9

Ich durchwühlte die rings um mich verstreute Outdoor-Ausrüstung nach meiner Nackenlampe, als Jennifer das Büro betrat. Ich hatte gehofft, vor ihrem Eintreffen mit Packen fertig zu sein, damit sie mir nicht wieder die Hölle heißmachte, weil ich alles kurz vor Toresschluss erledigte. Als ich aufblickte, lehnte sie mit verschränkten Armen am Türpfosten.

»Hast du dir meine Umhängelampe ausgeliehen«, fragte ich, »und sie dann nicht wieder zurückgelegt?«

Wir wussten beide, dass sie die Lampe nicht angerührt hatte, aber den Versuch war es wert. Wie üblich suchte ich in letzter Minute meine Ausrüstung zusammen. Sie hatte ihre Sachen natürlich längst säuberlich in einem einzigen kleinen Köfferchen verstaut, bevor sie überhaupt zum Assessment nach North Carolina aufgebrochen war.

»Pike, wenn du weiter als fünf Minuten vorausplanen würdest, müsstest du heute Abend nicht dein ganzes Zeug im Büro ausbreiten.«

Gestern Nachmittag waren wir umgehend zu unserer kleinen Firma nach South Carolina zurückgeflogen. Grolier Recovery Services hatte seinen Sitz in einem Bürogebäude in einer Kleinstadt unweit von Charleston. Wir hatten uns auf die weltweite Unterstützung archäologischer Forschungen spezialisiert. Jennifer verfügte über einen Abschluss in Anthropologie und konnte mit den Wissenschaftlern auf Augenhöhe reden, und ich verfügte über den militärischen Background, um mit jedem ein Wörtchen zu reden, der ein Problem mit den Wissenschaftlern hatte. Wir erledigten alles, angefangen beim Papierkram mit dem Gastgeberland und der US-Botschaft bis hin zum Schutz der Ausgrabungsstellen. Alles aus einer Hand sozusagen. Fehlten nur noch ein paar schmalbrüstige Intellektuelle. Es war eine großartige Tarnung, zumal sie uns eine glaubhafte Begründung dafür lieferte, überallhin zu reisen, wo es etwas von historischer Bedeutung gab. Also so gut wie überallhin auf der Welt.

Man sollte annehmen, dass ein Businessplan mit diesen Parametern von vornherein zum Scheitern verurteilt war – ich meine, mal im Ernst, wie viele Indiana-Jones-ähnliche Expeditionen gibt es wohl, ganz egal zu welchem Zeitpunkt? Aber wir hatten bereits einige Anfragen nach unseren Preisen vorliegen. Die Sensationsmeldungen in den Medien hatten sich als überaus geschäftsfördernd erwiesen.

Mit dem Erlös aus dem Fund eines uralten Maya-Tempels in Guatemala hatten wir das Unternehmen gegründet. Ungefähr 60 Sekunden lang waren wir in allen Nachrichtensendungen präsent. Wer sich ernsthaft für das Thema interessierte, erinnerte sich an uns. Darum rannten uns jetzt angesehene Leute die Bude ein. Nicht dass wir unbedingt Arbeit gebraucht hätten. Immerhin durften wir mit einem Fixgehalt der Taskforce rechnen.

Ich hörte auf, nach der Lampe zu suchen, stopfte alles zurück in den Rucksack und pfefferte ihn in den Schrank in meiner Hälfte unseres winzigen Büros.

Jennifer setzte ihre Sonnenbrille ab. Das Veilchen am rechten Auge war schwer zu übersehen. Der Anblick stürzte meine Empfindungen in tiefe Verwirrung. Ich fühlte mich schuldig, wütend, stolz, wollte sie beschützen und schämte mich, alles gleichzeitig.

»Soll ich deine Tasche überprüfen«, fragte ich. »Um sicherzugehen, dass alles sauber ist?«

Ihr war klar, was ich damit meinte. »Ja, ich schätze schon. Allerdings ist dies meine erste Reise. Was sollte ich da Kompromittierendes dabeihaben?«

»Da ist was dran. Ist wohl die Macht der Gewohnheit. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, dass ich jetzt eine dauerhafte Tarnung habe. Aber du könntest trotzdem mein Gepäck durchsehen, nur um zu überprüfen, dass sich nichts aus meiner Vergangenheit darin findet.«

Sie schnappte sich den Rucksack, zog den Reißverschluss auf und schaute die Innentaschen durch, forschte nach Quittungen, Visitenkarten oder sonstigen Fundstücken, die Anlass zu Fragen geben könnten. Unsere Aufgabe bestand darin, Taskforce-Aktionen zu tarnen. Alles, was wir bei uns trugen, musste diesem Ziel förderlich sein. Nichts durfte auch nur den geringsten Rückschluss auf die Einheit zulassen. Es wäre extrem stümperhaft, den Kontoauszug eines Militärpostens mit sich zu führen, wenn man behauptete, Zivilist zu sein. Solange ich im Einsatz war, war es jedes Mal schwierig gewesen, dafür zu sorgen, dass mein eigentliches Leben auf keinen Fall die Tarnung störte. Es fällt schwer zu glauben, was für einen Mist man mit der Zeit anhäuft. Wer das nicht glauben mag, sollte einfach mal einen Blick in seine Brieftasche werfen. Doch darüber brauchte ich mir nun keine Sorgen mehr zu machen, da mein Leben inzwischen mit meiner Tarnung übereinstimmte. Ich wurde nicht mehr wie ein Ping-Pong-Ball hin und her geworfen, musste nicht mehr bei jedem Auftrag so tun, als wäre ich jemand anders.

Die Leute, die uns begleiteten, waren anders. Wir bildeten das Grundgerüst, das die Taskforce auffüllte. Wir führten eine Liste von Taskforce-Agenten, die als unsere ›Mitarbeiter‹ galten, aber die bekamen wir nur im Einsatz zu sehen, wenn wir eine Operation durchführten. Knuckles und Bull – unsere Mitarbeiter bei diesem Trip – waren diejenigen, die das komplette Risiko trugen. Gott allein wusste, wo sie die letzten sechs Monate verbracht hatten.

Darin bestand, kurz gesagt, der Zweck unserer Reise. Als Unternehmen mussten wir Spuren hinterlassen, Datensätze aufbauen, in denen Taskforce-Personal als unsere Mitarbeiter auftauchten. Dieser kleine Ausflug diente dazu, eine Tarnung zu entwickeln. Weniger schmeichelhafte Ausdrücke dafür lauteten ›Urlaub auf Staatskosten‹ oder schlicht und ergreifend ›Steuergelder verplempern‹.

