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Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Festa-epub.tif

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe American Assassin

erschien 2010 im Verlag Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2010 by Vince Flynn

Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Dean Samed

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-456-0

www.Festa-Verlag.de

Festa-epub.tif

Für die Opfer des Lockerbie-Terroranschlags

auf Pan-Am-Flug 103

und ihre Familien

PROLOG

Beirut, Libanon

Mitch Rapp betrachtete sich in dem staubigen, an mehreren Stellen gesprungenen Spiegel und stellte seine geistige Gesundheit ernsthaft infrage. Weder zitterte er, noch hatte er feuchte Hände. Er war auch nicht nervös. Er nahm lediglich eine kühle, analytische Einschätzung seiner Fähigkeiten und Erfolgschancen vor. Er ging den Plan noch einmal von vorn bis hinten durch und gelangte erneut zum Ergebnis, dass er aller Voraussicht nach übel zugerichtet, schwer gefoltert oder möglicherweise sogar tot aus der Sache herauskam. Trotzdem konnte er sich nicht dazu durchringen, den Einsatz abzubrechen. Und damit schloss sich der Kreis hin zu der Frage, ob er noch ganz richtig im Kopf war. Was für eine Art Mensch musste man sein, um so etwas freiwillig zu tun? Rapp dachte ausgiebig darüber nach und entschied dann, dass ein anderer diese Frage beantworten musste.

Jeder sonst schien sich damit zu begnügen, die Hände in den Schoß zu legen, aber das passte nicht zu Rapp. Eine unangenehme Truppe namens Islamischer Dschihad hatte zwei seiner Kollegen in den Straßen von Beirut in die Finger bekommen. Ein verlängerter Arm der Hisbollah, der auf Entführungen, Folter und Selbstmordattentate spezialisiert war. Die Dschihads hatten ohne jeden Zweifel längst mit dem Verhör ihrer jüngsten Gefangenen begonnen. Sie würden die Männer unaussprechlichen Schmerzen aussetzen und sie wie eine Zwiebel Schicht für Schicht abschälen, bis sie bekamen, was sie wollten.

So lautete die brutale Wahrheit und wenn seine Kollegen sich an den Glauben klammerten, dass es in ihrem Fall anders lief, bestätigte das allenfalls, dass sie sich bewusst oder unbewusst auf eine tröstliche Verzerrung der Realität einließen. Nachdem er einen Tag lang mit angesehen hatte, dass exakt die Leute absolut nichts taten, die vorher zugesichert hatten, sich um die Situation zu kümmern, beschloss Rapp, selbst eine Lösung für das Problem zu finden.

Gut möglich, dass die Bürokraten vom Auswärtigen Dienst in Washington es für ausreichend hielten, der Angelegenheit ihren natürlichen Gang zu lassen. Rapp tat das nicht. Er hatte zu viel durchgemacht, um hinzunehmen, dass seine Tarnung aufflog. Darüber hinaus ließen sein Ehrgefühl und sein Stolz als Krieger es nicht zu, untätig zu bleiben. Er war zusammen mit diesen Jungs durch die Hölle gegangen. Den einen respektierte, bewunderte und mochte er. Den anderen respektierte, bewunderte und hasste er. Der Drang, etwas zu unternehmen, irgendetwas, um sie zu retten, war ungeheuer stark.

Die Bande in Washington mochte es hinbekommen, sie als anonyme Agenten und Opfer der Schlacht abzuschreiben, aber die Leute, die selbst im Schützengraben kauerten, nahmen das Ganze ungleich persönlicher. Krieger mögen es überhaupt nicht, ihresgleichen durch die Hand des Feindes sterben zu sehen, weil sie insgeheim wissen, dass sie selbst eines Tages in exakt die gleiche Lage geraten könnten. Und, weiß Gott, sie setzten voraus, dass ihre Regierungsvertreter Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um sie heil nach Hause zu holen.

Rapp beäugte sein fragmentiertes Spiegelbild: ein dichter, ungekämmter Schopf schwarzer Haare mit Bart, gebräunte olivfarbene Haut und dunkle Augen, die fast schwarz wirkten. Er konnte sich inmitten der Feinde bewegen, ohne einen misstrauischen Blick zu ernten, aber das drohte sich zu ändern, wenn er nicht bald aktiv wurde. Er dachte über seine Ausbildung nach und alles, was er dafür geopfert hatte. Die komplette Operation würde bald auffliegen und seinem Einsatz im Außendienst ein vorzeitiges Ende bereiten. Dann drohte er hinter irgendeinem Schreibtisch in Washington zu landen, wo er die nächsten 25 Jahre versauerte. Jeden Morgen würde er mit dem quälenden Vorwurf aufwachen, dass er damals etwas hätte unternehmen müssen, irgendetwas – und der Vorwurf würde ihn auch nachts in seinen Träumen verfolgen. Früher oder später raubte ihm die Sache dann seine Männlichkeit und ließ ihn bis ans Ende seiner Tage daran zweifeln, ob er wirklich Eier in der Hose hatte. Die Überlegungen ließen Rapp erschaudern. Er mochte ein bisschen verrückt sein, hatte aber genug griechische Tragödien gelesen, um zu wissen, dass ihm dieses dauerhafte Zweifeln an sich selbst früher oder später eine Einweisung in die geschlossene Psychiatrie verschaffen würde.

Nein, entschied er. Lieber gehe ich mit wehenden Fahnen unter.

