Teil 1 – Wissenschaftliche Prognostik


Kapitel 1 – Die Europäische Union zerbröckelt

Die US-Studie Global Trends 2030 geht über mehrere Seiten auf die Entwicklungen Europas ein. Nach ihrer Einschätzung blüht dem Kontinent eine sehr ungewisse Zukunft. Drei Szenarien werden beschrieben: brutaler Zusammenbruch, langsamer Niedergang und Neuausrichtung.

Laut den Prognostikern ist die Hypothese eines brutalen Zusammenbruchs am unwahrscheinlichsten. Die Auflösung der Eurozone hätte eine Vertrauenskrise der Wirtschaftsakteure zur Folge, die mit massiven Kapitalabzügen reagieren und so den Zusammenbruch des Bankensystems beschleunigen würden. Über eine fatale Krise für den Euro hinaus würden vermutlich die Prinzipien der Freizügigkeit und der wirtschaftlichen Integration der EU vor dem Hintergrund politisch-gesellschaftlicher Proteste und einer Rezession in Frage gestellt.

Die zweite, weniger dramatische Hypothese eines langsamen Niedergangs betrifft den Fall, dass notwendige Strukturreformen scheitern. Selbst wenn die schlimmsten Folgen der Wirtschaftskrise vermieden würden und die EU-Institutionen erhalten blieben, würde das Wirtschaftswachstum bei null verharren, aber vor allem der wachsende Euroskeptizismus zu einer „Renationalisierung der Auslandspolitik der einzelnen Staaten“ führen.

Immerhin beschließt der Bericht seine drei kurzen Vorhersagen zu Europa – auf gerade einmal drei Seiten! – mit einer etwas optimistischeren Note. Dem Prinzip von Krise und Erneuerung folgend, könnte Europa sich auf dem föderalistischen Projekt einer Gruppe zugkräftiger Staaten gründen, das auch die Völker Europas unterstützen. Trotz der Spaltung in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten „würde Europas Einfluss wachsen und dadurch die Rolle Europas und der multilateralen Institutionen auf globaler Ebene gestärkt werden“.16 Wie das geschehen soll, verschweigt der Bericht geflissentlich.

Großmütterchen Europa

Im Jahr 2030 steht es schlecht um die europäische Wettbewerbsfähigkeit, deren Grundpfeiler die Jugend, die Kreativität und das hohe Bildungsniveau der aktiven Bevölkerung, die Hochschulen und die Forschung bildeten. Die europäischen Gesellschaften sind überaltert, halten krampfhaft an ihren alten Gewissheiten fest und kultivieren die Freizeit als letzten Sinn und Zweck. Durch den zunehmenden Konkurrenzdruck insbesondere seitens der indischen, chinesischen, russischen, iranischen, brasilianischen, algerischen und mexikanischen Eliten gehen den europäischen Volkswirtschaften immer mehr Marktanteile verloren. Da die Exportverträge an einen signifikanten Technologietransfer in Richtung der Abnehmer gebunden sind, sehen sich die europäischen Industrien zur „Exzellenz“ gezwungen, um einen nennenswerten Vorsprung zu halten. Der Fachkräftemangel und das Fehlen einer proaktiven Politik lassen die Kunden von gestern, die den ethischen Arbeitsstandards inzwischen Folge leisten, 2030 zu aggressiven Konkurrenten werden. Die Verträge der Unternehmen der Flugzeug-, Raumfahrt-, Pharma-, Rüstungs-, Energie- und Transportindustrie werden nicht mehr auf Englisch, sondern auf Chinesisch und Arabisch abgefasst. Obwohl dies strategische Industriezweige sind, können die Golfstaaten ungehindert einzelne oder sogar sämtliche Flaggschiffe der europäischen Industrie mit Staatsfonds in ihren Besitz bringen – Hauptsache, die Defizite werden ausgeglichen und der immer weniger attraktive Euro wird gestützt.

Der Grexit, ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone, und das damit verbundene Ende der Währungsunion würden unmittelbar zum Verlust der europäischen Einlagen in Athen und zum Anstieg der Defizite um mehrere Prozentpunkte führen. Die kolossalen Verluste würden nicht nur die ohnehin kränkelnden Volkswirtschaften der Länder zusätzlich schwächen, die Folge wäre auch eine Vertrauenskrise in die europäische Währung.

