt werden. Teil 1 soll Sie davon überzeugen, dass die Deep-Work-Hypothese zutrifft. In Teil 2 erfahren Sie, wie Sie von dieser Tatsache profitieren können, indem Sie Ihr Gehirn trainieren und Ihre Arbeitsgewohnheiten so verändern, dass Sie Deep Work zum Kern Ihres Berufslebens machen. Doch ehe wir ins Detail gehen, möchte ich kurz erläutern, wie ich zu einem solchen Verfechter der Konzentrationsfähigkeit wurde.

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Ich habe während der letzten zehn Jahre meine Fähigkeit trainiert, mich auf schwierige Sachverhalte zu konzentrieren. Um die Ursprünge dieses Interesses zu verstehen, sollten Sie wissen, dass ich ein theoretischer Informatiker bin und mich in der legendären Theory of Computation Group am MIT auf meine Dissertation vorbereitet habe – eine Arbeitsumgebung, in der die Konzentrationsfähigkeit als maßgebliche berufliche Qualifikation betrachtet wird.

Während dieser Jahre teilte ich mir ein Büro am unteren Ende des Flurs mit einem Gewinner des MacArthur-»Genius Grant« – einem Professor, der bereits am MIT eingestellt wurde, noch ehe er alt genug war, um rechtmäßig Alkohol zu trinken. Es war keine Seltenheit, dass dieser Theoretiker in unserem gemeinsamen Büro saß und die Zeichen auf einem Whiteboard anstarrte, umgeben von einer Gruppe Studenten auf Besuch, die ebenso still dasaßen und starrten. Das konnte stundenlang dauern. Ich ging zum Mittagessen, ich kam zurück – sie starrten immer noch. Dieser spezielle Professor ist sehr schwer zu erreichen. Er ist nicht bei Twitter, und wenn er jemanden nicht kennt, beantwortet er meist auch dessen E-Mails nicht. Im letzten Jahr hatte er sechzehn Veröffentlichungen.

Diese Art von verbissener Konzentration durchdrang die Atmosphäre meiner Studentenzeit. Es ist also wenig überraschend, dass ich bald eine ähnliche Hingabe an den Tiefgang entwickelte. Zum Verdruss sowohl meiner Freunde als auch der diversen Verleger, bei denen ich meine Bücher veröffentlicht habe, hatte ich niemals einen Facebook- oder Twitter-Account noch irgendeine andere Präsenz in den sozialen Medien mit Ausnahme eines Blogs. Ich surfe nicht im Internet, und Nachrichten erreichen mich meist über die von mir abonnierte Washington Post und das Radio. Auch ich bin im Allgemeinen schwer zu erreichen: Meine Autorenwebsite nennt keine persönliche Mailadresse, und bis 2012 hatte ich kein Smartphone (damals stellte meine schwangere Frau mir ein Ultimatum: »Ehe unser Sohn auf die Welt kommt, musst du ein funktionierendes Telefon besitzen«).

Andererseits hat meine Leidenschaft für die Konzentration mich vielfach belohnt. In den zehn Jahren nach meinem Universitätsabschluss habe ich vier Bücher veröffentlicht, meinen Doktor gemacht, zahlreiche von Experten geprüfte wissenschaftliche Abhandlungen geschrieben und wurde als Tenure-Track-Professor an die Georgetown University berufen. Dieses umfangreiche Pensum bewältigte ich, obwohl ich an Werktagen selten länger als bis 05:00 oder 06:00 Uhr nachmittags arbeitete.

Ein derart straffer Zeitplan ist möglich, weil ich beachtliche Bemühungen darin investiert habe, die Oberflächlichkeit aus meinem Leben zu verbannen und aus der dadurch frei gewordenen Zeit das Bestmögliche zu machen. Mein Tagewerk dreht sich um einen Kern aus sorgfältig ausgewähltem Deep Work, und die oberflächlichen Tätigkeiten, die ich absolut nicht umgehen kann, bilden kleinere Zeitfenster am Rande meines Zeitplans. Drei bis vier Stunden unterbrechungsfreier und bewusst gelenkter Konzentration täglich an fünf Tagen in der Woche können, wie sich zeigt, eine Menge wertvolle Ergebnisse hervorbringen.