Im Grunde ging es lediglich darum, dass wir endlich anfangen wollten, die Datenbanken der Fluggesellschaften mit unseren Daten zu füllen. Wir wollten unsere Reisepässe abstempeln lassen und Visitenkarten aus Übersee sammeln. All das, um die Annahme zu stützen, dass wir tatsächlich waren, wer wir zu sein vorgaben. Ein wahrhaft lässiger Job, weil wir nichts unternehmen durften, was unsere Tarnung in Zweifel zog. Und er war in der Tat notwendig, wenn wir jemanden, der Zugang zum Internet hatte, länger als fünf Sekunden hinters Licht führen wollten. Jennifer, die sich wirklich für unseren offiziellen Firmenzweck begeisterte, hatte die Tempelanlage von Angkor Wat in Kambodscha als Ziel auserkoren. Also flogen wir für eine Woche dorthin, mit Knuckles und Bull als unsere ›Angestellten‹.

Während Jennifer sich durch meinen Rucksack arbeitete, fragte sie: »Wie viele Firmen wie uns gibt es eigentlich?«

»Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Eine Menge. So viele, dass wahrscheinlich nur der Controller oder Kurt Hale mit Sicherheit Bescheid wissen. Allerdings macht keine genau dasselbe wie wir. Alle anderen Unternehmen, von denen ich weiß, sind tatsächlich nichts weiter – bloß Firmen mit ihren Angestellten. Wir sind die einzige Firma, die von Agenten gegründet wurde und von Agenten geleitet wird.«

Nachdenklich griff Jennifer sich ans Auge und musterte mich mit einem traurigen, wehmütigen Ausdruck, wie ein Kind, das ewig lange auf ein Spielzeug gespart hat, nur um von der Wirklichkeit enttäuscht zu werden, wenn es endlich geliefert wird, weil es sich lediglich um einen schwachen Abklatsch der Fernsehwerbung handelt.

»Ich glaube nicht, dass jemand in der Taskforce mich für eine Agentin hält.«

Ich bereute meine Wortwahl, denn sie hatte natürlich recht. Es brauchte mehr als ein bisschen Ausbildung und das Assessment Center, um die Jungs für sich zu gewinnen; aber sie befand sich auf dem besten Weg dorthin. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, empfand ich zwar den größten Respekt für ihre Fähigkeiten, doch tief im Innern hatte selbst ich meine Zweifel.

»Bullshit«, überspielte ich das Ganze. »Knuckles hält große Stücke auf dich, er glaubt an dich. Außerdem, wen interessiert schon, was diese Arschlöcher denken? Das Einzige, was eine Rolle spielt, ist das, was du denkst!

Knuckles muss jede Minute hier sein«, wechselte ich das Thema. »Wo willst du mit ihm zu Abend essen? Er war noch nie in Charleston.«

»Ich dachte mir, du könntest mit ihm in Red’s Ice House gehen. Deshalb hast du dieses Büro doch eigentlich gemietet«, lächelte sie. »Damit du zu Fuß nach Hause gehen kannst.«

Sie hatte nicht ganz unrecht. Aufgrund der angeschlagenen Wirtschaftslage war das Büro am Shem Creek im Städtchen Mount Pleasant ein wahres Schnäppchen, wir bekamen es fast geschenkt. Und dass es nur einen Steinwurf von meinem Lieblingslokal entfernt lag, störte dabei nicht.

»Wir gehen hin, wo immer du willst. Keine Bars. Ich werde mich sogar in Schale werfen.«

Sie zog den Reißverschluss meines Rucksacks zu und starrte ihn einen Moment lang an, als lege sie sich eine Erwiderung zurecht. Was dann über ihre Lippen kam, traf mich vollkommen unvorbereitet.

»Pike, ich habe heute Abend schon was vor. Ich treffe mich mit jemandem in der Innenstadt. Ich dachte mir, ein Männerabend wär euch sicher ganz lieb.«

»Schon was vor? Heute Abend? Mit wem?«

»Ach, niemand. Bloß ein Freund vom College, den ich seit meinem Abschluss nicht mehr gesehen habe.«

»Ein Kerl?«

Sie brauchte mir nicht zu antworten. Ihre Miene sprach Bände. Ich fing an, alles, was noch an Ausrüstungsgegenständen herumlag, die ich nicht mitnehmen wollte, etwas heftiger als nötig in einen Seesack zu stopfen. Bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, kam Knuckles durch die Tür. Er schleifte einen Rucksack hinter sich her.

»Hey, Kollegen! Seid ihr bereit für ein bisschen Sightseeing auf Regierungskosten?«

Als er unsere Mienen sah, schob er nach: »Störe ich?«

Mit schlechtem Gewissen fuhr Jennifer auf den Coleman Boulevard Richtung Ravenel Bridge hinaus. Sie wollte sich wirklich bloß mit einem Collegefreund treffen, doch vor Pike hatte sie damit hinter dem Berg gehalten, weil ihr klar war, dass er es bestimmt falsch auffasste. Sie kannte ihn besser, als er glaubte. Sie wusste, was für schreckliche Erlebnisse hinter ihm lagen, und hatte die Dämonen gesehen, die ihn unentwegt heimsuchten. Sie hatte ihn lediglich vor den Qualen bewahren wollen, war aber kläglich gescheitert. Das hatte sie ihm an den Augen angesehen, und sein Schmerz traf sie tief.

Sie wusste, dass Pike durch den Verlust seiner Familie emotional immer noch vollkommen instabil war. Darum ließ sie ihm den nötigen Freiraum. In Wirklichkeit jedoch musste sie mit ihrer eigenen Verwirrung fertigwerden. Ohne jeden Zweifel fühlte sie sich zu Pike hingezogen, doch war sie nicht sicher, ob sie ihren Gefühlen trauen konnte. Im vergangenen Jahr hätte er beinahe sein Leben für sie geopfert. Nicht einmal, sondern gleich zweimal, und zwar auf derart selbstlose Weise, dass es sie zutiefst anrührte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sich dies nicht womöglich auf ihre Gefühle auswirkte. Ob es sich nicht unter Umständen um eine Projektion handelte, weil sie glaubte, sie sei ihm etwas schuldig.

Der Gedanke, den Einstufungstest zu durchlaufen und die Firma zu gründen, war durchaus reizvoll gewesen. Doch anfangs hatte sie daran gezweifelt. Pike ließ jedoch nicht locker, und schließlich willigte sie ein, einfach aus dem Grund, weil er sie gefragt hatte. Nun ja, zum größten Teil jedenfalls. Sie konnte nicht leugnen, dass ein Teil von ihr die Aufregung und die Genugtuung genoss, die der Erfolg einem bescherte. Außerdem hatte Pike ihr versprochen, dass sie keineswegs ausschließlich für die Taskforce arbeiten würden. Sie könnte richtige Forschungen mit echten Wissenschaftlern betreiben. Sie wusste, dass dies lediglich dazu diente, die Tarnung aufrechtzuerhalten, doch das genügte ihr. Allerdings war sie sich nicht ganz sicher, wie Pike in all das hineinpasste.