Er nickte seiner Reflexion zu und holte tief Luft, bevor er ans Fenster ging. Mit einer sanften Bewegung zog er den zerschlissenen Vorhang zur Seite und schaute auf die Straße hinunter. Die zwei Fußsoldaten des Islamischen Dschihad standen immer noch auf der anderen Seite und behielten die Lage im Auge. Rapp hatte in der Nachbarschaft ein paar Andeutungen über seine Absichten fallen lassen, und kaum eine Stunde, nachdem er einem gierigen lokalen Händler den siebten 100-Dollar-Schein in die Hand gedrückt hatte, waren sie aufgetaucht. Zunächst war er mit der Idee schwanger gegangen, einen der Lakaien zu töten und den anderen auszuquetschen, aber er wusste, dass sich so ein Zwischenfall zu schnell herumsprach. Noch bevor er die notwendigen Informationen bekommen hatte, würden seine Kollegen entweder an einen anderen Standort verlegt werden oder tot sein. Rapp schüttelte den Kopf. Ihm blieb keine andere Möglichkeit. Es gab nur diese eine Option. Warum also das Unabwendbare unnötig hinauszögern?

Er kritzelte eilig eine Notiz auf einen Zettel und ließ sie auf dem kleinen Schreibtisch in der Zimmerecke liegen. Danach packte er seine Sonnenbrille, die Karte und eine größere Menge Geld ein und machte sich auf den Weg. Der Aufzug funktionierte nicht, also musste er das Treppenhaus benutzen, um die vier Etagen nach unten in die Lobby zu kommen. Der neue Mitarbeiter am Empfang machte einen ungeheuer nervösen Eindruck, was Rapp als Indiz wertete, dass jemand mit ihm gesprochen hatte. Durch den Vordereingang trat er hinaus ins grelle Sonnenlicht und hielt sich die Karte vor die Stirn, um nicht geblendet zu werden. Sein Blick scannte die Straße nach links und rechts ab. Hinter den Gläsern der Sonnenbrille behielt er unauffällig das Duo vom Islamischen Dschihad im Auge. Er gab vor, sich auf die Karte zu konzentrieren, und wandte sich nach rechts, in Richtung Osten.

Innerhalb weniger Meter begann sein Nervensystem, das Gehirn mit Alarmsignalen zu traktieren, jedes davon dringlicher als das vorherige. Er musste seine komplette Willenskraft aufbieten, um alles zu verdrängen, was ihm in der Ausbildung eingeimpft und während einer gefühlten Million Jahren praktischer Einsätze als Überlebensinstinkt eingeprägt worden war. Direkt vor ihm parkte ein vertrauter schwarzer Wagen auf der anderen Straßenseite. Rapp ignorierte den Kerl, der am Steuer saß, und bog in eine schmale Seitengasse ab. Kaum 30 Schritte weiter hatte sich ein brutal wirkender Mann vor einem Laden aufgebaut. Sein linkes Bein ruhte stabil auf dem Asphalt, das andere lehnte angewinkelt an der Wand hinter ihm. Sein wuchtiger Körper stützte sich gegen das Mauerwerk, während er den Rauch einer Zigarette inhalierte. Etwas an ihm kam Rapp vage vertraut vor, bis hin zu Details wie der eingestaubten schwarzen Hose und dem weißen Anzughemd mit den Schweißflecken unter den Achseln.

Abgesehen von ihm lag die Gasse wie ausgestorben da. Die Überlebenden des blutigen Bürgerkriegs hatten ein feines Gespür für Ärger und die weise Entscheidung getroffen, in ihren Wohnungen zu bleiben, bis auf diesem morgendlichen Nebenschauplatz wieder Ruhe einkehrte. Die Schritte in seinem Rücken hallten wie Stöckelschuhe auf dem Steinboden einer leeren Kathedrale. Rapp hörte, wie die Verfolger aufholten. Der Motor eines Wagens heulte auf – zweifellos der schwarze BMW, den er eben bemerkt hatte. Mit jedem weiteren Schritt fühlte er sich eingekesselter. Sein Gehirn spielte in Hochgeschwindigkeit alle erdenklichen Szenarien durch und forschte nach einer Möglichkeit, die drohende Katastrophe abzuwenden.

Sie waren jetzt ganz nah. Rapp spürte ihre Präsenz förmlich. Der kräftige Bursche vor ihm schnippte die Kippe auf den Boden und stieß sich mit etwas mehr Schwung von der Mauer ab, als er es ihm zugetraut hätte. Er speicherte dieses Detail ab. Der Mann lächelte ihn an und zog einen kleinen Lederknüppel aus der Tasche. Rapp ließ die Karte in gespieltem Erstaunen fallen und wandte sich zur Flucht. Die beiden Männer standen genau dort, wo er sie erwartet hatte, mit gezogener Waffe. Einer zielte auf Rapps Kopf, der andere auf seine Brust.

Die Limousine kam schlitternd rechts neben ihm zum Stehen. Der Kofferraum und die vordere Beifahrertür sprangen auf. Rapp wusste ganz genau, was jetzt kam. Er schloss die Augen und spannte die Kiefermuskulatur an, als der Knüppel auch schon auf seinen Hinterkopf knallte. Rapp stolperte nach vorn und sackte in den Armen der Männer mit den Pistolen zusammen. Er machte sich schwer und spürte, dass die Kerle mit seinem Gewicht zu kämpfen hatten. Die Arme des Riesen umklammerten seinen Brustkorb und zerrten ihn hoch. Man befreite Rapp von der 9-Millimeter-Beretta, die hinten im Hosenbund steckte, und schleifte ihn die wenigen Meter bis zum Kofferraum des Wagens. Rapp schlug mit dem Kopf voran gegen die Auskleidung. Der Rest seines Körpers wurde brutal zusammengeschoben, als sich der Deckel mit einem lauten Knall schloss.

