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Band 144

 

Verkünder des Paradieses

 

Michael H. Buchholz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: 29. Juni 2051 – Erdmond

1. 29. Juni 2051 – Erde, Terrania Interstellar Spaceport

2. 29. Juni 2051 – Erde, Südost-Terrania, Staatsgefängnis

3. 29. Juni 2051 – Mondnähe, an Bord der LESLY POUNDER

4. 16. Juli 2051 – Erde, Insel Luzon, Stadt Donsol

5. 16. Juli 2051 – Erde, Terrania, Stardust Tower

6. 16. Juli 2051 – Südost-Terrania, Firmengelände GCC Robotics

7. 16. Juli 2051 – Erde, Insel Luzon, Stadt Donsol

8. 30. Juli 2051 –Südost-Terrania, Firmengelände GCC Robotics

9. 14. August 2051 – Erde, Terrania

10. 30. Juli bis 14. August 2051 – Erde

11. 14. August 2051 – Erde, Terrania

12. 14. August 2051 –Südost-Terrania, Firmengelände GCC Robotics

13. 14. August 2051 – Erde, Terrania

14. 26. September 2051 – Erde, Terrania

15. 26. September 2051 – Erde, Terrania, Stardust Tower

Epilog: 29. September 2051 – Io

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. In der Folge beginnt für die Erde ein neues Zeitalter – zuletzt allerdings unterbrochen durch die Invasion übermächtiger Fremdwesen.

Ende Juni 2051 beginnt der Wiederaufbau der verwüsteten Erde. In dieser Situation werden Perry Rhodan, Atlan und Tuire Sitareh von einer unbekannten Macht entführt.

Einzeln werden sie mit einer geheimnisvollen Mission beauftragt – der Suche nach dem geheimnisvolle METEORA. Unabhängig voneinander reisen sie zu ihrem gemeinsamen Ziel, der fernen Zwerggalaxis Sagittarius.

Im Sonnensystem haben sich die Menschen kaum von den jüngsten Heimsuchungen erholen können; da melden sich erneut die Memeter zu Wort. Dabei handelt es sich um Angehörige einer Hochkultur, die vor Jahrzehntausenden auf der Erde existierte. Die Memeter stellen eine unerhörte Forderung – präsentieren sich jedoch zugleich als VERKÜNDER DES PARADIESES ...

Prolog

29. Juni 2051 – Erdmond

Report: Jester Orpheus

 

Er machte den letzten Schritt.

Mit einem kleinen Sprung verließ er die Landerampe und stand auf dem geröllübersäten, staubsandigen Mondboden. Er glaubte, es unter seinen Stiefeln leise knirschen zu hören, aber das war blanker Unsinn, eine Einbildung seiner blühenden Phantasie. Was Geräusche verursachte, war vielmehr sein altersschwacher Raumanzug, dessen knarzende Gelenke die Erinnerung an bessere Zeiten längst aufgegeben hatten. Und das war leider keine Einbildung.

Nicht nur die Gelenke knirschten, auch die Klimaanlage gab seufzende Geräusche von sich, was sie eindeutig nicht sollte. Der Energiepegel der verschiedenen Subsysteme schwankte, es kam zu Aussetzern, mal hier, mal da. Seit zwei Wochen war es für Jester Orpheus zur Frage des jeweiligen Tages geworden, welches Anzugmodul wohl zuerst eine Fehlfunktion meldete. Und wann.

Dass die Ausfälle kamen, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Oder, um einen weniger sakralen Vergleich zu bemühen: Es war so sicher wie die regelmäßigen Spartiraden des Expeditionsleiters, des Kommandanten und Forschungsverantwortlichen Professor Dr. Eduard LaCroix.

Vom Regen direkt in die Traufe.

Darauf lief es letzten Endes hinaus.

Genau das war Jester passiert, und genauso fühlte es sich an. Da half kein Drumherumreden, keine Schönfärberei, kein Selbstbetrug. Die Tatsachen waren unstrittig. Mochten die anderen Besatzungsmitglieder des privaten Forschungsboots MARIE CURIE sich noch so sehr den Anschein geben, als hätten sie den Enthusiasmus höchstselbst erfunden und unlängst erfolgreich zum Patent angemeldet. In Wahrheit litten sie auf die eine oder andere Weise genauso unter den Anwandlungen dessen, was LaCroix unter Führung verstand.