Mein Bemühen um Tiefe hat auch nicht arbeitsbezogene Vorteile mit sich gebracht. Insbesondere fasse ich keinen Computer an von dem Moment, da ich von der Arbeit nach Hause komme, bis zu dem Augenblick, da mein neuer Arbeitstag beginnt (mit Ausnahme von Blogbeiträgen, die ich gerne schreibe, nachdem meine Kinder im Bett sind). Diese Fähigkeit, völlig abzuschalten, im Gegensatz zu der häufigeren Angewohnheit, noch schnell ein paar berufliche E-Mails zu lesen oder immer wieder die Social-Media-Seiten zu checken, ermöglicht es mir, abends für meine Frau und meine beiden Söhne da zu sein und für einen zweifachen Vater eine überraschend große Zahl von Büchern zu lesen. Allgemein bildet das Fehlen von Ablenkungen in meinem Leben ein Gegengewicht zu dem nervösen Hintergrundgeräusch mentaler Geschäftigkeit, das den Alltag der Menschen immer stärker zu durchdringen scheint. Ich langweile mich gerne, und das kann eine überraschend lohnende Fähigkeit sein – besonders wenn ich in einer trägen Sommernacht im Radio verfolge, wie sich ein Spiel der Nationals ganz allmählich entfaltet.

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Dieses Buch lässt sich am besten als Versuch beschreiben, meine Neigung zu Tiefgang statt Oberflächlichkeit zu formalisieren und zu erklären sowie die verschiedenen Strategien zu erläutern, die mir dabei geholfen haben, diese Neigung umzusetzen. Zum Teil habe ich meine Gedanken in Worte gefasst, um Sie darin anzuleiten, wie Sie Ihr Leben mit Deep Work neu gestalten können – aber das ist nicht der einzige Grund. Mir liegt auch daran, diese Gedanken auf den Punkt zu bringen und zu verdeutlichen, um meine eigene Praxis weiterzuentwickeln. Meine Wertschätzung der Deep-Work-Hypothese hat mich vorangebracht, aber ich bin überzeugt, noch nicht mein volles Wertschöpfungspotenzial erreicht zu haben. Während Sie mit den Ideen und Regeln der folgenden Kapitel ringen und sie schließlich meistern, können Sie sicher sein, dass ich Ihnen auf dem Fuße folge – gnadenlos im Kampf gegen Shallow Work und gewissenhaft meine Konzentrationsfähigkeit verbessernd. (Im Fazit dieses Buches werden Sie erfahren, wie es mir gelungen ist.)

Als C. G. Jung die Psychiatrie revolutionieren wollte, errichtete er sich einen Rückzugsort im Wald. Jungs Bollinger Turm wurde zu einem Ort, an dem er seine Fähigkeit zum gründlichen Nachdenken aufrechterhalten und sie dann in ein Werk von so verblüffender Neuartigkeit einfließen lassen konnte, dass es die Welt veränderte. Auf den folgenden Seiten werde ich Sie davon zu überzeugen versuchen, mich bei der Errichtung unserer eigenen Bollinger Türme zu begleiten, eine Fähigkeit zu kultivieren, die in einer zunehmend zerfahrenen Welt echten Wert schafft, und eine Wahrheit zu erkennen, die von den produktivsten und wichtigsten Persönlichkeiten vergangener Generationen gestützt wird: Ein Leben mit Tiefgang ist ein gutes Leben.