Der Motor röhrte und die Hinterreifen fraßen sich durch eine Schicht aus Kieseln und Dreck, bis sie stabilen Asphalt erreichten. Rapp wurde hin und her geschleudert, während der Wagen beschleunigte. Er öffnete vorsichtig die Augenlider und wurde von der erwarteten Finsternis eingehüllt. Der Kopf pochte aufgrund des Schlags, allerdings nicht zu heftig. Sein Gesicht war frei von Angst, seine Gedanken frei von Zweifeln. Ein Lächeln trat auf seine Lippen, als er das weitere Vorgehen durchdachte. Die im Laufe des vergangenen Tages gezielt gestreuten Fehlinformationen hatten sie aus der Reserve gelockt, genau wie geplant. Seine Kidnapper ahnten nichts von den wahren Absichten des Mannes, den sie in ihre Gewalt gebracht hatten. Vor allem ahnten sie nicht, welche Gewalt und Verstümmelung er ihnen in naher Zukunft zuteilwerden lassen wollte.

TEIL 1

1

Im südlichen Virginia, ein Jahr vorher

Mitch Rapp nahm die Augenbinde ab und stellte den Sitz zurück in eine aufrechte Position. Die braune Ford-Taurus-Limousine holperte eine abschüssige Schotterpiste entlang, Staubflocken tanzten paarweise in der heißen Augustluft. Die Augenbinde war als Vorsichtsmaßnahme für den Fall des Scheiterns gedacht, weshalb er sie nicht brauchte. Er starrte durch die Scheibe auf die dicke Wand aus Nadelbäumen, die die Fahrspur flankierten. Trotz der strahlend hellen Sonne reichte seine Sicht durch das Dickicht aus Ästen und Zweigen kaum weiter als zehn Meter. Als Kind hatte er Wälder als einladenden Ort empfunden, aber an diesem besonderen Nachmittag fühlte er sich hier definitiv nicht willkommen.

Eine unheilschwangere Vorahnung schlich sich in seine Gedanken und schickte ihn auf die Reise zu Zielen, die er lieber nicht erreichen wollte. Zumindest nicht am heutigen Tag. Eine Falte entstand auf Rapps Stirn, als er sich die Frage stellte, wie viele Männer in diesem speziellen Waldstück schon zu Tode gekommen waren, und dabei ging es ihm nicht um die Soldaten des lange zurückliegenden Bürgerkriegs. Nein, dachte er im Entschluss, vollkommen ehrlich zu sich selbst zu sein. Tod war ein zu gnädiges Wort in diesem Zusammenhang. Es ließ die Möglichkeit offen, dass die betreffende Person verunglückt war, und das war eine bei Weitem zu lässige Beschreibung für die ernste Herausforderung, vor der er stand. ›Exekutiert‹ beschrieb es wesentlich treffender. Die Männer, um die es ging, waren in diese Wälder hineinmarschiert und in frisch ausgehobenen Gräbern entsorgt worden. Danach hatte nie wieder jemand etwas von ihnen gehört. Und Rapp stand im Begriff, in ebendiese Welt einzudringen, wobei er hinsichtlich dieser Entscheidung mit sich selbst voll und ganz im Reinen war.

Trotzdem blitzte ein Anflug von Zweifel hinter dem Schleier seiner Überlegungen auf und ließ ihn für den Bruchteil einer Sekunde zögern. Er rang einen Moment mit sich selbst und verbannte ihn dann in den hintersten Winkel seines Gehirns. Nein, keine Zeit, um ins Grübeln zu geraten. Er hatte das Ganze von vorn bis hinten, von links nach rechts und oben bis unten durchdacht. Er hatte es aus jedem erdenklichen Blickwinkel betrachtet, seit diese rätselhafte Frau in seinem Leben aufgetaucht war. Merkwürdigerweise hatte er seit dem ersten Blick ihrer scharfen, durchdringenden Augen begriffen, worauf das Ganze hinauslief.

Rapp hatte auf eine solche Begegnung gezielt gewartet, obwohl er sie das nicht wissen ließ. Die einzige Möglichkeit, mit dem schmerzlichen Verlust der Liebe seines Lebens umzugehen, bestand darin, Rache zu nehmen. Seit dem Vorfall suchte ihn in jeder einzelnen Nacht vor dem Einschlafen das gesichtslose Netzwerk der Männer heim, die den Absturz von Pan-Am-Flug 103 in die Wege geleitet hatten. Er wusste, dass ihm eine solche Reise bevorstand, zu einem weit entfernten Ort – nicht unähnlich den Wäldern, in denen er sich nun wiederfand. Er fand es absolut zwingend. Feinde mussten eliminiert werden und Rapp war mehr als bereit, zu der Person zu werden, die sich um diese Eliminierung kümmerte. Er wusste, was als Nächstes kam. Man würde ihn ausbilden, schleifen und zu einer ultimativen Präzisionswaffe formen, bevor er sich anschickte, Jagd auf sie zu machen. Auf jeden Einzelnen dieser Unbekannten, die an der Verschwörung beteiligt gewesen waren, bei der so viele unschuldige Zivilisten in einer kalten Dezembernacht sterben mussten.