Angesichts des Versagens sämtlicher politischer Lösungen wenden sich die Europäer massiv von der Politik ab. Das Machtwechselspiel auf nationaler Ebene und das demokratische Defizit der Europäischen Union nähren den Populismus und den Euroskeptizismus. Das Problem der Kontrolle der EU-Außengrenzen durch die Mitgliedstaaten zur Eindämmung der illegalen Einwanderung mit „Müll-Schiffen“ über das Mittelmeer wird so drängend, dass Länder wie Italien mit einem Austritt aus dem Schengenraum drohen.

Die Alterung der europäischen Bevölkerung führt zu einer Überrepräsentation der Senioren in der Gesellschaft. Die auf Umlageverfahren beruhenden Rentensysteme kollabieren und stürzen die „Oldie-Boomer“ in prekäre Verhältnisse oder in eine – nicht nur finanzielle – Abhängigkeit von den jüngeren Generationen. Alt werden ist eine Sache, dabei gesund zu bleiben eine andere. Durch Umweltverschmutzung und elektromagnetische Strahlung, der die Menschen fast permanent ausgesetzt sind, nehmen die Krebsraten zu; nicht alle Hilfsbedürftigen können sich die Dienste eines Roboters, der in der Anschaffung sehr teuer ist und dafür vergleichsweise wenig kann, oder einer der seltenen Pflegekräfte leisten. Die wenigen vorhandenen Senioreneinrichtungen können sich nur einige Privilegierte leisten, gleichzeitig müssen viele öffentliche Einrichtungen schließen, weil die Finanzierung nicht mehr gesichert ist. Nicht selten ist das in harter Arbeit ein Leben lang erworbene Vermögen schon nach wenigen Jahren für die Finanzierung eines eher traurig zu Ende gehenden Lebensabends verbraucht.

Konnektivität und Abkapselung

Die mit der digitalen Revolution verbundenen neuen Technologien, die lange Zeit als Domäne der jungen Generationen galten, durchdringen jetzt die Gesamtheit der europäischen Bevölkerung. Die Generation 65+ ebenso wie die 40-Jährigen, die mit diesen Technologien aufgewachsen sind oder seit Jahrzehnten damit leben, haben sie komplett in ihre Lebensweise integriert, die immer stärker von Chips, Displays und virtuellen Anwendungen abhängig ist.

Die Entwicklung der Automatisierung verändert das Verhältnis zum Menschen grundlegend. Die Robotertechnik stellt inzwischen eine glaubwürdige Lösung für das immer drängendere Problem der Abhängigkeit der Senioren dar und bietet erstaunliche Lösungen, von denen alle profitieren. In Erweiterung der E-Dienste schweben leistungsstarke Drohnen durch die Lüfte der Siedlungen und beliefern diejenigen, die nicht mehr in der Lage sind, die Drive-ins anzusteuern, die jetzt fast alle Geschäfte ersetzt haben, mit Paketen und Vorräten.

Künstliche Organe, insbesondere Herzen, beseitigen den leidigen Mangel an Spenderorganen. Exoskelette ermöglichen nicht nur Menschen mit Bewegungseinschränkungen das Gehen, sondern auch gesunden Menschen das Tragen von tonnenschweren Lasten, was für bestimmte Berufe einen großen Fortschritt bedeuten würde. Der wunde Punkt dieser Roboterrevolution ist jedoch, dass dadurch die meisten minderqualifizierten Arbeitsplätze überflüssig werden, während Berufe rund um die Programmierung oder Wartung der neuen Maschinen Hochkonjunktur haben.

Das zwingende Bedürfnis, permanent und überall online zu sein, wird durch die „Chiplementierung“ gelöst, die Einpflanzung eines Chips in den menschlichen Organismus. Der Chip enthält nicht nur den fälschungs- und diebstahlsicheren Personalausweis, sondern auch Lebenslauf, Gesundheitskarte, Bankkarte, Adressbücher, Autoschlüssel, Wohnungsschlüssel usw. und vielleicht sogar die elektronische Fußfessel, die im Zusammenhang mit bestimmten Straftaten angewendet wird. So können besorgte Eltern entsprechende Benachrichtigungen erhalten, wenn beispielsweise ein Pädophiler nach Abbüßen seiner Strafe sich der Schule ihrer Kinder oder ihrem Haus nähert. Das einzige, was diese Entwicklungen aufhalten kann, die bereits im Gange sind, scheinen juristische Gründe zu sein.