Ihr wurde klar, dass sie miteinander reden mussten. Um es endlich zur Sprache zu bringen, und zwar ernsthaft. Schwer abzusehen, in welche Richtung sich die Unterhaltung entwickelte.

Das Handy riss sie aus ihren Gedanken. Ein Blick aufs Display verriet, dass der Anruf aus Texas kam. Sie kannte zwar die Nummer nicht, wohl aber die Vorwahl. Kaum hatte sie abgenommen, wünschte sie sich, nicht drangegangen zu sein.

»Hey, Baby! Wie geht’s?«

Mit einem Mal wurde ihr speiübel, die Furcht kehrte zurück, so als sei sie nie weg gewesen.

»Was willst du?«

»Nichts. Nur mal hören, wie es dir geht.«

»Du sollst doch keinen Kontakt zu mir aufnehmen. Unter gar keinen Umständen. Dein Vater hat es versprochen. Du hast es versprochen.«

Ihre Stimme bebte, und sie hasste sich dafür. Du bist nicht mehr das Mädchen, das er damals zusammengeschlagen hat. Du bist eine andere geworden.

»Nun, Dad und ich, wir haben uns gewissermaßen ... überworfen. Das heißt, ich kriege kein Geld mehr aus dem Treuhandfonds, und die Vereinbarungen, die er für mich getroffen hat, interessieren mich nicht länger.«

»Ich habe dir nichts zu sagen. Tschüss!«

»Warte! Okay, reden wir nicht länger um den heißen Brei rum. Im Fernsehen hab ich gesehen, dass du letztes Jahr wohl so eine Art Tempel gefunden und damit eine Stange Geld verdient hast.«

»Ja. Na und?«

»Nun, ich dachte mir, vielleicht wärst du bereit, mir ein bisschen von deinem Glück abzugeben. Nicht viel. Gerade genug, damit dein Ex wieder auf die Beine kommt.«

Sie konnte es nicht fassen. Mit einer solchen Dreistigkeit hatte sie nicht gerechnet.

»Chase, vergiss es. Vergiss diese Telefonnummer und vergiss, dass wir je miteinander verheiratet gewesen sind. Du bekommst keinen Cent von mir.«

»Du kleines Miststück!« Bisher hatte seine Stimme ölig und einschmeichelnd geklungen, nun verriet sein Tonfall blanke Wut. »Ich bitte dich doch bloß um Hilfe. Betrachte es als Kostenerstattung für das ganze Geld, das du ausgegeben hast, solange wir verheiratet waren. Das ist nur fair.«

»Meinst du? Ich leg jetzt auf. Lass mich in Ruhe!«

Damit unterbrach sie sein Gebrüll und schleuderte das Handy auf den Beifahrersitz. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Stimme ihres Exmanns hatte ein wahres Kaleidoskop an Bildern und Gefühlen entfesselt, die sich in ihrem Geist überschlugen. Die Prügel, das Blut und die Kotze. Vor allem jedoch die Angst. Sie war davor weggelaufen und hatte geglaubt, das alles läge endgültig hinter ihr. Doch allein seine Stimme genügte, um alles zurückzubringen.

Allmählich dämmerte ihr, dass sie sich in dem Saloon genauso gefühlt hatte. Zwar nicht ganz so extrem, dennoch hatte sie Angst gehabt angesichts eines ganzen Raumes voller Männer, die es durch die Bank darauf anlegten, sie zu verprügeln. Genau wie ihr Ex. Vielleicht machte es ihnen sogar genauso viel Spaß. Der Unterschied bestand darin, dass sie mittlerweile gelernt hatte, sich zu wehren. Sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, sich durchzuschlagen, dass sie erst jetzt die Verbindung herstellte. Und es widerte sie an.

Die Taskforce sollte doch eigentlich aus lauter Helden bestehen. Anständigen Typen. Sie war Tonto, und der Lone Ranger gehörte zur Taskforce, beide taten sie lediglich, was zum Schutz der Nation unerlässlich war. Sie hatte Pikes selbstlose Seite kennengelernt, ihn jedoch auch auf grenzwertig mörderische Weise erlebt. Sie hatte es auf seine quälende Vergangenheit zurückgeführt. Nun war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Wahrscheinlich lag der Unterschied zwischen Gut und Böse lediglich im Auge des Betrachters. Womöglich sind sie alle so wie mein Ex und haben bloß ein Ventil für ihre Gewalt gefunden.

Zum wiederholten Mal stellte sie sich die Frage, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

10

Es war ein bisschen zu früh, trotzdem verabschiedete Congressman Ellis sich von seiner Sekretärin und verließ das Rayburn Office Building. Er musste noch packen, weil er morgen zur Internationalen Handelsmesse nach Kairo flog, außerdem war er von den Sitzungen geschafft.

Gemächlich schlenderte er die Delaware Avenue entlang, weg vom Kapitol. Als er die Union Station erreichte, Washingtons Hauptbahnhof, schlug sein Herz ein wenig schneller. Entweder würde er gleich feststellen, dass seine Anweisungen weitergegeben worden waren und das Treffen in Kairo feststand oder dass sechs Monate Arbeit umsonst gewesen waren.

Wenn er sich in D. C. aufhielt, wohnte er in einer luxuriösen Eigentumswohnung in einem Wohnkomplex am Judiciary Square, direkt an der Interstate 395, Nähe Massachusetts Avenue. Es hatte eine ganze Zeit lang gedauert, eine Wohnung zu finden, die dicht genug an einer Metrostation lag, um bequem zur Arbeit zu kommen, und er hatte wirklich intensiv gesucht. So lange mussten seine Geschäfte ruhen, und das war ein ziemlicher Ansporn gewesen. Auf gar keinen Fall wollte er Kontakt aufnehmen, solange ein Chauffeur jeden seiner Schritte beobachtete, und jeden Tag einen Spaziergang zu unternehmen, hätte mit Sicherheit ebenfalls Misstrauen erregt.

Wenn er hingegen zu Fuß von der Arbeit nach Hause ging oder öffentliche Verkehrsmittel benutzte, war er lediglich ein Abgeordneter, der umsichtig mit dem Geld der Steuerzahler umging. Er brauchte keinen Fahrer. No, Sir! Lieber bediente er sich der beiden Beine, die Gott ihm gegeben hatte.

Er durchquerte den Bahnhof und nahm die Rolltreppe hinunter zum Food Court. Während er zur Metrohaltestelle Union Station ging, ließ er den Blick über die Wand hinter der nach oben führenden Rolltreppe schweifen. Drei Tische standen davor. Zwischen dem zweiten und dritten, beide von erschöpften Touristen besetzt, die hastig etwas aßen, hatte jemand mit Kreide ein chinesisches Schriftzeichen an die Wand gekritzelt. Ellis erkannte das Symbol für ›Sieg‹ und merkte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Der Transfer konnte über die Bühne gehen.