Der Wagen verlangsamte die Fahrt und Rapps Blick fiel auf ein verrostetes Viehgatter mit schwerer Kette und Vorhängeschloss. Seine dunkle Augenbraue zuckte argwöhnisch.

Die Frau am Steuer musterte ihn von der Seite. »Vermutlich haben Sie mit etwas mehr Hightech gerechnet.«

Rapp nickte stumm.

Irene Kennedy schob den Hebel der Automatikschaltung in Parkposition. »Der erste Eindruck kann täuschen«, meinte sie, öffnete die Wagentür und stieg aus. Auf dem Weg zum Tor lauschte sie. Wenig später ertönte ein Klicken auf der Beifahrerseite. Sie lächelte. Ohne das geringste Training hatte er die richtige Entscheidung getroffen. Gleich bei ihrer ersten Begegnung fiel ihr auf, dass er anders war. Sie hatte jedes Detail seines Lebens akribisch studiert und ihn monatelang heimlich beobachtet. Kennedy war außerordentlich gut in dem, was sie tat. Methodisch, bestens organisiert und geduldig. Und sie verfügte über ein fotografisches Gedächtnis.

Kennedy war in diesem Geschäft aufgewachsen. Ihr Vater hatte für das Auswärtige Amt gearbeitet, weshalb sie einen Großteil ihrer Erziehung im Ausland genossen hatte, in Ländern, in denen man als Amerikaner nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurde. Wachsam zu sein, hatte sie bereits im zarten Alter von fünf Jahren gelernt. Während andere Eltern sich sorgten, dass ihre Kinder unbeaufsichtigt auf die Straße liefen und von einem Auto überfahren wurden, sorgten sich Kennedys Eltern eher darum, dass jemand eine Bombe unter ihrem Wagen platzierte. Man impfte ihr frühzeitig ein, jederzeit auf alles gefasst zu sein.

Als Kennedy entschieden hatte, dass es Zeit wurde, sich Rapp vorzustellen, hatte er sie lediglich mit einem durchdringenden Blick bedacht und gefragt, warum sie ihm schon so lange folgte. Zu dieser Zeit war der Junge gerade mal 22 gewesen, ein absoluter Frischling. Falls Kennedy eine Schwäche hatte, dann betraf es das Improvisieren. Es gefiel ihr besser, wenn alles sorgfältig durchgeplant war. Aufgrund ihrer unauffälligen Vorgehensweise hatte sie schlicht nicht damit gerechnet, dass ein Anfänger wie er die Beschattung bemerkte. Sie hatte schon Dutzende von Leuten rekrutiert, aber das war ihr zum ersten Mal passiert. Kennedy wurde auf dem falschen Fuß erwischt und suchte stammelnd nach einer Antwort. Dabei sollte es doch eher der Rekrut sein, der in Anbetracht der unerwarteten Situation ins Stammeln geriet. Rapps Beobachtungsgabe vertrug sich nicht mit ihrem Skript.

Später ließ sie in ihrem Motelzimmer in der Nähe von Syracuse jede einzelne Aktion der letzten acht Monate Revue passieren, um herauszufinden, an welcher Stelle ihr der Patzer unterlaufen war. Nach drei Stunden und 17 hingekritzelten Seiten mit Notizen wusste sie es immer noch nicht. Frustriert und mit widerwilliger Bewunderung gelangte sie zu dem Schluss, dass Rapp über eine extrem scharfe situative Intelligenz verfügte. Sie legte seine Akte ganz oben auf den Stapel und fällte eine mutige Entscheidung. Statt auf das übliche Personal zurückzugreifen, kontaktierte sie eine Firma, die von früheren Spionen geführt wurde, alten Freunden ihres Vaters. Sie waren darauf spezialisiert, ihren Job zu erledigen, ohne Spuren zu hinterlassen. Kennedy bat sie um eine objektive Einschätzung von Rapp – nur zur Sicherheit, falls ihr etwas entgangen sein sollte. Zwei Wochen später legten sie ihr den Abschlussbericht auf den Tisch, der ihr eine Gänsehaut bescherte.

Kennedy brachte den Bericht sofort zu ihrem Vorgesetzten, Thomas Stansfield. Er hatte ihn knapp bis zur Hälfte gelesen, als ihm dämmerte, was sie vorhatte. Am Ende seiner Lektüre klappte er den fünf Zentimeter dicken Lebenslauf des jungen Mitch Rapp zu und bat sie, ihre Argumente vorzutragen. Sie brachte es prägnant auf den Punkt, aber Stansfield wies sie auf offensichtliche Fallstricke und Gefahren hin, wenn die erste Stufe der Ausbildung einfach übersprungen wurde. Kennedy konterte perfekt. Die Regeln in ihrem Spiel änderten sich. Er hatte sie selbst wiederholt darauf hingewiesen. Sie konnten sich nicht einfach zurücklehnen und auf eine rein defensive Gefahrenabwehr verlegen. In dieser zunehmend vernetzten Welt brauchten sie eine Waffe, die mit noch größerer chirurgischer Präzision einsetzbar war als eine Lenkbombe oder ein Marschflugkörper. Als erfahrener Agent mit Einsatzerfahrung wusste Stansfield, dass die betreffende Person völlig eigenständig handeln musste. Und damit das klappte, durften keinerlei offizielle Aufzeichnungen über sie existieren.