Während das Erscheinen der Smartphones in den 2000er Jahren das Verhältnis von Wissen und Erinnerung tiefgreifend veränderte – Gedächtnis- oder Wissenslücken lösten ein hektisches Tippen auf winzigen Displays aus, um eine Antwort im Netz zu finden –, verknüpfen jetzt integrierte Systeme aus intelligenten Brillen und elektronischen Implantaten die Menschen immer stärker untereinander und isolieren sie zugleich voneinander. Die Illusion der permanenten, grenzenlosen Kommunikation geht mit einem Unverständnis der elementarsten menschlichen Beziehungen einher. Weil der Andere über seine digitale Identität nicht zu begreifen ist, wird er immer ein Unbekannter bleiben.

Im Bereich Fortbewegungsmittel bewahrheiten sich die sagenhaften Vorhersagen für das Jahr 2000 von fliegenden oder auf dem Wasser schwebenden Autos nicht, dafür gibt es aber selbstfahrende Autos. Die Entwicklung der Hybrid- und Elektroautos ist von Region zu Region unterschiedlich und hängt insbesondere vom politischen Willen und vom Zugang zu fossilen Rohstoffen ab, die in manchen Gegenden durch die Förderung von Ölsanden und Schiefergas in größeren Mengen verfügbar sind. In den USA beispielsweise verschwindet der Verbrennungsmotor zwar nicht, aber hubraumstarke Spritschlucker kommen aus der Mode, da sie als wenig ökologisch gelten in einem Land, in dem Benzin teuer bleibt.

In Europa und Südamerika fliegt der Schwindel mit den Biotreibstoffen auf. Nicht nur, dass Biokraftstoffe niemals eine ernsthafte Alternative zum Diesel dargestellt haben, weil der für die Produktion erforderliche Input größer ist als der Output, auch der massive Anbau von Soja, Zuckerrohr und Rüben zulasten des Anbaus von Nutzpflanzen zeigt dramatische Folgen. Da deren Anbau kurzfristig weniger rentabel ist, schnellen die Kurse für Getreide und Mais in die Höhe, worauf Aufstände in Brasilien, Mexiko und Afrika ausbrechen. Obwohl die Weltbevölkerung immer weiter wächst und damit auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln steigt, geht paradoxerweise das Angebot an Nahrungsmitteln proportional zurück, sodass es zu Notlösungen wie der Züchtung von Insekten kommt, die medial groß präsentiert werden, um sie schmackhaft zu machen. Da Länder wie Brasilien oder Argentinien über ein großes Agrarreservoir verfügen, wird die Lösung „Futter für Maschinen statt Menschen“ nicht überall aufgegeben. Das „grüne Benzin“ bringt allerdings niemanden mehr zum Träumen.

Der Ausschluss der armen Peripherieländer aus der Währungsunion

Verkörpert Griechenland die Missstände Europas? Indem dieses Land seine Zahlen schönte, um in die Eurozone aufgenommen zu werden, setzte es sich in frevelhaftem Übermut über das rechte Maß hinweg, welches das Schicksal vorgesehen hatte. Für die alten Griechen hatte dieses Verbrechen einen Namen, Hybris, und löste den gerechten Zorn der Götter aus, Nemesis, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen.

Doch nicht nur Griechenland ist mit Vermessenheit geschlagen, sondern die ganze Europäische Union. Gefangen in der Schuldenspirale, unfähig zur Wiederankurbelung der Wirtschaft, die möglicherweise nur eine Abwertung des Euro aus ihrer Lethargie holen kann, gebeutelt von sozialen Unruhen, die den Nährboden für Populismen verschiedenster Couleur bilden, beschließen Athen und Brüssel schließlich eine Scheidung in beiderseitigem Einvernehmen. Natürlich ist die Trennung nicht endgültig: Griechenland bleibt in der EU, aber in einem peripheren Maße, das an Margret Thatchers maximale Forderungen für eine Unabhängigkeit Großbritanniens erinnert.