Wäre es stattdessen das Zeichen für Scheitern gewesen, hätte es ihm signalisiert, dass die Übergabe abgeblasen war. Überhaupt kein Schriftzeichen bedeutete, dass seine chinesischen Kontaktleute die Anweisungen nicht erhalten hatten.

Seit annähernd 40 Jahren arbeitete er nun schon für die Chinesen und fand sie heute noch genauso undurchsichtig wie damals, als er zum ersten Mal Kontakt zu ihnen aufgenommen hatte. Sie beharrten auf dieser vorsintflutlichen Kommunikationsmethode, als lebten sie immer noch in den 70ern. Anfangs hatten sie einfach verschiedenfarbige Kreide benutzt, um ihre Nachrichten zu übermitteln, aber in Washington liefen so viele zwielichtige Geschäfte ab, dass sie eines Tages doch tatsächlich ihre Signale mit denen einer anderen Gruppierung verwechselten. Also waren die Chinesen dazu übergegangen, ganze Schriftzeichen mit Kreide zu malen und hatten unbeirrt daran festgehalten, während alle anderen sich auf Hightech-Methoden verlegten. Sie bestellten etwas zu essen, setzten sich an einen der drei Tische und kritzelten irgendwann, während sie aßen, ihre Botschaft an die Wand. Spätestens innerhalb von 24 Stunden wischte jemand die betreffende Fliese wieder sauber.

Ellis fand dieses antiquierte Vorgehen paradox, zählte es doch zu seinem Auftrag, US-Spitzentechnologie nach China zu transferieren. Er hatte darum gebeten, die Taktik zu ändern und ebenjene Technologie einzusetzen, die er ihnen übereignete. Doch die Chinesen lehnten dies ab. Er nahm an, weil sie wussten, dass niemand ein Kreidezeichen hacken konnte, und weil sie es vorzogen, dass er das komplette Risiko allein trug. Es machte ihm nicht viel aus. Um zur Metro zu gelangen, musste er ohnehin durch den Food Court. Es war also ganz natürlich, dass er jeden Tag hier vorbeikam, und nahezu unmöglich nachzuweisen, dass er etwas anderes tat, als nach Hause zu gehen. Bisher hatte das Risiko sich gelohnt, nur einmal war es knapp geworden, allerdings nicht im Zusammenhang mit Kreidebotschaften.

In den 90er-Jahren waren drei separate chinesische Trägerraketen abgestürzt, die US-Satelliten ins All beförderten. Um zukünftige Verluste zu vermeiden, ließen die amerikanischen Satellitenbetreiber den Chinesen bei deren Raketensystemen Unterstützung zukommen – ohne die ordnungsgemäßen Kanäle des Außenministeriums zur Freigabe potenzieller Militärtechnologie zu bemühen.

Aus dem sich daraus ergebenden politischen Schlagabtausch resultierte ein Ausschuss zur Überwachung chinesischer Industriespionage, der Congressman Ellis einige Bauchschmerzen bereitet hatte. Immerhin wusste er, dass die Abstürze absichtlich herbeigeführt worden waren. Der Technologietransfer hatte in den Satelliten selbst bestanden, die bei den jeweiligen Explosionen angeblich vernichtet worden waren. Zwar wurden sie in der Tat zerstört, nicht jedoch die speziellen Computerchips, die ihre Funktionalität regelten.

Ohne es zu wissen, hätten die Satellitenhersteller ihm mit ihrer dämlichen Datenfreigabe, alles im Namen des Profits, um ein Haar das Genick gebrochen. Natürlich nahmen die Chinesen die Informationen dankend entgegen, erhielten sie auf diese Weise doch einen Zwei-für-Eins-Deal. Ellis war es gelungen, sich in den Untersuchungsausschuss einzuschleusen und die Aufmerksamkeit von seiner Person abzulenken, aber es war verdammt knapp gewesen.

Er betrachtete sich selbst nicht als Spion. Nun ja, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Niemals hätte er militärische oder diplomatische Geheimnisse an die Chinesen veräußert. Nur Technologie. Sollten sie doch sehen, wie sie damit zurechtkamen! Er war nicht naiv. Ihm war durchaus klar, dass diese Informationen zur Weiterentwicklung chinesischer Waffensysteme beitrugen, aber für sich selbst musste er irgendwo eine Grenze ziehen.

Während des Kalten Krieges hatte er als Sachbearbeiter bei der CIA angefangen und begriff schon recht bald, ziemlich abgebrüht, wie das Spiel lief. Mehr war es für ihn auch nicht: bloß ein Spiel. Heute noch Freunde, am nächsten Tag bereits erbitterte Gegner. Und es war auch nicht mit dem Kalten Krieg zu Ende gewesen, sondern einfach nahtlos weitergegangen. Gebt den Afghanen Stinger-Raketen, damit sie sich gegen die Sowjets wehren können, dann marschiert 20 Jahre später in ihr Land ein, während ihr gegen dieselben verdammten Afghanen vorgeht, die wir ursprünglich mal als Verbündete haben wollten. Es war nur ein Spiel und er würde daraus Profit herauskitzeln, nicht anders als Konzerne wie Raytheon, Loral oder Halliburton.

Während er mit dem Aufzug nach oben in seine Wohnung fuhr, überlegte er, welches Risiko er mit seinem jüngsten Wagnis auf sich genommen hatte. Früher hatte er sich stets im Hintergrund gehalten. Eine wichtige Abstimmung hier, da mal ein Unternehmen angestoßen, eine kleine Information über Orte, Zeiten oder Treffen weitergegeben. Heute war er der Mittelsmann, es versetzte ihn in Erregung und bescherte ihm zugleich ein beklemmendes Gefühl.

Vor etwas mehr als anderthalb Jahren hatten die Chinesen ihn wutentbrannt kontaktiert und behauptet, er habe es versäumt, sie vor einer verdeckten Operation im Sudan zu warnen. Damals hatte er ihnen wahrheitsgemäß mitgeteilt, keinerlei Kenntnis von irgendwelchen verdeckten Operationen zu besitzen, die chinesischen Interessen zuwiderliefen. Er war zwar Mitglied des Geheimdienstausschusses, zählte jedoch nicht zur viel gepriesenen Achterbande, der ›Gang of Eight‹, wusste also keineswegs Bescheid über Vorgänge, die als außerordentlich sensibel eingestuft wurden, und das traf auf einen Angriff auf chinesische Vermögenswerte definitiv zu. Auf seinen Widerspruch hin ließen die Chinesen nichts mehr von sich hören, erst Monate später meldeten sie sich mit einer Forderung: Er sollte eine Waffe aufspüren, von deren Existenz sie genau wussten. Muster besorgen und nach China transferieren.