Kennedy ratterte noch acht weitere Punkte herunter, warum sie diesen jungen Mann für den perfekten Kandidaten hielt. Ihre Logik ließ an Schlüssigkeit nichts zu wünschen übrig, außerdem führte kein Weg daran vorbei, irgendwann einfach mal ins kalte Wasser zu springen. Stansfield selbst fand, sie hätten eigentlich schon fünf Jahre früher damit anfangen müssen, weshalb er schließlich unter lautem Seufzen seine Bedenken zur Seite schob und beschloss, das Wagnis einzugehen. Er wies Kennedy an, die Grundausbildung auszulassen und den Anwärter zu dem einzigen Mann zu bringen, den sie für verrückt genug hielten, um einen Rekruten schnell genug in Schuss zu bringen. Falls Rapp sechs Monate Training unter dem Regime von Stan Hurley überlebte, handelte es sich bei ihm womöglich tatsächlich um die menschliche Kampfmaschine, nach der sie suchten. Bevor sie sein Büro verließ, forderte Stansfield Kennedy auf, sämtliches Material zu vernichten. Jede einzelne Datei, jedes Überwachungsfoto, jeden Mitschnitt, der sie irgendwie mit Rapp in Verbindung brachte.

Kennedy lenkte den Wagen durch das Tor und bat Rapp, es hinter ihnen zu schließen und zu verriegeln. Er kam der Aufforderung nach und stieg wieder ein. Etwa 100 Meter weiter bremste Kennedy auf Schrittgeschwindigkeit ab und riss abrupt das Steuer herum, um einem großen Schlagloch auszuweichen.

»Warum gibt es auf dem Gelände keine Security?«, wollte Rapp wissen.

»Technische Systeme lenken in der Regel viel zu viel ungewollte Aufmerksamkeit auf sich. Außerdem geben sie häufig falschen Alarm, was einen hohen Aufwand an Manpower nach sich zieht. Hier läuft das anders.«

»Wie sieht es mit Hunden aus?«

Ihr gefiel seine Denkweise. Wie auf Kommando kamen zwei Jagdhunde um die Kurve geschossen. Sie stürmten zielstrebig auf die Limousine zu. Kennedy hielt an und wartete, bis sie den Weg freimachten. Sekunden später bleckten sie ein letztes Mal die Zähne und verschwanden in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.

Kennedy nahm den Fuß von der Bremse und fuhr weiter. »Dieser Mann«, begann sie. »Derjenige, der Sie ausbilden wird.«

»Der durchgeknallte Kerl, der mich umbringen will, meinen Sie.« Rapp lächelte nicht.

»Ich habe nie gesagt, dass er Sie umbringen will. Nur dass er Sie glauben lassen wird, er wolle Sie umbringen.«

»Wie beruhigend«, stellte Rapp sarkastisch fest. »Warum kommen Sie eigentlich ständig auf das Thema zu sprechen?«

»Weil ich möchte, dass Sie vorbereitet sind.«

Rapp dachte darüber kurz nach, bevor er antwortete: »Das bin ich. Zumindest so gut, wie man auf eine solche Situation vorbereitet sein kann.«

Sie schwieg für einen Moment. »Der körperliche Aspekt macht mir keine Sorgen. Wir wissen, dass Sie in guter Form sind, was äußerst wichtig ist. Aber Ihnen muss bewusst sein, dass Sie bald in einer Weise auf die Probe gestellt werden, die Ihre wildesten Vorstellungen bei Weitem übertrifft. Es ist ein Spiel. Aber eins, das Sie zum Aufgeben zwingen soll. Ihre größte Waffe ist nicht körperliche Stärke, sondern mentale Disziplin.«

Rapp sah das anders, widersprach aber nicht und verbarg seine Gedanken hinter einer neutralen Maske. Um sein Bestes zu geben, kam es auf beide genannten Punkte an. Er wusste, wie es ablief. Er hatte oft genug mörderische Football- und Lacrosse-Trainings in der sengenden Augusthitze von Virginia absolviert. Allein der Drang, sich gegen den Gegner durchzusetzen, hatte ihn dabei am Laufen gehalten. Diesmal war der Wunsch, als Sieger vom Platz zu gehen, noch wesentlich größer. Aus zutiefst persönlichen Gründen.

»Eins dürfen Sie nie vergessen … nehmen Sie nichts davon persönlich«, sagte Kennedy.

Rapp lächelte in sich hinein. Irrtum, Lady. Ganz im Gegenteil. Es ist sogar sehr persönlich.

Seine Antwort klang völlig anders. »Ich weiß«, entgegnete er in lockerem Plauderton. »Was ist übrigens mit den anderen?« Wenn ihn etwas nervös machte, dann der Umstand, dass sich die anderen Rekruten bereits seit zwei Tagen auf dem Gelände aufhielten. Rapp mochte es nicht, wenn jemand einen Vorsprung hatte. Sie bildeten wahrscheinlich schon eine eingeschworene Gemeinschaft und machten ihm als Nachzügler das Leben schwer. Er kannte den Grund für seine verspätete Ankunft nicht. Kennedy hatte bisher nicht damit herausrücken wollen.

»Es sind sechs.« Kennedy blätterte die Fotos vor ihrem geistigen Auge durch. Sie kannte die Personalakten. Alle verfügten über militärische Vorerfahrung und besaßen, zumindest in der Theorie, ähnliche Qualitäten wie Rapp. Braun gebrannt, athletisch, gewaltbereit – zumindest schreckten sie nicht vor Gewaltanwendung zurück. Und sie hatten die umfangreichen psychologischen Checks mehr oder weniger mit Bravour bestanden. Ferner beherrschten sie eine oder mehrere Fremdsprachen und bewegten sich auf der moralischen Skala, die zwischen Gut und Böse differenzierte, durchgehend im kritischen Sechs-Uhr-Bereich. Auf dem schmalen Grat zwischen vorbildlichen Gesetzeshütern und notorischen Berufsverbrechern.