Teil 1
Die Idee

Kapitel 1: Deep Work ist wertvoll

Als im Jahr 2012 der Wahltag nahte, erhöhten sich die Zugriffe auf die Webseiten der New York Times, wie das in Augenblicken nationaler Bedeutsamkeit üblich ist. Doch diesmal war etwas anders. Ein überdurchschnittlich großer Anteil dieser Zugriffe – einigen Berichten zufolge mehr als 70 Prozent – erfolgte auf eine einzige Seite des umfangreichen Webangebots. Es handelte sich nicht um eine Schlagzeile auf der Titelseite und auch nicht um den Kommentar eines der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Kolumnisten der Zeitung, sondern um den Blog eines Baseball-Statistik-Nerds namens Nate Silver, der zum Wahlorakel geworden war.[10] Kaum ein Jahr später hatten ESPN und ABC News Silver von der Times abgeworben (die ihn zu halten versuchte, indem man ihm einen Mitarbeiterstab von bis zu zwölf Autoren anbot) und ihm einen hervorragenden Vertrag offeriert, der Silvers Beteiligung bei so ziemlich allem umfasste, von Sport über Wetter über Nachrichtenformate bis hin zu – ob man es glaubt oder nicht – Fernsehübertragungen von der Oscar-Verleihung.[11] Es mag zwar einige Diskussionen über die methodologische Sorgfalt der von Hand erstellten Modelle Silvers geben,[12] aber nur wenige bestreiten, dass dieses fünfunddreißigjährige Informationsgenie im Jahre 2012 ein wirtschaftlicher Gewinner war.

Ein weiterer Gewinner ist David Heinemeier Hansson, ein herausragender Computerprogrammierer, der das Web Application Framework Ruby on Rails schuf, derzeitige Grundlage für einige der beliebtesten Internetdienste, darunter Twitter und Hulu. Hansson ist Teilhaber der einflussreichen Entwicklungsfirma Basecamp (die bis 2014 unter dem Namen 37signals firmierte). Er spricht nicht öffentlich über das Ausmaß seines Gewinnanteils an Basecamp oder seinen anderen Einnahmequellen, aber wir können davon ausgehen, dass sie lukrativ sind, wenn wir berücksichtigen, dass Hansson seine Zeit zwischen Chicago, Malibu und dem spanischen Marbella aufteilt, wo er sich als Spitzenautorennfahrer versucht.[13]

Unser drittes und letztes Beispiel für einen eindeutigen wirtschaftlichen Gewinner ist John Doerr, Teilhaber des berühmten Wagniskapitalfonds Kleiner Perkins Caufield & Byers im Silicon Valley. Doerr war an der Finanzierung vieler Schlüsselunternehmen beteiligt, die einen Anteil an der gegenwärtigen technologischen Revolution hatten, darunter Twitter, Google, Amazon, Netscape und Sun Microsystems.[14] Die Gewinne dieser Investitionen sind phänomenal: Doerrs Nettovermögen beträgt zum gegenwärtigen Zeitpunkt über 3 Milliarden Dollar.[15]

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Warum sind Silver, Hansson und Doerr so erfolgreich? Auf diese Frage gibt es zwei Arten von Antworten. Die erste liegt auf der Mikroebene und fokussiert sich auf die persönlichen Eigenschaften und Taktiken, die zum Aufstieg dieses Trios beigetragen haben. Die zweite liegt eher auf der Makroebene, weil sie den Schwerpunkt weniger auf die Individuen legt, sondern mehr auf die Art von Arbeit, die sie repräsentieren. Obwohl beide Ansätze zur Beantwortung dieser zentralen Frage von Bedeutung sind, erweisen sich die Makroantworten als relevanter für unsere Diskussion, denn sie werfen ein besseres Licht darauf, was sich in unserer Wirtschaft als lohnend erweist.

Um diese Makroperspektive zu ergründen, wenden wir uns nun zwei MIT-Wirtschaftswissenschaftlern zu, Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, die in ihrem einflussreichen Buch Race Against the Machine aus dem Jahr 2011 überzeugend darlegen, dass unter den verschiedenen beteiligten Kräften insbesondere der Aufstieg der digitalen Technologie auf unerwartete Weise für eine Verwandlung des Arbeitsmarktes gesorgt hat. »Wir befinden uns in den ersten Wehen einer Großen Umstrukturierung«, erklären Brynjolfsson und McAfee zu Anfang ihres Buches. »Unsere Technologien eilen voraus, aber viele unserer Fähigkeiten und Organisationen hinken hinterher.«[16] Für viele Arbeitnehmer hat dieses Hinterherhinken negative Auswirkungen. Während sich intelligente Maschinen weiter verbessern und die Lücke zwischen maschinellen und menschlichen Fähigkeiten sich verkleinert, greifen Arbeitgeber mit zunehmender Wahrscheinlichkeit auf »neue Maschinen« anstelle von »neuen Mitarbeitern« zurück. Und falls ein Mensch doch unerlässlich ist, machen Verbesserungen der Kommunikations- und Kollaborationstechnologie die Arbeit von beliebigen Orten aus leichter als jemals zuvor, was die Unternehmen dazu motiviert, Schlüsselrollen an Top-Leister zu vergeben – und den Talentpool vor Ort unberücksichtigt zu lassen.