Nie zuvor hatten sie ihm einen Auftrag erteilt. Ja, er betrachtete sich noch nicht einmal als ›Agent‹ der Chinesen. Eher als eine Art Unternehmer. Nachdem er ablehnte, ließen sie ihm eine versteckte Drohung zukommen – noch etwas, was nie zuvor geschehen war. Zwar ärgerte er sich über die Drohung, doch wegen des damit verbundenen Geldes entschloss er sich, weiterzumachen. Seine Führungsoffiziere nannten ihm gewisse Parameter, die er recherchieren sollte, und er begann, indem er die Sitzungen des Geheimdienstausschusses für Nachforschungen nutzte. Er stieß auf das, wonach sie suchten, in der Defense Advanced Projects Research Agency, einer Behörde des Verteidigungsministeriums, die Forschungen für die Streitkräfte durchführte, und stand nun kurz vor dem Abschluss. Innerhalb eines Monats sollte der Transfer über die Bühne gehen.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, woher die Chinesen wussten, wonach er suchen musste, und wie es ihnen gelang, ihm die richtigen Tipps zu geben. Vielleicht gab es noch mehr Leute wie ihn in Amerika, doch das glaubte er nicht. Falls es Leute gab, die die Chinesen mit Informationen über die nötigen Parameter versorgten, weshalb übereigneten sie ihnen nicht einfach das Gerät? Weshalb sollte er Nachforschungen anstellen und dabei riskieren, enttarnt zu werden? Zumindest hätten sie ihm doch mitteilen können, wo genau er suchen musste? Eins war sicher: Wenn diese Sache vorbei war, stieg er aus. Er empfand das Risiko als viel zu hoch. Außerdem behandelten die Chinesen ihn mittlerweile eher wie einen Fußabtreter und nicht mehr wie einen Rockstar, so wie anfangs. Er hatte genug von diesem undankbaren Mist.

Beim Öffnen der Tür kündigte ein Benachrichtigungston seines Blackberry den Eingang einer E-Mail an. Wahrscheinlich eine Änderung im Flugplan.

Er baute eine sichere Verbindung zu seinem Kongress-Account auf und fand eine Nachricht seines persönlichen Referenten vor. Sie war kurz und kam direkt zur Sache: »Sie sagten, ich solle Sie über diesen Typ auf dem Laufenden halten.« Im Anhang befand sich ein Bericht des JPAC. Im Einzelnen ging es um Informationen, die möglicherweise Aufschluss über Christopher Hale gaben, seit 1970 in Kambodscha vermisst. Bei dem Namen empfand Ellis einen Anflug von Nostalgie, wie eine behagliche Decke aus Kindertagen, die man mehr und mehr vermisste, je älter man wurde. Also haben sie ihn schließlich doch noch entdeckt.

Er erinnerte sich noch gut an seine Fassungslosigkeit, als die Nordvietnamesen ihm mitteilten, dass sich ein Spähtrupp in der Gegend befinde. Anfangs hatte er die Warnung einfach nur abgetan, weil er genau über die Ziele jedes einzelnen Aufklärungstrupps im Bilde war. Routinemäßig hatte er die Informationen an die nordvietnamesische Armee weitergeleitet. Der nächste befand sich einen ganzen Tagesmarsch von ihrem Camp entfernt. Als die Schießerei losging, hatte er mit seinen chinesischen Kollegen die Flucht ergriffen, verzweifelt bemüht, der Bombardierung zu entgehen, die jeden Moment folgen musste.

Als er zu seinem Job als Verbindungsbeamter beim Military Assistance Command – SOG zurückkehrte, dem Oberkommando der Spezialeinsatztruppe für unkonventionelle Kriegführung, empfand er zunächst Erleichterung über die Nachricht, dass der gesamte Trupp umgekommen war. Dann hörte er voller Entsetzen, dass ein Mann vermisst wurde. Wochenlang hatte er in Angst gelebt und nur darauf gewartet, dass Chris Hale aus dem Dschungel auftauchte und mit dem Finger auf ihn zeigte. Doch Hale kehrte nicht zurück und mit der Zeit verschwand die Angst. Nur einmal noch, 1973, schnellte sie kurz in die Höhe, als die Nordvietnamesen ihre Kriegsgefangenen freiließen. Chris Hale befand sich nicht unter ihnen.

Bei seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten dachte Ellis schon gar nicht mehr an den Mann, bis der Hype um in Vietnam vermisste Soldaten im Bewusstsein der US-Bevölkerung einen Höhepunkt erreichte. Ellis nutzte seine Stellung als frischgebackener Kongressabgeordneter, um den neuesten Stand bezüglich Hales Status’ zu erfahren, und hatte dies seither jedes Jahr getan, eher aus einer vermeintlichen Verbundenheit zu dem Mann heraus als aus einem sonstigen Grund.

Er öffnete die Datei, nicht ohne einen Anflug von Angst. Die einzigen Gegenstände, die der Bericht auflistete, waren ein Aufklärungsprotokoll und eine Kamera. Er kämpfte gegen die aufkommende Panik an. Unmöglich, dass der Film nach so langer Zeit noch brauchbar ist. Und selbst wenn, sind die Chancen, dass etwas anderes als Bambusbunker darauf zu sehen ist, gleich null.

Aus reiner Neugier googelte er ›alten Film entwickeln‹ und merkte, wie seine Angst zurückkehrte. Anscheinend war es nicht nur möglich, sondern es wurde auch noch ziemlich häufig gemacht. Ganze Webseiten beschäftigten sich mit nichts anderem, als bei Flohmärkten alte Kameras aufzustöbern und die eingelegten Rollen zu entwickeln. Anschließend versuchte man zu bestimmen, wer sich auf den Bildern befand. Es gab Firmen, die sich auf veraltete Materialien spezialisiert hatten und behaupteten, selbst bei Filmen aus dem frühen 20. Jahrhundert Erfolg zu haben.

Er wandte sich erneut dem JPAC-Bericht zu. Zurzeit befanden sich die Gegenstände in der US-Botschaft in Kambodscha. Er sah, dass die Untersuchung den Vermerk Initial trug, was hieß, dass sich vor Ablauf von sechs Wochen niemand darum kümmern würde.

Er schloss das Mailprogramm. Im Moment hatte er zu viel um die Ohren, um sich damit zu befassen. Wenn ich wieder zurück bin, muss ich einfach zusehen, dass ich mir vor der JPAC die Kamera unter den Nagel reiße.