Hinter der nächsten Biegung tat sich eine weitläufige Umgebung auf. Ein frisch gemähter Rasen, grob mit den Abmessungen eines Football-Feldes, erstreckte sich zu beiden Seiten der Fahrbahn, die zu einem weißen Schuppen und einem zweistöckigen Gebäude mit umlaufender Veranda führte. Damit hatte Rapp nicht gerechnet. Es entsprach einem Postkarten-Idyll bis hin zu den Schaukelstühlen unter dem geräumigen Vordach.

Ein Mann trat durch die Haustür. Er hielt eine Kaffeetasse in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Rapp beobachtete, wie er sich ihnen über die Veranda näherte. Sein Kopf zuckte wie beiläufig nach links und rechts. Den meisten Menschen wäre die Bewegung entgangen, aber Rapps erweiterte Sinne erfassten instinktiv, dass die Weltbevölkerung aus zwei Teilen bestand – jenen, die sich der Herde anschlossen, und jenen, die gerne auf die Jagd gingen. Dieser Mann überprüfte seine Flankendeckung. Er hielt vor den Stufen inne und musterte sie durch eine Pilotensonnenbrille. Rapp lächelte bei dem Gedanken, dass hier der Mann vor ihm stand, der ihn brechen sollte. Auf eine solche Herausforderung wartete er schon lange.

2

Rapp spähte durch die mit Fliegen verklebte Windschutzscheibe auf den Spielverderber, vor dem man ihn so oft gewarnt hatte. Selbst über die trennende Distanz des Hofs hinweg entging ihm nicht der mürrische Gesichtsausdruck des anderen. Er trug die braunen Haare mittellang und vom Scheitel nach rechts gekämmt. Zum dichten Tom-Selleck-Schnurrbart gesellten sich verblichene Shorts mit Tarnmuster, die eine Spur zu eng saßen, und ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Als der Wagen zum Stehen kam, fielen ihm auch die mitgenommenen schwarzen Kampfstiefel und die weißen Socken auf, hochgezogen bis zu den Knien. Die Haut des anderen war ledrig, sehr dunkel und schien inklusive der Wangenpartie von Muskeln und Sehnen durchsetzt zu sein. Rapp fragte sich, wie wohl die Augen aussehen mochten, die von den dunklen Brillengläsern verdeckt wurden. Er rief sich seinen Plan in Erinnerung und gelangte zu dem Ergebnis, dass er das sicher bald herausfand.

»Wie alt ist er?«, fragte Rapp.

»Bin nicht sicher.« Kennedy schob den Hebel neben sich in Parkposition. »Jedenfalls älter, als er aussieht, aber fragen Sie lieber nicht nach. Er redet generell ungern über sich.« Sie löste den Gurt. »Warten Sie kurz.«

Kennedy verließ den Wagen und schlenderte gemächlich über den Kiesweg. Sie trug eine weiße Bluse zur schwarzen Anzughose. Aufgrund der Hitze und des Umstands, dass sie sich mehr als 100 Meilen vom Hauptquartier entfernt aufhielten, hatte sie den Blazer auf dem Rücksitz liegen lassen. Eine 9-Millimeter-Beretta baumelte an ihrer rechten Hüfte – eher um keine Standpauke von dem Mann zu erhalten, dem sie einen Besuch abstattete, als aus einer akuten Befürchtung heraus, sie zu benötigen. Sie sah zur Veranda hinauf und schob eine störrische Strähne ihrer rotbraunen Haare hinter das linke Ohr. Vor den Stufen hielt sie inne und sagte: »Onkel Stan, du wirkst nicht sonderlich begeistert, mich zu sehen.«

Stan Hurley blickte auf Kennedy hinab. Schuldgefühle durchzuckten ihn. Dieser zierlichen Schönheit gelang es wie kaum jemandem sonst, seine Emotionen auf eine Achterbahnfahrt zu schicken. Er kannte Irene länger, als sie sich selbst kannte, hatte ihr beim Aufwachsen zugesehen, ihr Weihnachtsgeschenke von entlegenen Orten mitgebracht und mehr Ferien mit den Kennedys verbracht als ohne sie. Vor knapp zehn Jahren fanden diese gemeinsamen Vergnügungen ein jähes Ende, als ein Lieferwagen mit über 1000 Kilo Sprengstoff vor der US-Botschaft in Beirut anhielt. 63 Menschen kamen ums Leben, darunter auch Kennedys Vater. Hurley war nicht im Büro gewesen, weil er gerade mit einer Kontaktperson fickte, und anschließend der Entlassung nur haarscharf entronnen. Die CIA hatte an diesem Apriltag acht wertvolle Mitarbeiter verloren und knabberte bis heute daran.

Hurley war bewusst, dass er seine Stimmungsschwankungen nicht unter Kontrolle hatte. Aus diesem Grund fasste er sich kurz, wenn er nervös war oder mit jemandem sprach, den er mochte. Er beließ es bei einem schlichten »Tag, Irene«.