Raumpack. Erfüllungsgehilfen. Gemeingefährliche Ignoranten.

Jester Orpheus wurde übel, wenn er an die dauerhaft blödsinnig grinsenden Gesichter der anderen dachte – von denen keiner Anstalten machte, sich zur Wehr zu setzen. Schwachköpfe. Schönredner. Speichellecker. Idioten allesamt. Jester unterdrückte einen Fluch – das schloss auch ihn selbst ein. Gegen Eduard LaCroix kam selbst er nicht an.

Er stapfte wütend auf, unterschätzte die geringe Schwerkraft und produzierte eine in Zeitlupe ringsum niedersinkende Staubwolke. Er fühlte sich so einsam, wie er war – in weitem Umkreis der einzige Mensch auf Lunas öder Oberfläche. Sein zerschlissener Raumanzug aus arkonidischer Fertigung ächzte bei der Bewegung in den Kniepassen so gequält, dass es einen erbarmen konnte.

Jester versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass er es war, der in diesem Anzug steckte. Es gelang ihm nun natürlich erst recht nicht.

Verdammte Scheiße! Wieder stecke ich in einer Raummontur, wieder bin ich der Gelackmeierte, den sie nach draußen schicken, wieder war ich zu blöd, die Zeichen an der Wand rechtzeitig zu erkennen! Was für eine dreimal verdammte ...

Der Lastkran setzte das Lunarmobil neben ihm ab, eine sechsrädrige, offene Konstruktion aus irdischer Fertigung. Das Gefährt bildete die Ausnahme in ihrer Ausrüstung. Alles andere entstammte arkonidischer Produktion, war mindestens hundert Jahre alt und besaß diesen zerschrammten Used-Look, der nur für die nostalgisch war, die nicht damit umgehen mussten. Und deren Leben nicht davon abhing, dass die Gerätschaften taten, was sie sollten.

Die MARIE CURIE – damals noch als EQU'ENTIS geführt – war schon alt gewesen, als sie im Gefolge des Protektorats ins irdische Sonnensystem gereist war. Dem Vernehmen nach war der 60-Meter-Kugelraumer zuvor das einzige Beiboot eines zum Hilfskreuzer umgebauten Frachters gewesen, der die Auseinandersetzungen zwischen Chetzkel und der Menschheit nicht überstanden hatte. Als die arkonidischen Besatzer 2038 wieder abgezogen waren, hatte man es kurzerhand an ein privates Konsortium der Erde verkauft. Dieses Eignerkonsortium ließ die Korvette in ein Forschungsboot umbauen, was zum Verlust der Waffen und zum Einbau einiger Labore geführt hatte. Von einer eigentlich dringend notwendigen Gesamtüberholung hatten die Eigner indes abgesehen.

Jester kletterte in den Schalensitz des Lunarmobils, winkte in die über ihm in die Kugelaußenhülle der MARIE CURIE integrierten Kameras und meldete sich per Helmfunk ab. Emelie Lynders bestätigte, eine der Studentinnen an Bord während dieser Mission.

Sein derzeitiger Kurs führte ihn nach Süden. Doppelspuren, die vom Kugelboot sternförmig fortführten, kündeten von den zurückliegenden Exkursionen der vergangenen zwölf Tage. Sie waren im Gebiet des Großkraters Apollo gelandet, der über fünfhundert Kilometer durchmaß. Zahllose Beikrater umgaben ihn, vom Zehnmeterloch bis zu echten Ringgebirgen, aufgeworfen von Planetoideneinschlägen vor Millionen von Jahren. Jesters Ziel war ein mittelgroßer namenloser Krater, dessen Wall in rund fünf Kilometern Entfernung begann. Zügig rollte das Lunarmobil darauf zu, von Jester auf Autopilotfunktion geschaltet.

Bis er den Kraterrand erreichte, lief alles gut.