In der EZB-Zentrale in Frankfurt wird das Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone zum Anlass genommen, um die europäische Einheitswährung grundlegend zu überdenken. Als starke Währung orientiert sich der Euro an der Deutschen Mark17, allerdings hat sich gezeigt, dass die Stabilität dieser Euro-Mark mit den weniger wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften der südeuropäischen Länder, deren Handelsbilanzen traditionell defizitär sind, nicht zu gewährleisten ist. Ausgehend von der Feststellung, dass 20 Jahre Scheitern und Hyperinflation eine Verarmung der privaten Haushalte mit sich gebracht haben, verkleinert sich die Eurozone auf die verlässlichsten Mitglieder. Griechenland und Portugal scheiden als erste aus, gefolgt von Italien, Spanien und Zypern, wo der Rubel sich im Alltag durchgesetzt hat.

Der Euro bleibt zwar eine starke und stabile Währung, doch der Vertrauensverlust der privaten Haushalte ist groß. Um dem massenhaften Abziehen von Kapital vorzubeugen, werden die Spareinlagen der Bürger teilweise eingefroren, außerdem die Finanzströme erheblich beschränkt, um das Bankensystem vor dem Zusammenbruch zu retten. Zum Ausgleich erhalten die Sparer Staatsanleihen, die nur schwer konvertierbar sind und deren Wert vergleichbar ist mit dem von toxischen Wertpapieren, was teilweise zu heftigen Protesten führt. Doch dessen ungeachtet ergreifen die Regierungen sehr unpopuläre Maßnahmen, um das Währungs- und Finanzsystem zu stabilisieren.

Um Steuerstreiks vorzubeugen, erfolgt der Steuerabzug nun allgemein an der Quelle. Dadurch wird eine Steuerreform möglich, um neue Steuerzahler zu generieren. Neben einer Mehrwertsteuererhöhung und der Einführung eines Sonderbeitrags zur Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts kommt es durch die Einführung der Steuerprogression, die 70 Prozent der Haushalte erfasst, zu einer allgemeinen Verringerung der Lasten, da diese jetzt nicht mehr nur von einem Drittel der Steuerpflichtigen getragen werden, von denen sich übrigens viele aus der Mittelschicht der Bewegung der „Steuerflüchtigen“ angeschlossen hatten.

Das Mittelmeer als Bollwerk gegen Migrationsbewegungen

Eine der größten Herausforderungen der 2010er Jahre ist der massive Zustrom von Migranten aus der afrikanischen Vierten Welt, die an den Küsten Europas stranden, nachdem sie tausend Gefahren überlebt haben, an Bord von Schiffswracks, die von Händlern gepachtet werden, die ihr Geschäft mit dem Elend machen. Wie soll man ein so lukratives Geschäft unterbinden, da der einstige Grenzschützer Libyen sich in einen failed State, einen gescheiterten Staat gewandelt hat, durch den die Routen der Schleuser führen, deren Ziel die italienische Küste ist?

Da in der EU die Personenfreizügigkeit gilt, geht diese Problematik, die einen humanitären, aber auch einen Sicherheitsaspekt hat, alle Mitgliedstaaten gleichermaßen etwas an. Terroristen haben die Gunst der Stunde genutzt und sich der Rettungs- und Aufnahmeinfrastruktur für schiffbrüchige Migranten bedient, um nach Europa zu gelangen und Anschläge zu verüben, die die Öffentlichkeit erschütterten. Die EU sieht sich zum Handeln gezwungen und stellt eine Seepolizei auf, die fast den gesamten Marineetat aufzehrt. Die unmittelbare Folge dieses Großaufgebots, das mit dem Aufgebot an Bodentruppen zur Wahrung der europäischen Binnensicherheit vergleichbar ist: Die EU gibt die Hochsee auf und zieht sich auf das Mittelmeer zurück, das alles für ein symbolisches Ergebnis, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt einer EU-Militärintervention gegen terroristische Gruppierungen, die sich in Libyen festgesetzt haben.

In dem Bewusstsein, dass Europa nicht alle Elenden aufnehmen kann, die durch die Sogwirkung einer Politik der systematischen Rettung der Bootsflüchtlinge angezogen werden, muss die Europäische Union ihre Politik grundlegend ändern. Angesichts überfüllter Abschiebezentren und gewalttätiger Zusammenstöße zwischen Einheimischen, die sich in Selbstverteidigungsmilizen organisiert haben, und immer zahlreicher werdender Migranten haben die Entscheidungsträger auf Länder- und auf EU-Ebene drastische Maßnahmen beschlossen. Nach dem Vorbild Australiens, das seine Küsten seit vielen Jahrzehnten hermetisch abriegelt, führt die europäische Marine ein effizientes System ein, um die Migranten auf hoher See abzufangen und systematisch an die afrikanischen Küsten zurückzubegleiten. Ähnlich wie im alten Partnerschaftsvertrag zwischen Libyen unter Gaddafi und Italien enthalten auch die neuen Wirtschaftsvereinbarungen mit den Ländern Nordafrikas Klauseln über die Abriegelung ihrer Küsten und Staatsgebiete gegen Schleuser.