Die Realität ist jedoch nicht ausschließlich negativ. Wie Brynjolfsson und McAfee betonen, führt die Große Umstrukturierung nicht zur vollständigen Abschaffung, sondern stattdessen zu einer Aufteilung der Arbeitsplätze. Obwohl eine wachsende Zahl von Menschen in dieser neuen Wirtschaft zu den Verlierern gehört, weil ihre Fähigkeiten automatisierbar oder leicht auszulagern sind, gibt es andere, die nicht nur überleben, sondern sogar profitieren – die mehr wertgeschätzt (und daher auch besser bezahlt) werden als je zuvor. Brynjolfsson und McAfee sind nicht die Einzigen, die diese zweigleisige wirtschaftliche Entwicklung vorhersagen. 2013 veröffentlichte beispielsweise der George-Mason-Ökonom Tyler Cowen das Buch Average Is Over, in dem er die Theorie einer digitalen Aufspaltung aufgreift. Doch was Brynjolffsons und McAfees Analyse so besonders nützlich macht, ist die Tatsache, dass sie im weiteren Verlauf drei spezifische Gruppen ausmachen, denen der lukrative Teil dieser Spaltung zufällt und die überdurchschnittlich vom Zeitalter der intelligenten Maschinen profitieren. Dabei überrascht es kaum, dass Silver, Hansson und Doerr zufällig diesen drei Gruppen angehören. Lassen Sie uns jede dieser Gruppen betrachten, um besser begreifen zu können, warum sie plötzlich so wertvoll sind.

Die hochqualifizierte Arbeitskraft

Brynjolffson und McAfee bezeichnen die Gruppe, die von Nate Silver repräsentiert wird, als »hoch qualifizierte« Arbeitskräfte. Entwicklungen wie die Robotik und die Stimmerkennung automatisieren viele gering qualifizierte Positionen, doch wie diese Wirtschaftswissenschaftler betonen, »andere Technologien wie die Visualisierung von Daten, die Analytik, die Hochgeschwindigkeitskommunikation und das rasche Erstellen von Prototypen haben die Berechtigung dieser abstrakteren und stärker datenbezogenen Arbeitsweisen vergrößert und den Wert dieser Tätigkeiten erhöht«.[17] Mit anderen Worten, diejenigen mit der rätselhaften Fähigkeit, mit zunehmend komplexen Maschinen zu arbeiten und ihnen wertvolle Ergebnisse zu entlocken, befinden sich im Aufwind. Tyler Cowen fasst diese Realität direkter zusammen: »Die entscheidende Frage wird lauten: Können Sie gut mit intelligenten Maschinen arbeiten oder nicht?«[18]

Nate Silver, der gerne Zahlen in große Datenbanken eingibt und sie dann in seine mysteriösen Monte-Carlo-Simulationen umwandelt, ist natürlich der Inbegriff des hoch qualifizierten Arbeitnehmers. Intelligente Maschinen sind kein Hindernis für Silvers Erfolg, sondern stattdessen seine Grundbedingung.

Die Superstars

Der Top-Programmierer David Heinemeier Hansson ist ein Beispiel für die zweite Gruppe, deren Aufstieg in der New Economy Brynjolfsson und McAfee vorhersagen: Die »Superstars«. Hochgeschwindigkeitsnetzwerke und Kollaborationswerkzeuge wie E-Mails und Software für virtuelle Konferenzen haben in vielen Bereichen der Wissensarbeit zum Niedergang des Regionalismus beigetragen. Es ist beispielsweise nicht länger sinnvoll, einen Vollzeitprogrammierer einzustellen, ganz zu schweigen von den Büroräumlichkeiten, und ihm Zusatzleistungen zu bezahlen, wenn man stattdessen einen der weltbesten Programmierer wie Hansson anheuern kann, gerade genug Zeit zu investieren, um ein aktuelles Projekt durchzuführen. In diesem Szenario erhalten Sie vermutlich für weniger Geld ein besseres Ergebnis, während Hansson viel mehr Kunden pro Jahr annehmen kann und sich daher am Ende ebenfalls besser steht.