Die Sicht war klar, der Erde präsentierte sich Luna zurzeit als abnehmender Halbmond, was bedeutete, dass auch die Mondrückseite dem Sonnenlicht halbseitig ausgesetzt war. Paradoxerweise war die erdabgewandte Seite, die oft als dunkle Seite des Monds bezeichnet wurde, bis auf zwei Ausnahmen frei von den dunkel gefärbten, sogenannten Maren. Lunas Oberfläche war dort vielmehr deutlich heller und wesentlich zerklüfteter als auf der Vorderseite, die von der Erde aus sichtbar war.

Das Gute ist: Wir haben wenigstens wieder genug Licht, dachte Jester. Noch vor wenigen Tagen hatten die Untersuchungen im Schein der Helm- und Fahrzeuglampen erfolgen müssen. Das Schlechte daran war die Hitze, die nun in seinem Einsatzanzug herrschte. Die Klimaanlage schaffte es nicht, die volle Sonneneinstrahlung auszugleichen. Er blickte auf das Innenthermometer ... Die Temperatur war schon auf unfassbare 42 Grad angestiegen. Dabei war sein Anzug noch der am besten funktionierende des ganzen Forschungsboots. Und bei LaCroix stieß Jester mit seinen Protesten infolgedessen auf taube Ohren.

Jester suchte und fand eine Lücke, einen Pass, auf dem er in langen Serpentinen die innen liegende Kraterwand hinunterkurven konnte. Staubfontänen sprühten unter den mahlenden Niederdruckreifen hervor, und er hätte vielleicht fast Spaß beim Fahren gehabt, doch die heiße Luft im Innern seines Raumanzugs verdarb ihm jegliche Freude.

Auf halber Strecke piepste das Navigationsgerät des Mondmobils eine Funkwarnung.

Jester hielt an, sprang aus dem Sitz und nahm ein Hilfsinstrument aus der Beintasche. Anhand von Landmarken überprüfte er seine Position. Sie wich erheblich ab von den Koordinaten, die das Navigationsgerät des Lunarmobils anzeigte.

Er stampfte abermals wütend auf, steckte missmutig sein Handinstrument ein, kletterte in den Sitz seines Fahrzeugs zurück und musterte den gelandeten Kugelraumer, der inzwischen gut fünf Kilometer entfernt war. Über den Kraterrand sah er nur noch die obere Wölbung des Boots. Sein Weg führte ihn davon fort, abwärts, ins Innere des fast zwanzig Kilometer durchmessenden Kraters hinein, dessen plane Oberfläche nach Ansicht des Bordgeologen ideale Voraussetzungen bot, Staubnachweise der gesuchten Elemente zu enthalten. Er blickte hinter sich, sah nichts als die dunkelgraue Doppelspur des Mondmobils im helleren Grau der sanft abfallenden Kraterwand.

Er seufzte kopfschüttelnd und beschleunigte vorsichtig. Das Gefährt fraß sich weiter den Hang hinab. Einzelne Felsen ergaben eine gedachte, gewundene Linie an Landmarken, der er folgte. Sein Ziel lag im Mittelpunkt der Kraterebene.

Als er die nächste dieser Landmarken erreichte, einen grotesk zersplitterten Brocken irgendwelchen Mondgesteins, warf er erneut einen Blick auf die Positionsanzeige des Fahrzeugs und runzelte die Stirn.

Nach den Angaben auf dem Display war er nicht dort, wo er sich dem eigenen Augenschein zufolge tatsächlich befand.

Was soll das denn heißen, verdammt?

Ihm war ohnehin heiß unter dem Druckhelm. Nun kam die Anspannung hinzu. Die Klimaanlage des Anzugs produzierte zu wenig Innenkühle, oder die Isolation zum Energieerzeuger im Rückentornister hatte Lücken und ließ dessen Abwärme ins Innere strömen, er wusste es nicht. Die verdammte Positronik machte diesbezüglich widersprüchliche Aussagen und weigerte sich, sich auf eine Fehlerquelle festzulegen.

Das wäre wohl zu schön gewesen. Aber schön galt nicht für ihn, Jester Orpheus. Das wusste er spätestens seit Io. Wenn er nur an das wie aus dem Nichts aufgetauchte Maahkschiff zurückdachte, mit dem er damals beinahe kollidiert wäre ...

Er aktivierte den Helmfunk. »Emelie, kannst du mich hören?«

Während er wartete, strich er sich zum wiederholten Mal mit dem Handschuh über das Helmvisier. Doch die Verschmutzung war gar kein Staub, sondern eine Schramme im transparenten Helmmaterial. Na super!