11

Rafik lugte aus dem schmutzstarrenden Fenster des Kentucky Fried Chicken über die wachsenden Scharen ägyptischer Touristen hinweg. Ein junger Mann in weißem Hemd betrat das Café und blickte prüfend auf seine Armbanduhr. Um Punkt eins setzte er sich und nahm seine Sonnenbrille ab. Rafik wartete. Der Mann zog ein zerfleddertes Taschenbuch hervor, blätterte durch die Seiten und legte es schließlich aufgeschlagen, mit der Schrift nach unten auf den Tisch. So weit, so gut. Rafik war dem Kontaktmann der Muslimbruderschaft noch nie begegnet und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er aussah. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, um zu vermeiden, dass er nicht auf einen völlig Fremden zuging oder in eine Falle tappte, und die bestand darin, darauf zu achten, ob seine Kontaktperson die Anweisungen minutiös befolgte.

Als der Mann die Beine übereinanderschlug, machte Rafik Anstalten, aufzustehen, setzte sich dann jedoch abrupt wieder hin, während ihm das Adrenalin durch den Körper schoss. Das linke Bein über das rechte. Nicht rechts über links. Um sich zu schützen, hatte er mit dem Kontaktmann ein Notsignal vereinbart. Sollte der Kontaktmann aufgeflogen sein und unter Zwang zu dem Treffen erscheinen, sollte er das linke Bein über das rechte schlagen. War alles in Ordnung, hieß es rechts über links.

Ungläubig starrte Rafik ihn an, während er im Geist die Kontakte durchging, die zu einer Gefährdung geführt haben könnten. Ihm fielen nur äußerst wenige ein.

Er sah den Mann leicht zusammenzucken und dann die Beine neu überkreuzen, das rechte über das linke Bein. Rafik überlegte. Wahrscheinlich hat der Idiot bloß Mist gebaut. Rafik war klar, dass er jetzt einfach gehen und später wieder Kontakt aufnehmen sollte, aber die Zeit lief ihm davon. Ein neues Treffen zu arrangieren, könnte eine ganze Woche dauern.

Es gab noch einen weiteren Test. Das Buch sollte auf Seite 100 aufgeschlagen sein. Eine beliebige andere Stelle, und er würde verschwinden. Jetzt hinzugehen, war ein Risiko, allerdings kein sehr großes. Falls die Behörden den Kontaktmann umgedreht hatten, würden sie nicht vorschnell zuschlagen, sondern das Treffen erst mal eine Zeit lang andauern lassen, um abzuwarten, was es ihnen an Informationen einbrachte.

Rafik verließ das Kentucky Fried Chicken und schlug einen Bogen, um sich dem Kontaktmann aus dem toten Winkel zu nähern, tat so, als wolle er vorbeigehen, und ließ sich erst im letzten Augenblick auf den Sitz neben ihm gleiten. Ehe der Mann reagieren konnte, schnappte er sich das Buch und stellte fest, dass es auf Seite 100 aufgeschlagen war. Er warf es auf den Tisch. »Ich bin der Falke. Folge mir.«

Ohne sich umzublicken, stand er auf und zwängte sich durch die engen Gassen, die den Food Court umgaben. Darin wimmelte es nur so von Menschen. Zwischen Müllcontainern und Abfällen tauchte er unter. Als er sicher war, dass man sie von der Straße aus nicht mehr sah, drehte er sich abrupt um, während er zugleich ein Messer zückte und den Kontaktmann gegen eine schmierige Bruchsteinmauer stieß.

»Du leerst jetzt deine Taschen aus!«

Der Mann wehrte sich einen Moment, genau so lange, bis die Messerspitze seinen Hals ritzte. Dann gab er nach und tat gar nichts mehr.

Rafik wich einen Schritt zurück. »Ich sagte: Leer deine Taschen aus! Und öffne dein Hemd!«

Wenig später hatte Rafik sich davon überzeugt, dass der Mann weder etwas aufzeichnete noch ein Abhörgerät trug.

»Weshalb hast du das falsche Bein genommen?«

Der Mann schlug die Hände zusammen, als wolle er beten. »Es war ein Versehen. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich wollte es nicht. Ich stehe doch auf Ihrer Seite. Ich gehöre zu Ihnen.«

»Wenn du noch mal so einen Fehler begehst, könnte es gut sein, dass wir alle dabei draufgehen.« Rafik hob das Messer, bis die Klinge einen Millimeter vor dem Auge des Mannes schwebte. »Ich will, dass dir eins klar ist: Wenn so was noch mal vorkommt, wird mit Sicherheit jemand sterben.«

Der Mann zuckte heftig mit dem Kopf, bemüht, zu nicken, ohne sich dabei das Auge ausstechen zu lassen.

»Ich habe mir sagen lassen, du könntest mir helfen, in den El Nozha Airport zu gelangen.«

Der Kontaktmann nickte, sagte jedoch nichts. Offenbar hatte er Angst, zu sprechen.

»Und dass dort ein Flugzeug mit einer speziellen Fracht ankommen wird.«

Abermals nickte der Mann.

»Sag mir etwas, was ich noch nicht weiß«, meinte Rafik entnervt. »Wie will jemand, der so viele Fehler begeht wie du, dazu in der Lage sein?«

»Das Flugzeug trifft in der Nacht ein. Wir wissen nicht, wann genau. 24 Stunden vorher wird mein Vorgesetzter einen Anruf erhalten. Ich gehöre zu der Armee-Einheit, die den Flughafen bewacht. Dort kontrolliert niemand etwas. Ich könnte meiner Mutter eine Uniform anziehen und sie ans Tor stellen. Immerhin ist der Flughafen derzeit außer Betrieb. Eigentlich gibt es dort gar nichts zu bewachen.«

Rafik wusste, dass der in die Jahre gekommene El Nozha Airport seit fast einem Monat geschlossen war und der gesamte gewerbliche Verkehr zum Flughafen Burg al-Arab in der Nähe von Alexandria umgeleitet wurde. Ob dies zu Renovierungszwecken geschah oder ein Dauerzustand war, vermochte Rafik nicht einzuschätzen.

»Und wie kommt es, dass diese Maschine auf einem gesperrten Flughafen landet?«

»Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich hat jemand Bakschisch erhalten. Ich weiß bloß, dass wir bezahlt werden, um für einen Zeitraum von drei Stunden die Pistenbefeuerung einzuschalten. Das Flugzeug wird landen, erledigen, was immer es vorhat, und danach verschwinden.«

All dies war Rafik bereits bekannt, abgesehen von dem dreistündigen Zeitfenster. Damit wurde die Sache verdammt eng.