Die Tatsache, dass Hansson möglicherweise aus der Entfernung von Marbella in Spanien aus arbeitet, während Ihr Büro sich in Des Moines, Iowa, befindet, spielt für Ihr Unternehmen keine Rolle, denn die Fortschritte der Kommunikations- und Kooperationstechnologie lassen den Prozess nahezu nahtlos ablaufen. (Für den geringer qualifizierten Programmierer, der in Des Moines lebt und auf ein regelmäßiges Einkommen angewiesen ist, spielt diese Realität allerdings sehr wohl eine Rolle.) Derselbe Trend gilt für die wachsende Anzahl von Bereichen, in denen die Technologie eine produktive Telearbeit ermöglicht – Beratung, Marketing, Schreiben, Design und so weiter. Ist der Talentmarkt erst einmal universell zugänglich, gewinnen diejenigen an der Spitze des Marktes, während der Rest verliert. In einer grundlegenden Veröffentlichung des Jahres 1981 ergründete der Wirtschaftswissenschaftler Sherwin Rosen die mathematische Formel, die diesem »The winner takes it all«-Markt zugrunde liegt.[19] Eine seiner Schlüsselerkenntnisse war die explizite Darstellung von Talent – das er in seinen Formeln ganz harmlos mit der Variablen q bezeichnet – als ein »ungenügend substituierbarer« Faktor, was Rosen wie folgt erklärt: »Eine Abfolge von mittelmäßigen Gesangsdarbietungen führt in der Summe nicht zu einer einzelnen herausragenden Leistung.«[20] Mit anderen Worten, Talent ist keine Ware, die man in großen Mengen einkaufen und so kombinieren kann, dass sie die benötigten Dimensionen erreicht: Der Beste zu sein erfordert eine eigene Klasse. Wenn Sie sich daher in einem Markt befinden, in dem der Verbraucher Zugang zu allen Anbietern hat und der q-Wert jedes Einzelnen deutlich erkennbar ist, wird der Verbraucher sich den Allerbesten aussuchen. Selbst wenn der Talentvorsprung des Besten gegenüber dem Nächsten auf der Qualifikationsleiter nur klein ist, räumen die Superstars dennoch den Großteil des Marktes ab.

In den Achtzigerjahren, als Rosen diesen Effekt untersuchte, konzentrierte er sich auf Beispiele wie Filmstars und Musiker, für die es klar umrissene Märkte gab, zum Beispiel Plattenläden und Kinos, und bei denen das Publikum Zugang zu unterschiedlichen Künstlern hatte und ihr Talent genau einschätzen konnte, ehe es eine Kaufentscheidung traf. Der schnelle Aufstieg von Kommunikations- und Kollaborationstechnologien hat viele andere vormals lokale Märkte in einen ähnlich universellen Basar verwandelt. Ein Kleinunternehmen, das einen Computerprogrammierer oder einen Public-Relations-Berater sucht, verfügt jetzt über einen internationalen Marktplatz von Talenten, der vergleichbar ist mit dem Aufkommen von Plattenläden, die es dem kleinstädtischen Musikfan ermöglichten, örtliche Musiker zu umgehen und Alben von den besten Bands der Welt zu kaufen. Mit anderen Worten, dieser Superstar-Effekt hat heutzutage eine größere Reichweite, als Rosen vor dreißig Jahren abschätzen konnte. Eine wachsende Zahl von Individuen in unserer Wirtschaft konkurriert inzwischen mit den Rockstars ihrer jeweiligen Branche.