»Klar und deutlich, Jes«, antwortete die Missionskontrolle, namentlich Emelie Lynders, die Lunartic-Studentin aus Terrania.

»Das Navigationsgerät meines Mondmobils spinnt«, sagte er. »Entweder ist das auch schon hinüber, oder es gibt hier irgendwelche energetischen Störungen. Habt ihr was angemessen?«

»Nichts dergleichen, Jes. Ist das ... äh ... schlimm?«

»Wie man's nimmt, Emelie. Laut Positionsanzeige befinde ich mich angeblich mitten in der Kraterwand, innerhalb des Gesteins, etwa siebenhundert Meter von meinem wahren Standort entfernt. Und rund zweihundert Meter tiefer. Was sagt dein Telemetrie-Empfang?«

»Bestätigt dich da, wo du bist – am Rand des Kraters.«

»Wie nah am Rand, Emelie? Etwas genauer, bitte.«

»Warte ... Es sind rund fünfhundert Meter Distanz bis zum Kraterring, Vektor Kratermittelpunkt.«

»Real oder extrapoliert nach dem Drei-D-Geländemodell der Schiffspositronik?«

»Extrapoliert.«

»Und wo ortest du mich, bitte sehr?«

»Lass sehen.« Im nächsten Moment klang ihre Stimme verwundert. »Nanu? Leicht ostverschoben, rund zweihundert Meter näher am Hang.«

»Na super«, knurrte Jester Orpheus nunmehr laut. »Der Mond ist auch nicht mehr das, was er mal war.«

 

Der Dienst auf der zum Forschungsboot umgebauten Korvette war Jesters Ansicht nach das Letzte. Die endgültige Frustrationsobergrenze. Aber er schien der Einzige der aus 28 Frauen und Männern bestehenden Besatzung zu sein, der so dachte. Vielleicht, weil er als ältester und einziger der Studenten an Bord einen Vergleich ziehen konnte.

Nie im Leben hätte er erwartet, dass er sich einmal nach Io und dessen eitergelben Vulkanen und pockennarbigen Ebenen zurücksehnen würde. Dass er seine damals, vor zwei Jahren, immer gleichen Weltraumspaziergänge und Routineflüge mit dem Shuttle mal schätzen würde – und er die Gesellschaft der staubtrockenen und langweiligen Geologen vermissen würde, die ihn, den Unerfahrenen, weder für voll genommen noch Anstalten gemacht hatten, ihn in ihren Kreis zu integrieren.

Keine Frage: Rückblickend war die Zeit auf Io ein Zuckerschlecken gewesen gegen das, was er an Bord der MARIE CURIE erlebte.

Dabei hatte anfänglich alles so gut ausgesehen. Mittlerweile steckte er im vorletzten Semester seines Studiums der Astrophysik, im nächsten Jahr würde er seinen Abschluss machen. Da war ihm die Gelegenheit günstig erschienen, nun, während der Sommerpause, noch ein schnelles, aber förderliches Forschungspraktikum unter der renommierten Leitung von Professor Eduard LaCroix einzuschieben. Eines, das zudem bequem vor der eigenen Haustür stattfand: auf dem Erdmond, genauer auf der erdabgewandten Seite des Trabanten. Der Platz auf der MARIE CURIE war überraschend frei geworden, und Jester hatte kurzerhand zugesagt.

Keine langen Reisen, hatte er gedacht. Schnell hin, volle Konzentration auf die Forschung, schnell wieder weg. Keine monotonen Orbitalsondenmissionen mehr, stattdessen eine klare Fokussierung auf den Nachweis von wichtigen Rohstoffen: Gold, Platin, Iridium und Rhenium.

Ihn hatte sogar ein wenig Goldgräberstimmung erfasst, nachdem er sich für den Einsatz auf der MARIE CURIE eingeschrieben und seine Siebensachen in die winzige Kabine des 60-Meter-Forschungsboots verfrachtet hatte.

Binnen einer Stunde war man von Terrania aus gestartet und vor Ort gewesen, binnen zwei Stunden hatte es Professor LaCroix geschafft, sich bei allen an Bord unbeliebt zu machen, und binnen drei Stunden waren die Sitarakh im irdischen Sonnensystem erschienen und hatten ihr Ultimatum verkündet.