Er wusste, dass ein privates amerikanisches Flugunternehmen sich das Chaos der gegenwärtigen ägyptischen Regierung zunutze gemacht hatte, indem es mehrere Ministerien bestach, um den heruntergekommenen Flughafen nutzen zu können, ohne dass offizielle Stellen davon Wind bekamen. Na ja, zumindest keine, die nicht auf der Gehaltsliste standen. Außerdem wusste er, im Gegensatz zu diesem Fußsoldaten, welche Fracht die Maschine transportierte. Irgendwann während der sechs Monate komplexer Geheimverhandlungen, die über Mittelsmänner aus dem gesamten ägyptischen Regierungsapparat abgewickelt wurden, hatte jemand offenbart, um was für eine Fracht es sich handelte. Den meisten Beteiligten sagte dies wenig, doch ein Mann, ein weiteres Mitglied der Muslimbruderschaft, hatte die Tragweite begriffen und al-Qaida benachrichtigt. Rafik hatte das Glück gehabt, einer von vielen in der nebulösen Berichterstattungskette zu sein, derer sich das Terrornetzwerk bediente. Eigentlich hätte er seine Erkenntnisse über verworrene Pfade an die al-Qaida-Führung weiterleiten sollen, doch stattdessen beschloss er, damit eigene Pläne zu verfolgen.

Ein halbes Jahr lang hatte er sich die Frage gestellt, ob die Nachricht echt war. Ob sein Plan nicht womöglich auf einem Hirngespinst basierte. Manchmal, wenn er nachts wach lag, hoffte er, es handle sich um einen Schwindel. Die Verantwortung lastete schwer auf ihm, drückte ihn nieder, als trage er eine schmiedeeiserne Kette um den Hals. Er verfügte über keine großartige Organisation wie bin Laden. Außerhalb seines kleinen Zirkels von Männern, die ihm bis in die Hölle gefolgt wären, musste er sich auf fremde Hilfe verlassen. Algerische Verbindungsleute in Montreal, rekrutierte Gefängnisinsassen in den USA und radikale Angehörige der ägyptischen Muslimbruderschaft. Und trotzdem musste er immer noch eine andere Organisation dazu überreden, ihm eine Flugzeugbesatzung zu stellen.

Heute jedoch war all dies vergessen. Das Flugzeug war real, was bedeutete, dass es auch die Fracht wirklich gab. Bald versprach, Inschallah, auch sein Sieg Wirklichkeit zu werden.

12

Bull und Knuckles warteten bereits auf uns, als wir in unser Hotel in Phnom Penh zurückkehrten.

»Irgendwelche Probleme mit der Botschaft?«, wollte Knuckles wissen.

»Nein«, erwiderte ich. »Die wollten noch nicht mal einen Ausweis sehen. Es war komisch. So als könnten sie mir das Zeug gar nicht schnell genug aushändigen.«

»Wahrscheinlich dachten die sich, dass sich keiner einen Namen wie Nephilim ausdenkt.«

»Genau das meine ich. Normalerweise brauche ich eine Viertelstunde, um den Nachrichtenverkehr auseinanderzuklauben, weil irgendein Schwachkopf aus meinem Namen Nicholas oder Nestor macht. Diesmal stand Nephilim auf dem Formular, und als ich sagte, das sei ich, warfen sie mir das Teil geradezu hinterher.«

»Lass mal sehen.«

Ich zog die Nikon, eine Spiegelreflexkamera, aus der Tasche und gab sie ihm. Jennifer packte weiter ihren Koffer und sagte: »Wenn wir schnell genug hier auschecken, kriegen wir noch den heutigen Bus nach Siem Reap. Das ist bloß ein kleiner Umweg und kostet uns noch nicht einmal einen Tag in Angkor Wat.«

Knuckles drehte die Kamera in den Händen und hielt sie sich vors Auge, als wolle er ein Bild aufnehmen. Er spannte den Transporthebel. »Hey, ich glaube, da ist noch ein Film drin.«

»Tatsächlich?« Ich ging zu ihm rüber. »Vorsicht! Mach nichts kaputt.«

Er hielt die Kamera von mir weg. »Ich mach schon nichts kaputt. Ich hol bloß den Film raus.«

Während ich wie eine nervöse Glucke um ihn herumscharwenzelte, klappte er den Rückspulhebel aus und fing an zu kurbeln.

Jennifer stemmte die Hände in die Hüften. »Kommt schon, Jungs, packt eure Sachen. Im Bus habt ihr immer noch genug Zeit, an dieser Kamera rumzufummeln. Bull, kannst du den Laptop einpacken?«

»Mach’s nicht mit Gewalt«, sagte ich. »Wenn sich der Film nicht zurückspulen lässt, lass es bleiben.«

»Ich mach’s nicht mit Gewalt. Krieg dich mal wieder ein.« Er kurbelte weiter, bis wir beide hörten, dass der Stift sich ohne Widerstand drehen ließ. Er lächelte. »Siehst du? Fertig!«

Damit klappte er die Rückwand der Kamera auf und nahm einen hochauflösenden TRI-X-Film von Kodak heraus. »Packt eure Sachen, bitte«, drängte Jennifer entnervt. »Sonst verpassen wir noch den Bus.«

»Ja«, sagte Bull hinter ihr, »packt euren Kram ein. Aber macht euch wegen dem Bus keine Sorgen.«

Er war gerade dabei, unsere Firmen-Webseite zu begutachten, und hatte über eine VPN-Verbindung die zwischenzeitlich eingegangenen E-Mails aufgerufen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Wir haben soeben einen Auftrag erhalten.«

24 Stunden später saß ich in einem Café in Jakarta, Indonesien, und spielte mit meinem Smartphone herum. Jennifer saß mir gegenüber und wirkte leicht verärgert. Das konnte ich ihr nicht verübeln. Wir hatten Kambodscha umgehend den Rücken gekehrt, ohne Angkor Wat überhaupt aufzusuchen, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden wir nicht dorthin zurückkehren.

»Ich dachte, so etwas wäre uns untersagt, bis unsere Firma etabliert ist«, meinte sie.

»Tja, normalerweise schon, aber es geht immer auch um das damit verbundene Risiko. In diesem Fall dürfte es äußerst gering sein. Wahrscheinlich etwas Simples, das Johnny aus irgendeinem Grund lieber nicht selbst erledigen möchte.«

Alles, was wir über die VPN-Verbindung erfahren hatten, war, dass Johnny – das hieß Johnnys Team – ein wenig Unterstützung brauchte, dazu die Adresse eines Cafés nebst einer Zeitangabe. Weil wir unterschiedliche Tarnungen hatten, würde Johnny uns nicht direkt kontaktieren, sondern so etwas wie einen toten Briefkasten benutzen, allerdings auf digitale Art. Wir bekamen niemanden aus seinem Team zu Gesicht. Jemand schickte uns im Vorbeigehen oder -fahren einfach von einem Smartphone aus mittels einer verschlüsselten Bluetooth-Verbindung eine Nachricht. Anders als bei einer SMS, einer E-Mail oder einem Anruf hinterließ diese Übertragungsart keinerlei Spuren, über die sich ein Zusammenhang zwischen beiden Kommunikationspartnern herstellen ließ.