Kennedy fürchtete sich seit Monaten vor diesem Augenblick. Unter normalen Umständen hätte Hurley sie mit einer warmherzigen Umarmung begrüßt und sich nach der Gesundheit ihrer Mutter erkundigt. Aber nicht an diesem Nachmittag. Sie hatte ihn übergangen und Stan Hurley mochte es gar nicht, wenn Leute bei einer so ernsten Angelegenheit nicht seine Zustimmung einholten. Der eisige Unterton war eindeutig herauszuhören, aber sie ließ nicht locker. »Wie fühlst du dich?«

Hurley ignorierte die Frage. »Wer ist das im Auto?«, erkundigte er sich schroff.

»Ein neuer Rekrut. Thomas sagt, er habe dich informiert.« Kennedy sprach von ihrem gemeinsamen Boss.

Hurleys Pupillen wurden von den polarisierten Gläsern der Brille verdeckt. Sein Kopf ruckte langsam vom Wagen zu Kennedy zurück. »Ja, er hat mir gesagt, was du vorhast«, meinte er mit deutlicher Missbilligung.

Kennedy faltete abwehrend die Hände vor der Brust. »Du hältst nichts von meiner Entscheidung.«

»Darauf kannst du einen lassen.«

»Warum?«

»Ich veranstalte hier doch kein beschissenes Pfadfinder-Lager.«

»Das hat auch niemand behauptet, Stan«, konterte Kennedy in beißendem Tonfall.

»Warum verschwendest du dann meine Zeit, indem du mir einen College-Streber mit schwabbeligen Titten herschickst, der nicht mal den Unterschied zwischen einer Pistole und einem Gewehr kennt?«

Die sonst so stoische Kennedy ließ leichte Verärgerung durch ihre sorgsam aufrechterhaltene Fassade blitzen. Sie war sich ihrer besonderen Macht über Hurley bewusst und nutzte gezielt aus, dass ein missbilligender Blick von ihr weitaus vernichtendere Wirkung entfaltete als ein direkter Angriff.

Hurley starrte sie an und erkannte, dass sie sein Verhalten missbilligte. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Genau wie bei seinen eigenen Töchtern. Wenn einer seiner Söhne ihn schief von der Seite anguckte, verpasste er ihm einen kräftigen Arschtritt, aber die Mädels durchbrachen seine Abwehr in null Komma nichts. Allerdings wusste er, dass er in diesem Fall recht hatte, also blieb er stur. »Machen wir keine persönliche Angelegenheit draus, Irene. Ich erledige meinen Job schon ziemlich lange und weiß, worum es geht. Deshalb nervt es mich, wenn du über meinen Kopf hinweg eine Entscheidung triffst und mir einen Rookie ohne Vorerfahrung auf den Schoß setzt.«

Kennedy thronte wie eine Sphinx vor ihm und gab keinen Millimeter nach.

Hurley zog an der Zigarette. »Ich finde, du solltest uns allen den Stress ersparen, wieder ins Auto steigen und ihn dorthin zurückbringen, wo du ihn aufgelesen hast.«

Kennedy war selbst überrascht, wie wütend sein Widerstand sie machte. Sie arbeitete seit mehr als einem Jahr an dieser Sache. Ihre Analysen und Instinkte bestätigten gleichermaßen, dass Rapp genau der Mann war, nach dem sie suchten. Trotzdem wurde sie gerade so herablassend behandelt, als wäre sie ein völliges Dummchen, das nicht die leiseste Ahnung hatte, worauf es bei ihrem Job ankam. Langsam stieg sie die Stufen hinauf und blieb direkt neben ihm stehen.

Der alte Haudegen fühlte sich sichtlich unwohl dabei, dass jemand, den er nicht anzurühren wagte, ihm so dicht auf die Pelle rückte. »Ich habe eine Menge Arbeit zu erledigen, Irene. Je schneller du wieder einsteigst, desto besser für uns alle.«

Kennedy richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und fragte kühl: »Onkel Stan, habe ich mich jemals respektlos dir gegenüber verhalten?«

»Darum geht es hier doch gar …«

»Doch, genau darum geht es. Was hab ich dir angetan, dass du mir plötzlich mit solcher Geringschätzung begegnest?« Sie schob sich noch näher an ihn heran.

Hurleys Füße scharrten nervös. Seine Miene verfinsterte sich. »Du weißt, wie viel du mir bedeutest.«

»Warum behandelst du mich dann gerade wie einen unreifen Teenager?«

»Ich halte dich nicht für unreif.«

»Aber du findest, ich sollte mich auf meine Analysen beschränken und das Rekrutieren und Ausbilden dir überlassen.«

Er räusperte sich und sagte: »Das kann ich so unterschreiben, ja.«

Kennedy stemmte die Hände in die Hüften und schob ihr Kinn nach vorn. »Tu mir einen Gefallen und nimm die Sonnenbrille ab, wenn du mit mir redest.«

Der Wunsch brachte Hurley aus dem Konzept. »Warum?«

»Weil ich deine Schwachstelle kenne und in deine flirterprobten Äuglein schauen will, wenn ich dir etwas sage, das dir schon längst mal jemand hätte sagen sollen.«

Hurley grinste breit, um sie zu besänftigen, aber sie bestand erneut darauf, dass er die Brille absetzte. Zögernd kam er der Aufforderung nach.

»Ich respektiere dich«, sagte Kennedy. »Ich würde dir mein Leben vermutlich eher anvertrauen als sonst jemandem auf der Welt. Du bist ohne Zweifel der am besten geeignete Ausbilder für unsere Agenten … aber es gibt ein Problem.«

»Und zwar?«

»Du bist auf einem Auge blind.«

»Ach ja?«

»Ach ja. Ich glaube, du hast keine Ahnung, nach was für einem Typ Mensch wir genau suchen.«

Hurley hüstelte, als sei der Vorwurf absolut lachhaft.