Dumm gelaufen traf es daher nicht mal annähernd.

 

Wütend hieb Jester Orpheus den Beschleunigungshebel des Mondmobils nach vorn. Das Fahrzeug machte einen Ruck und schlitterte der blanken Kraterebene entgegen. Die Wut war Teil seiner täglichen Routine geworden, und nicht zum ersten Mal hing er während der Fahrt seinen frustrierenden Gedanken nach.

Die MARIE CURIE gehörte nicht der Terranischen Flotte an, sondern war ein zivil betriebenes Projekt, dessen diverse Eigner sowohl Sponsoren aus der Wirtschaft als auch Institute mehrerer Universitäten waren. Noch über der Forschung stand daher die Wirtschaftlichkeit – und das in vielerlei Hinsicht. Der Professor hatte bereits während des Flugs zum Mond jedem Studenten deutlich gemacht, dass vor allem die Lukrativität einer möglichen Erzförderung ausgelotet werden sollte.

»Die Ergebnisse unserer Untersuchungen sollen und müssen sich in verwertbare Produkte verwandeln lassen«, hatte LaCroix verkündet. »Das erwarten unsere Geldgeber, und genau das werden wir ihnen liefern. Minimaler Kostenaufwand bei maximalem Ergebnis, lautet das Motto. Halten Sie sich das stets vor Augen. Ich will niemanden dabei erwischen müssen, wie er sich mit Dingen beschäftigt, die nur wenig oder keinen Gewinn versprechen. Verschwendung von Ressourcen werde ich selbstverständlich ebenso wenig dulden.«

Und weil das Unternehmen privat finanziert wurde, gelte es obendrein, zu sparen, wo es nur ging, hatte der Forschungsleiter hinzugefügt. LaCroix hatte jedem Studenten einen detaillierten Einsatzplan überreicht, der so anspruchsvolle Aufgaben wie Schiffsreinigung, Küchendienst, Instandhaltung und Schichtdienst im Schiffsbetrieb umfasste – zusätzlich zu anfallenden Labortätigkeiten, Außeneinsätzen und Dokumentationsarbeiten selbstverständlich. Freie Zeit sei das Gegenteil von Gewinnstreben und von daher auf das absolut Notwendigste reduziert worden. »Im Dienste der Wissenschaft«, hatte er jovial lächelnd ergänzt. Der wahre Grund war: Bis auf den Piloten, den Kopiloten und die anderen für die Schiffsführung unabdingbaren Leute – sechs Personen insgesamt – gab es keine reguläre Crew.

»Dabei nehmen wir selbstverständlich auf Ihre persönlich schon vorhandenen Vorqualifikationen Rücksicht.« Professor LaCroix hatte sich jeden Einzelnen angesehen und dann zuerst auf Jester Orpheus gedeutet. »Sie sind an Bord der Student mit den meisten absolvierten Einsätzen in Raumanzügen«, hatte LaCroix von seinem Pad abgelesen. »Das macht Sie zu unserem Mann im All. Genauer, auf der Mondoberfläche. Sie werden deshalb die praktischen prospektorischen Aspekte während unserer Mission übernehmen. Sie wandeln gewissermaßen in den Spuren Perry Rhodans. – Emelie Lynders, Sie sind als Lunartic-Fachfrau die ideale ...«

Jester hatte nicht mehr zugehört. Mit düsteren Vorahnungen war er in seinem Sitz zusammengesackt.

Raumanzüge ...

Das irritierende Gefühl, zu wissen, was auf ihn zukam, hatte ihn jäh umfangen. Und er hatte nicht mal einen Limonenkaugummi dabeigehabt, um seine Nerven zu beruhigen.

Doch zunächst hatte die Ankunft der Sitarakh sowohl LaCroix' Forschungseifer wie auch Orpheus' diesbezügliche Befürchtungen unterlaufen.