Eurokorps

Durch die Wirtschaftskrise 2018 sahen sich die politischen Entscheidungsträger gezwungen, eine Manövriermasse im Haushalt zu finden. Unter Berücksichtigung der erfolgten Herabstufung haben sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien, denen sich auch Spanien, Italien, Österreich und die Beneluxstaaten angeschlossen haben, für den Weg einer immer engeren Integration ihrer Streitkräfte im Rahmen des umgestalteten Eurokorps entschieden. Dieses neue Eurokorps ist weit davon entfernt, das Instrument einer europäischen Großmacht zu sein, und ersetzt die Deutsch-Französische Brigade, die regionale Spezialisierung und historisches Erbe miteinander verbindet.

Jedes Land hat weiterhin seine eigene Streitmacht, allerdings stark verkleinert (die Landstreitkräfte bestehen aus 60.000 Soldaten), dafür sind die Mittel für die Elite-Spezialeinheiten gebündelt worden. Frankreich konnte nach Einreichung des zigsten Weißbuches die Schule für Luftlandetruppen in Pau retten und als alleiniges Ausbildungszentrum für Fallschirmjägereinheiten in Westeuropa ausbauen, musste aber die Hochgebirgstruppen opfern. Die Gebirgsjägerbrigade ist jetzt in Italien stationiert, vereint französische, österreichische, italienische und deutsche Einheiten und integriert französische und italienische Traditionslinien. Für Kampfschwimmer gibt es ebenfalls nur noch ein Ausbildungszentrum in Italien; die Einrichtung einer EU-Sondereinsatzkräfte-Brigade für die Abwehr von Terrorgefahren ist in Planung.

Der Einsatz der Marineeinheiten der EU-Staaten beschränkt sich nunmehr auf Polizeimissionen an den Mittelmeerküsten, um den täglich wachsenden Zustrom von Migranten aus Subsahara-Afrika einzudämmen. Während Frankreich das Projekt eines zweiten Flugzeugträgers endgültig aufgibt, gehen auf EU-Ebene die Ambitionen nicht über eine ständige Flugzeugträgerkampfgruppe hinaus, deren Lenkwaffenkreuzer vor allem aus französischen und anglo-schottischen Marinehäfen stammen. Die konkurrenzlose französische Marine kann ihre Stellung als erste Marine Europas halten, allerdings ist der Gebäudebestand zunehmend veraltet. Nach der Unabhängigkeit Schottlands 2021 ist London zu einer Revision der britischen Militärstrategie gezwungen. Zum einen befinden sich die wichtigsten Flottenstützpunkte in Schottland, mit dem Großbritannien weiterhin durch ein Verteidigungsbündnis verbunden bleibt, zum anderen hat die Überlassung einiger Überwasserkriegsschiffe an die neue Royal Scottish Navy erhebliche Einsparungen erbracht, wie schon die Streichung von Programmen der Royal Air Force in den 2000er Jahren.

Der Abstieg europäischer Mächte

Deutschland, seit Jahrzehnten die größte Wirtschaftsmacht Europas, vor allem mangels ernstzunehmender Konkurrenz seitens der europäischen Partner, behauptet sich endlich als politische Macht. 85 Jahre nach 1945 sind die letzten Zeugen des Zweiten Weltkriegs und seiner Gräuel gestorben. Die Erinnerung daran ist geblieben, aber die Schuldgefühle, die bei den jungen Generationen nach einer Überdosis der Reue nur schwach ausgeprägt waren, sind so gut wie verschwunden.