Die Besitzenden

Die letzte Gruppe, die in der New Economy floriert – jene Gruppe, die durch John Doerr repräsentiert wird –, besteht aus denen, die Kapital in neue Technologien investieren können, welche die Große Umstrukturierung vorantreiben. Wie wir seit Marx wissen, verschafft der Zugang zu Kapital erhebliche Vorteile. Es ist jedoch auch richtig, dass diese Vorteile in einigen Zeitabschnitten größer sind als in anderen. Wie Brynjolfsson und McAfee erläutern, war das Nachkriegseuropa ein Beispiel für eine Zeit, in der es wenig Sinn hatte, viel Bargeld zu besitzen, denn die Kombination aus rapider Inflation und aggressiver Besteuerung ließ alte Reichtümer mit überraschender Geschwindigkeit zusammenschrumpfen (wir könnten das als »Downton Abbey«-Effekt bezeichnen).

Die Große Umstrukturierung ist, anders als die Nachkriegszeit, eine besonders gute Zeit für den Besitz von Kapital. Um die Gründe dafür zu verstehen, sollten wir uns zunächst die Verhandlungstheorie ins Gedächtnis rufen, eine Schlüsselkomponente der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft: Wenn durch die Kombination von Kapitalinvestitionen und Arbeit Geld verdient wird, werden die Gewinne mehr oder weniger proportional reinvestiert. Da die digitale Technologie die Notwendigkeit von Arbeitskraft in vielen Branchen verringert, wächst der Gewinnanteil für diejenigen, denen die intelligenten Maschinen gehören. Ein Wagniskapitalgeber in der heutigen Wirtschaft kann ein Unternehmen wie Instagram gründen, das letztlich für 1 Milliarde Dollar verkauft wurde, und dabei lediglich dreizehn Personen beschäftigen. Wann konnte in der Geschichte jemals ein so kleiner Arbeitsaufwand in einen so riesigen Wert umgewandelt werden? Bei so wenig Einsatz von Arbeitskraft ist der Gewinnanteil, der an die Maschinenbesitzer zurückfließt – in diesem Fall die Wagniskapitalgeber –, beispiellos.[21] Kein Wunder, dass ein Wagniskapitalgeber, den ich für mein letztes Buch interviewt habe, mir etwas verschämt gestand: »Jeder will meinen Job haben.«

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Fassen wir also das bisher Gesagte zusammen: Wie ich dargelegt habe, besagt die gegenwärtige Wirtschaftsphilosophie, dass das beispiellose Wachstum und die zunehmende Bedeutsamkeit der Technologie eine erhebliche Umstrukturierung unserer Wirtschaft erzeugen. In dieser neuen Wirtschaft verfügen drei Gruppen über besondere Vorteile: diejenigen, die gut und kreativ mit intelligenten Maschinen arbeiten können, diejenigen, die in ihrer Tätigkeit die Besten sind, und diejenigen mit Kapitalbesitz.

Natürlich ist diese Große Umstrukturierung, wie sie von Ökonomen wie Brynjolfsson, McAfee und Cowen identifiziert wird, nicht der einzige momentane wirtschaftliche Trend, und die drei oben erwähnten Gruppen sind nicht die einzigen Gruppen, die davon profitieren, doch entscheidend für die Argumentation dieses Buches ist, dass diese Trends, wenn auch nicht allein, wichtig sind, und dass diese Gruppen, auch wenn sie nicht die einzigen Gruppen sind, zu den Gewinnern gehören werden. Wenn Sie sich also einer dieser Gruppen zugehörig fühlen können, werden Sie Erfolg haben. Wenn nicht, haben Sie vielleicht trotzdem Erfolg, aber Ihre Position ist unsicherer.

Wenden wir uns also der offensichtlichen Frage zu: Wie kann man zu diesen Gewinnern gehören? Auf die Gefahr hin, Ihre aufsteigende Begeisterung zu dämpfen, möchte ich zunächst gestehen, dass ich kein geheimes Rezept für die rasche Anhäufung von Kapital und die Nachfolge von John Doerr besitze. (Wenn ich ein solches Geheimrezept hätte, würde ich es wahrscheinlich nicht in einem Buch veröffentlichen.) Die beiden anderen Gewinnergruppen jedoch sind erreichbar. In sie aufgenommen zu werden, ist das Ziel, mit dem wir uns als Nächstes beschäftigen werden.

Wie man in der New Economy zum Gewinner wird