 

Professor Eduard LaCroix, der Statthalter der Eigentümer, wie er sich selbst scherzhaft nannte (Jester wäre jede Wette eingegangen: Es war kein Scherz!), berief sich sofort nach der ersten Verkündigung der Sitarakh auf einen obskuren Eignerbefehl. Gemäß dieser Anweisung – im Gefahrenfalle einer außerirdischen Invasion nach Paragraf Schlag-mich-tot, Absatz Du-mich-auch, Vers Keine-Widerrede – sei die MARIE CURIE nach Möglichkeit aus jeglichen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Ihr Wert an sich sei für das Konsortium sicherzustellen. Schutz des Investments hieß die Parole. Für das Forschungsboot bedeutete das, verkündete LaCroix den verunsicherten Studenten, sie würden fortan absolute Funkstille einhalten und sich bis auf Weiteres tot stellen. Der betagte 60-Meter-Kugelraumer blieb, wo er gelandet war – und gab keinen Muckser mehr von sich.

Doch statt ihre Anwesenheit auf dem Mond wenigstens zu nutzen, verbot LaCroix jegliche Außenmission, weil dies unweigerlich Funkverkehr mit sich gebracht und die Sitarakh, die auf dem Mond schon bald Bautätigkeiten unbekannter Art begannen, eventuell auf sie aufmerksam gemacht hätte. Also blieben die 28 Männer und Frauen in ihrem Raumboot eingepfercht und gingen einander schon bald gegenseitig gehörig auf die Nerven. LaCroix hatte vor, die Krise gleichsam auszusitzen, bis entweder Entwarnung kam oder ein neuer Befehl des Eignerkonsortiums vorlag.

Da der Erdtrabant kein eigenes Magnetfeld besaß, blieb die Besatzung der MARIE CURIE vom Cortico-Syndrom verschont. Als die Sitarakh am 17. Juni wieder abzogen, hatten alle an Bord gehofft, nunmehr zur Erde zurückkehren zu können. Aber sie hatten die Rechnung ohne Professor LaCroix gemacht. Da die MARIE CURIE nicht zur Terranischen Flotte gehörte und aufgrund des Einsatzes der Arkoniden nicht für Rettungsmissionen auf der Erde benötigt wurde, entschloss sich LaCroix, die vorübergehend ausgesetzten Untersuchungen des Mondstaubs auf der Rückseite Lunas wieder aufzunehmen.

Unverrichteter Dinge die Mission abzubrechen, kam für ihn nicht infrage. Der Zeitverlust sei durch doppelte Anstrengungen wieder hereinzuholen.

Und so hatte für Jester Orpheus das begonnen, was er am meisten hasste. Täglich musste er den verdammten Raumanzug anlegen, das Mondmobil besteigen und im Umkreis um die MARIE CURIE Bodenproben auf der Suche nach Gold, Platin, Iridium und Rhenium sammeln, bis er im eigenen Schwitzwasser kochte.

Der Warnton des Anzugseismografen riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.

 

Er stoppte unverzüglich. Das konnte nur eine weitere Fehlfunktion sein. Den Daten nach hatte sich die gesamte Kraterinnenebene bewegt, nur um wenige Zentimeter, aber immerhin. Weder mit den Händen am Steuer des Lunarmobils noch mit seinem schweißnassen Hintern im Schalensitz hatte er etwas davon gespürt. Das Navigationsgerät piepste ebenfalls. Seinen Angaben zufolge fuhr Jester gerade unterhalb der Krateroberfläche. Seine behandschuhten Finger klackten gegen den Helm, als er sich den Kopf kratzen wollte.

Abermals aktivierte er den Helmfunk. Doch statt Emelies Stimme hörte er nur Prasseln im Empfänger. Keine Verbindung kam zustande.

Also doch energetische Störungen, dachte er.

Zum wiederholten Mal kletterte er aus dem Sitz und richtete per Hand das tragbare Instrument zur Positionsbestimmung aus. Das lasergesteuerte Messgerät zeigte nun 1500 Meter Entfernung zum unteren Kraterrand an. Dem Gefühl nach mochte das zutreffen. Aber die widersprüchlichen Angaben des Mondmobil-Navigationsgeräts und des Seismografen bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Noch während er auf das Helmdisplay blickte, kamen Korrekturwerte herein. Nun behauptete sein Langscanner, das gegenüberliegende Ende der Kraterebene hätte sich spontan um fünf Meter angehoben.

»Verdammt!«, sagte er laut. »Ich wollte, ich wüsste, was hier nicht stimmt. – Emelie?«

Nichts.