Der in unguter Erinnerung gebliebene Militarismus interessiert Deutschland nicht. Zu lange hatten die Deutschen geglaubt, dass der Krieg die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln sei, und sich in ebenso wahnwitzigen wie waghalsigen Unternehmungen aufgerieben. Clausewitz ist tot, Bismarck lebt wieder ein bisschen auf. Doch wozu eine starke deutsche Militärmacht? Frankreich und Großbritannien stellen die nukleare Abschreckung für die EU sicher, ohne dass Berlin eine Euro-Mark dafür ausgeben muss; Deutschland stellt die Polizei für ein Meer, das ihm fremd ist, dafür hält die europäische Marine im Mittelmeer den Zustrom illegaler Migranten vom Land fern; und was die Sicherung europäischer Interessen in Afrika angeht, leisten Bundeswehr und Luftwaffe punktuelle logistische und materielle Hilfe, womit sie sich einen Platz am Verhandlungstisch sichern, aber kein Soldatenleben aufs Spiel setzen.

Deutschlands Hard Power beruht auf der Wirtschaft, aber auch auf der Diplomatie und der deutschen Kultur. Als echtes Gravitationszentrum Europas sucht sich das Land einen neuen Platz. Auch auf die Gefahr hin, die Randstaaten im Westen und Süden Europas zu vernachlässigen, richtet sich Deutschland wieder auf Mitteleuropa aus, baut seine strategischen Partnerschaften mit den baltischen und slawischen Ländern aus und investiert sein Kapital lieber in Russland statt in Griechenland oder in Frankreich. Im europäischen diplomatischen Spiel ist Deutschland führend.

Deutschland profitiert von der Reform der UN-Statuten. Unter dem Druck einiger Großmächte, die damit gedroht haben, außerhalb des Rahmens der UNO zu handeln, wenn ihr Anspruch auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat nicht anerkannt wird, verändert sich seine historisch bedingte Zusammensetzung. Indien, Brasilien und Indonesien werden ständige Mitglieder des Sicherheitsrates, Frankreich und Großbritannien verlieren ihren Sitz, da Europa nur noch mit einem Sitz vertreten ist. Paris und London machten zwar nationale Interessen geltend, mussten jedoch einsehen, dass im Rahmen der Europäischen Union die Positionen Deutschlands die Oberhand gewonnen haben.

In Deutschland selbst verändert sich die demografische Lage. Das Land leidet immer noch unter einem starken Geburtenrückgang, trotzdem stabilisieren sich die Bevölkerungszahlen dank der Anziehungskraft, die das Land auf die jungen Europäer aus den failed States ausübt. Die schwere Wirtschaftskrise, die auf die Auflösung der Eurozone folgt, löst eine Wanderungswelle junger hochqualifizierter Arbeitsloser in Richtung Deutschland aus, wo Anreize für eine gezielte Zuwanderung geschaffen werden.

Schwere Unruhen in Wuppertal

In der Nacht vom 3. auf den 4. November 2029 wurde die ehemalige Industriestadt Wuppertal Schauplatz blutiger Kämpfe. Vorausgegangen war ein Beschluss der Selbstverwalteten Islamischen Länder (SIL), deren Status seit 2028 durch die Verfassung garantiert wird, zwei an der Wupper gelegene Enklaven mit Altdeutschen anzugreifen, weil sie nicht-reuige deutsche Dschihadisten aufgestachelt hatten, die vor rund zehn Jahren aus dem Nahen Osten zurückgekehrt sind. Die Selbstverteidigungsmilizen wurden durch den Raketenbeschuss der Scharia-Polizei18 überrumpelt und mussten die Armee der föderierten Völker (AfV) um Verstärkung bitten, um die Tyrannisierung der Altdeutschen durch die Mehrheitsbevölkerung zu stoppen. Zum ersten Mal kam der Kampfpanzer Leopard 4 zum Einsatz, der in einem Vorort von Ankara vom Band läuft. Im Verlauf der Auseinandersetzungen wurde Mustafa Steinhorst, Unteroffizier der AfV, tödlich verwundet, seine rituelle Enthauptung konnte jedoch verhindert werden. In den rauchenden Ruinen am Rande der SIL ist inzwischen wieder Ruhe eingekehrt.