»Was, wenn es nichts Simples ist? Vielleicht geht es ja um etwas, das unsere Firma gefährden könnte. Wirst du’s dann trotzdem tun?«

»Es kommt drauf an. Das werde ich erst wissen, wenn es so weit ist. Du weißt ja sowieso, wie ich die Sache einschätze. Die Firma ist nur ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck an sich. Wenn du anfängst, dir zu viele Sorgen um diesen Mist zu machen, bist du irgendwann wie gelähmt und bringst vor lauter Angst, dass irgendetwas auffliegen könnte, gar nichts mehr zustande.«

Es ist schon lange her, da wäre einer meiner Teamkollegen beinahe draufgegangen, weil eine andere Regierungsbehörde sich weigerte, Hilfe zu leisten. Er kam davon, aber im After Action Review, der Teambesprechung unmittelbar im Anschluss an den Einsatz, stellte sich heraus, dass man uns hängen gelassen hatte, weil die andere Agency befürchtete, ihre Tarnung könnte auffliegen. Die Methode, die die Operation ermöglichen sollte, war an die Stelle der Operation getreten. Damals fasste ich den Entschluss, eine entscheidende Mission niemals von der Tarnung behindern zu lassen. Ich hatte nicht vor, Dummheiten zu begehen, aber auf keinen Fall ließ ich mich in eine handlungsunfähige Lage manövrieren.

»Yeah«, meinte sie, »ich weiß, was du mir erzählt hast. Aber wir haben noch nicht mal angefangen, und schon könnte es passieren, dass wir die Arbeit von sechs Monaten zunichtemachen. Das sollte man doch wenigstens bedenken, oder?«

Anscheinend fragte sie sich, ob ich immer noch so unberechenbar wie damals bei unserer ersten Begegnung war. Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, ging der Vibrationsalarm meines Handys los.

»Die Nachricht ist eingetroffen.«

Jennifer wirkte ein wenig überrascht, dann schickte sie ihren Blick auf Wanderschaft, um den Absender zu entdecken. Mir war klar, dass sie nicht die geringste Chance hatte.

Die Nachricht bestand aus einer Ortsangabe für einen real existierenden toten Briefkasten. Ich rief Knuckles an und gab ihm die Wegbeschreibung durch.

»Stand da so was drin wie ›falls Sie freundlicherweise akzeptieren‹ oder was Ähnliches?«, fragte Jennifer.

Ich lächelte. »Nein! Bringen wir Bull und Knuckles ihren Kaffee mit und schauen wir, was es mit dem Ganzen auf sich hat.«

Bis wir ins Hotel zurückkehrten, hatte Knuckles den toten Briefkasten bereits überprüft und von dort einen verschlüsselten USB-Stick mitgebracht. Er steckte ihn in unseren Computer und starrte gespannt auf den Monitor.

»Und?«, fragte ich. »Worum geht es?«

»Nichts Großartiges! Wie es aussieht, ist Johnny einem Typ namens Noordin Sungkar auf der Spur. Er betreibt eine Reiseagentur nebst Airline hier in Jakarta. Es heißt, dass er Jemaah Islamiyah unterstützt.«

Jemaah Islamiyah – beziehungsweise JI, wie wir sie intern nannten – war eine indonesische Terrorgruppe, die mit al-Qaida in Verbindung stand. Wie alle al-Qaida nahestehenden Fanatiker wollten sie einen auf der Scharia aufbauenden Islamischen Staat errichten und sprengten ständig irgendwo etwas in die Luft, um dieses Ziel zu erreichen. Das Massaker von Bali, bei dem 2002 über 200 unschuldige Touristen ums Leben gekommen waren, ging auf ihr Konto.

»Okay«, meinte ich. »Und was heißt das für uns?«

»Nun, sie versuchen schon seit geraumer Zeit, etwas gegen diesen Kerl in die Hand zu bekommen. Sie beobachten sie jetzt seit über zwei Wochen. Bisher ohne Ergebnis. Alles, was sie von uns wollen, ist, dass wir mal reingehen und nachsehen, ob wir bestätigen oder widerlegen können, dass er überhaupt dort arbeitet. Sie wollen Bescheid wissen, ob es Zeitverschwendung ist, das Gebäude weiterhin im Auge zu behalten.«

»Ich versteh immer noch nicht, weshalb sie uns dafür rufen. Einfach reingehen, um Himmels willen!«

»Das ganze Haus ist voller Überwachungskameras. Falls sie den Kerl hier in Indonesien hochnehmen müssen, wollen sie auf keinen Fall eine Nummer wie in Dubai abziehen.«

Vor ein paar Jahren war in Dubai ein Hamas-Führer namens al-Mabhuh umgelegt worden. Da er offen zugegeben hatte, 1989 zwei israelische Soldaten eiskalt ermordet zu haben, stand der israelische Geheimdienst Mossad ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Wer immer dahintersteckte, stellte es ziemlich geschickt an. Die Täter waren bereits außer Landes, aber die Polizei von Dubai kam ihnen trotzdem auf die Spur, indem sie, angefangen beim Hotel des Toten, jedes Überwachungsvideo der gesamten Stadt auswerteten und wie bei einem Puzzle zusammenfügten, wer was getan hatte. Als sich herausstellte, dass die Killer gefälschte Pässe aus EU-Ländern benutzt hatten, wuchs sich das Ganze zu einer handfesten diplomatischen Krise aus. Überdies ließ Dubai die Passfotos der Killer in weltweiten Nachrichtensendungen verbreiten, sodass jeder ihre Gesichter kannte. Johnny befürchtete, das Gleiche könnte ihm passieren, darum wollte er ausschließen, dass man mittels Überwachungsaufnahmen eine Verbindung zwischen seinem Team und der Zielperson herstellte. Was mir durchaus vernünftig vorkam.

»Er will also nichts weiter von uns, als dass wir reingehen und bestätigen, ob der Kerl sich dort aufhält?«

»Yep! Und ich will es nicht machen, aus dem gleichen Grund wie Johnny. Es könnte passieren, dass der Kerl in zwei Monaten meine Zielperson ist.«

»Ich möchte auch nicht, dass du es tust. Ich möchte, dass Jennifer es macht.«

Jennifer sprang auf. »Ich? Ich bin doch kein ... Ich gehöre nicht zur Taskforce.«

»Was bist du nicht?«, wollte ich wissen.

»Die Idee ist gut«, meinte Knuckles. »Es ist ein Reisebüro, also musst du den Leuten nicht mal was vorspielen. Such dir irgendwelchen antiken Mist hier in Indonesien aus, den wir besichtigen können. Das müsste dir doch Spaß machen.«

Ihr Blick wanderte von Knuckles zu mir, dann zu Bull, der grinsend nickte.

»Herr im Himmel! Was für ein unreifer Haufen! Zeigt mir mal die genauen Instruktionen.«