Jedenfalls nicht im Funk. Dafür spürte er erst sanfte, dann schnellere Vibrationen unter seinen Stiefelsohlen, ein Gefühl, als befände sich der Steinboden plötzlich auf kleinen Kugelrollen, die sich unversehens in Bewegung gesetzt hatten. Bei einem Sechstel der Erdanziehungskraft war das nichts, was ihn ins Schwanken gebracht hätte, aber ...

Erlebe ich gerade den Beginn eines Mondbebens? Schlagartig war es ihm nicht mehr geheuer.

Er setzte sich hinter das Lenkrad, beschleunigte und riss das Lunarmobil jäh herum. Dann trieb er das Gefährt bis auf Maximalgeschwindigkeit und raste auf seiner eigenen Doppelspur zurück. Immer wieder drehte er sich um und hoffte, die schwarzen gezackten Linien, die er nun im hinteren Bereich des Kraters bemerkte, seien nur eine Sinnestäuschung. Aber sie schienen bei jedem Umdrehen länger zu werden. Über ihnen bildeten sich dünne Staubschleier.

An den Gedanken einer Sinnestäuschung klammerte er sich, bis er die Vibrationen des Mondbodens sogar mit dem Lenkrad spürte. Die Niederdruckräder des Fahrzeugs zitterten, als seien sie plötzlich unwuchtig geworden.

Ein abermaliger Blick nach hinten. Inzwischen waren aus den Staubschleiern dichte, wallende Wolken geworden, die aus dem Mondboden aufstiegen.

Sekunden später kamen die ersten harten Stöße. Das Lunarmobil verlor den Bodenhalt, wurde mehr als einmal für Dutzende Meter in die Höhe geworfen. Als das Gefährt wieder Grundkontakt hatte, spürte und hörte Jester die Vibrationen in seinem Anzug, glaubte gar, das Aufbrechen der Mondkruste zu vernehmen.

Ein entsetzter Blick zurück zeigte ihm, dass Glaube hierbei längst keine Rolle mehr spielte.

Der gesamte Krater brach auf, an hundert oder mehr Stellen gleichzeitig. Dichte Staubwolken wallten wie Brandungswellen heran, davor sackte der eben noch feste Mondboden in pfeilschnellen Rissen ein. Ganze Gesteinsplatten hoben sich, stellten sich senkrecht, zerbrachen, mahlten, andere flogen in zeitlupenartigen, gewaltigen Drehungen davon, flohen gleichsam vor dem, was sich da unter ihnen bewegte, sich rührte – oder erwachte.

Jester klammerte sich an sein Lenkrad, drosch das Mondmobil bis zur Überlastung der Zwillingsmotoren den Hang mit der Doppelspur hinauf und registrierte kaum, dass er dabei lauthals betete.

Oben angekommen, raubte ihm der Anblick den Atem. Aus dem zwanzig Kilometer durchmessenden, planen Kraterrund war ein brodelnder See zerbröselnder Felsen geworden, in dem es unentwegt wogte, zu steinernen Eruptionen kam, zu Absackungen, zu aufbrechenden, vormals festen Formationen, die gleichsam davonflossen. Alles war in Bewegung geraten, und der Staub wälzte sich aus dem Zentrum nach allen Seiten wie die Ringe eines eben noch stillen Teichs, in dessen Wasser schwere Steine geplumpst waren.

Grundgütiger!, durchzuckte es Jester.

Noch waren es knapp fünf Kilometer bis zur MARIE CURIE.

Keine Chance, dass er es rechtzeitig bis zum Forschungsboot schaffte. Schon bebten die Außenhänge des Kraters, an manchen Stellen sah Jester spitze Konturen nach unten sacken, sah sie zeitlupenhaft wegbrechen, als hätten sie sich jäh in riesige Eiskolosse verwandelt, die von einem Gletscher kalbten.

Der Krater versank in sich selbst. Oder stand vor einem Ausbruch. Oder ... Bei allen Raumgöttern, Jester hatte keinen blassen Schimmer, was da vor sich ging.