Das nicht mehr vereinigte Königreich von Großbritannien

„Lebt’ ich so lange nur, beschimpft zu sein? Und bleichten Schlachtenmühn mein Haar nur, dass ich an einem Tag seh’ so viel Lorbeern welken?“19

Wie in Frankreich vermag auch in Großbritannien die Erinnerung an die ruhmreiche Vergangenheit die Illusion einstiger Größe nicht mehr zu retten. Im Jahr 2030 erlebt Großbritannien große politische, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen. Auf politischer Ebene erbringt das zweite Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich eine hauchdünne Mehrheit von Ja-Stimmen. Da viele Kompetenzen bei London bleiben (Währung, Verteidigung, Monarchie), ist die Unabhängigkeit Schottlands vor allem symbolischer Natur, aber sie hat auch weitreichende Folgen für den Haushalt des einstigen Vereinigten Königreichs. Durch den Wegfall der Erdöleinnahmen, die in einen schottischen Fonds fließen, sieht sich London zu drastischen Kürzungen im Sozialetat gezwungen. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie nie zuvor, die Wirtschaft, die überwiegend auf Dienstleistungen und den Finanzplatz London basiert, strauchelt und vor dem Hintergrund von Spannungen zwischen den Communities entlädt sich der soziale Unmut in den Vorstädten, wo die Lage besonders angespannt ist. Das einst so hochgelobte britische multikulturelle Modell steckt in einer Sackgasse, andererseits werden britische und gälische populistische Parteien ins Unterhaus gewählt und schüren ein euro-skeptisches Klima, das radikaler ist denn je. Auf internationaler Ebene nimmt das Vereinigte Königreich eine immer randständigere Position ein. In der Europäischen Union steht Großbritannien isoliert da, bekräftigt weiter seine Forderungen nach Sonderregelungen und pflegt einen aggressiven Euroskeptizismus nach dem knappen Ausgang mehrerer Referenden für den Verbleib in der EU. Unfähig, im Ausland militärisch zu agieren, nachdem die in den Einsätzen im Irak und in Afghanistan ohnehin erschöpften Streitkräfte teilweise abgebaut wurden, scheint Großbritannien alleine dazustehen, umso mehr, als die Vereinigten Staaten sich von ihrem ehemaligen Partner abgewandt haben.

Die Einheit Spaniens bleibt bewahrt

Im November 2014 fand trotz des Verbots durch das spanische Verfassungsgericht eine Volksbefragung über die Unabhängigkeit Kataloniens statt. Katalanische Unabhängigkeitsparteien hatten sie auf den Weg gebracht, weil sie hofften, indem sie auf die Karte der demokratischen Legitimierung setzten, die Dringlichkeit der Abspaltung des Prinzipats zu verdeutlichen. Eine haushohe Mehrheit stimmte mit „Ja“, allerdings waren die Gegner, die der Abstimmung jede Legitimität absprachen, zu Hause geblieben; außerdem entbehrten die Wahlbedingungen – es gab weder Wahllisten noch wurden die Ergebnisse durch unabhängige Stellen kontrolliert – jeder demokratischen Glaubwürdigkeit, was die ganze Veranstaltung mehr zu einem Happening machte.

„Krieg der Klöster, Krieg der Provinzen, Alle wollen ihren Nachbarn verschlingen, Bisse Hungernder auf einem verlorenen Schiff!“20

Wie wird es 2030 um Spanien stehen? Werden Katalonien und das Baskenland ihre Unabhängigkeit erlangt haben? Wenn ja, wird ihre Kaufkraft auf das Niveau von Ländern wie Dänemark oder Schweden aufgerückt sein? Während Spanien:

„Aushaucht in dieser Höhle, wo sein Weg endet,Traurig wie ein Löwe, den das Ungeziefer auffrisst.“21

Dass die „Stierhaut“ tatsächlich zerteilt wird, scheint sehr unwahrscheinlich. Nicht nur, weil Madrid das niemals zulassen wird, sondern vor allem weil die Regionen selbst, die mit der Abspaltung liebäugeln, weder ein ernsthaftes Interesse daran haben noch die Macht, die Unabhängigkeit zu erlangen.

Zum einen ist diese hypothetische Unabhängigkeit nicht mit Waffengewalt zu gewinnen. Die baskischen Terroristen, die die Waffen niedergelegt haben, haben gewaltsames politisches Vorgehen langfristig unglaubwürdig gemacht in einem Land, das die Wunden des Bürgerkriegs noch nicht vergessen hat. Gewalt ist als Mittel völlig inakzeptabel geworden, außerdem wird die von einigen hysterischen Verfechtern der Unabhängigkeit viel beschworene „Unterdrückung durch Madrid“ als lächerliches Hirngespinst abgetan.