Noch vier Kilometer. Die Staubwolke war inzwischen höher geklettert, war nun eine viele Hundert Meter hohe Wand aus aufgewühltem Regolith und Mondgestein, die hinter ihm herhetzte, als jage sie vorwitzige Forscher in lächerlichen, offenen Wägelchen aus Prinzip, um sie kurz darauf umso sicherer zu verschlingen.

Noch immer keine Funkverbindung. Nur Krachen, Prasseln, Knacken und Pfeifen im Helmempfänger.

Immer schneller schoss das Lunarmobil den sanft abfallenden Hang hinab, eilte mit nie zuvor erreichter Geschwindigkeit auf das Forschungsboot zu, und doch ... Verzweiflung ergriff Jester. Das Fahrzeug war einfach zu langsam.

Hektisch prüfte er die Bereitschaft des Flugaggregats seines Raumanzugs.

Negativ. Die Klimaanlage verbrauchte jedes Quäntchen Energie.

Antigrav? Den konnte er ohnehin vergessen.

Schutzschirm? Ebenfalls negativ.

Noch drei Kilometer.

Hinter ihm wallte es dunkel und drohend heran.

Vor ihm – das konnte nicht sein! – fuhr die MARIE CURIE die Rampe ein. Die Landestützen wurden eingezogen. Die Forschungskorvette schwebte; schwache Korrekturtriebwerksstöße reichten aus, das Boot schnell in die Höhe steigen zu lassen.

Jester schrie unflätiges Zeug.

Die ließen ihn im Stich! Ließen ihn auf der dunklen Seite des Monds glatt verrecken, brachten lieber ihre eigenen Ärsche in Sicherheit.

Neuerliche Mondbodenstöße, stärker als zuvor, hoben das Lunarmobil abermals vom Untergrund ab. Jester verlor die Orientierung, sah nur noch kreiselnde, verschwommene Konturen.

Er kreischte auf, sein Magen hob sich, seine Lungen brannten.

Dann war da vor ihm eine stählerne Wand. Raste dicht an ihm vorbei, er sah vernarbten Stahl, Kanten, Wölbungen.

Déjà-vu! So war es in der Nähe des Jupiters gewesen, als das fremde Schiff ihn fast gerammt hatte.

In seiner Panik bemerkte er das Licht erst, als es ihn blendete.

Im nächsten Moment schloss sich hinter ihm das Außenschott, und die Traktorautomatik setzte ihn auf dem Schleusenboden ab. Ein Servoroboter trug ihn in die Innenkammer, pellte ihn aus dem Anzug, jagte ein Breitbandmedikament in seine Blutbahnen.

Erst da begriff er, dass er gerettet war. Er befand sich wieder an Bord der MARIE CURIE.

»Student Jester Orpheus, melden Sie sich sofort in der Zentrale!«, schallte die Stimme des Expeditionsleiters barsch aus den Akustikfeldern.

Jester wankte in den Expresslift der Polschleuse und berührte das Sensorfeld.

Sekunden später, als sich die Tür zur Zentrale öffnete, kippte er in Emelies Arme.

Eduard LaCroix stand vor dem zentralen Holo. Zitternd, als sei er selbst ebenfalls vom Mondbeben erfasst. »Was ist DAS, verdammt noch mal? Was haben Sie da losgetreten, Sie Riesenidiot?«

Jester, schwankend, gehalten von Emelie, starrte sprachlos auf die dreidimensionale Darstellung.

Ein gigantisches Etwas grub sich langsam aus dem Mondstaub und stieg ebenso langsam in die Höhe. Milliarden Tonnen von bröselndem Mondgestein lösten sich, regneten in Zeitlupe davon herab, fielen in ein lang gezogenes und kilometertiefes Loch im ehemals planen Krater.

Wieder wurde Jester an Io und das aus der Jupiteratmosphäre kommende Maahkschiff erinnert.

Doch gegen das, was er nun sah, war die 400-Meter-Walze damals ein Fliegendreck gewesen. Was da draußen aufstieg, war ... ungeheuerlich.

»Wenn das«, hörte er sich stottern, »ein Raumschiff ist, Professor, dann ... dann ist das ... zweifellos ... das größte ... Raumschiff aller Zeiten.«

Eduard LaCroix warf ihm einen giftigen Blick zu. Er gab dem Piloten ein Zeichen.

Die MARIE CURIE beschleunigte und verließ den Funkschatten des Erdtrabanten.