»Doch, so ist es. Du bist nur zu stur, um es zuzugeben.«

»Vermutlich glaubst du, die Special Operations Group sei eines Tages einfach aus dem Nichts aufgetaucht und zur Arbeit erschienen. Was denkst du, wer diese Jungs trainiert hat? Und wer sie ausgewählt hat? Und wer hat sie zu den effektiven, skrupellosen Tötungsmaschinen gemacht, die sie mittlerweile sind?«

»Das warst du. Lenk nicht ab, darum geht es gerade nicht. Ich rede von unserer dritten Zielvorgabe.«

Hurley verzog das Gesicht. Diese Lady kannte wirklich seine Achillesferse. Insgeheim fragte er sich, ob Stansfield dahintersteckte. »Hältst du diesen Mist für ein Kinderspiel? Sag schon, willst du diese kleine Operation vielleicht selbst übernehmen?«

Kennedy schüttelte den Kopf und lächelte erstaunt. »Dafür, dass du so ein knallharter Bursche bist, kommst du mir manchmal verdammt dünnhäutig vor. Du hörst dich an wie einer dieser Sesselfurzer in Langley, die ihre Abteilung wie ein Diktator aus der Dritten Welt führen.«

Genauso gut hätte sie ihm mit einem Kantholz einen Hieb in den Magen versetzen können. Hurley stand sprachlos da.

»Du hast einen Personenkult erschaffen«, fuhr Kennedy fort. »Jeder einzelne Rekrut ist ein Ebenbild von dir vor 20 oder 30 Jahren.«

»Und was ist daran falsch?«

»Nichts, wenn es um unsere beiden ersten Zielvorgaben geht.« Kennedy hielt einen Finger hoch. »Agenten die notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln, wenn es hart auf hart kommt, und« – ein zweiter Finger folgte – »eine hoch mobile, schlagkräftige Angriffstruppe zusammenzustellen. Aber wenn es um Punkt drei geht« – sie schüttelte den Kopf – »haben wir noch nicht mal die Nähe der Startbahn erreicht.«

Hurley schmeckte überhaupt nicht, was er da hörte, aber er war kein ignoranter Idiot. Er wusste genau, mit welchen Aufgaben man ihn betraut hatte, und ihm war absolut bewusst, dass er beim heikelsten der drei Punkte nach wie vor keinerlei Fortschritte erzielt hatte. Trotzdem gab er sich nicht so leicht geschlagen. »Ich kann jedem beibringen, wie man tötet. Das ist einfach. Man richtet die Waffe auf jemanden, betätigt den Abzug und, vorausgesetzt man kann halbwegs zielen … bämm. Ein Klumpen Blei dringt in den Körper des Opfers ein, trifft ein lebenswichtiges Organ und erledigt den Rest. Wenn Leute echt was draufhaben, bring ich ihnen bei, wie sie einem anderen ein Messer durch die Achselhöhle ziehen und dabei sein Herz wie einen Ballon zum Platzen bringen. Fuck … ich kenne Tausende von Methoden, jemanden unter die Erde zu schicken. Ich kann Kampftechniken runterrasseln, bis ich blau im Gesicht bin …«

»Aber?«, hakte Kennedy nach und drängte ihn in die Richtung, die er selbst erahnte.

»Einen Mann in das zu verwandeln, was wir brauchen …« Hurley hielt inne und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht so einfach.«

Kennedy seufzte. Auf diese Vorlage hatte sie gewartet. Sie berührte Hurleys Arm und sagte: »Ich habe nie behauptet, dass es einfach ist. Deshalb musst du lernen, dem Rest von uns zu vertrauen, dass wir unseren Job anständig erledigen. Ich hab dir ein Geschenk mitgebracht, Stan. Es ist dir nur noch nicht bewusst, weil du felsenfest davon überzeugt bist, dass ein Mann erst das Bootcamp durchlaufen haben muss, bevor er es verdient hat, von dir unter die Lupe genommen zu werden. Normalerweise würde ich dir beipflichten, aber in diesem Fall ist es anders. Du musst deinen Kontrollwahn mal ein bisschen runterfahren, Stan. Was in diesem Auto sitzt, ist genau das, wonach du so lange gesucht hast, Stan. Ganz ohne schlechte Angewohnheiten, die du ihm monatelang abgewöhnen musst. Ohne die steife militärische Disziplin, durch die jeder dieser Jungs aus der Masse herausragt wie ein Leuchtturm, wenn man ihn in eine fremde Stadt schickt.«

Hurley blickte flüchtig rüber zum Auto.

»Er hat bei all unseren Tests Ergebnisse weit oberhalb der 100-Prozent-Marke erzielt«, fügte Kennedy hinzu. »Und du kannst ihn nach Belieben formen.«

Mit gefurchter Stirn betrachtete Hurley die vagen Details dieses angeblichen Rohdiamanten, die er von hier aus erkennen konnte, bevor Kennedy ihm als Juwelier den Auftrag zum Feinschliff erteilte.

»Aber das funktioniert nur«, betonte Kennedy, »wenn du deinen Stolz ausnahmsweise mal runterschluckst und zugibst, dass das kleine Mädchen, das früher immer auf deinem Knie geritten ist, inzwischen als großes Mädchen den Blick für echtes Talent mitbringt, der dir allem Anschein nach fehlt.«

Schachmatt, dachte Hurley. Jetzt hab ich diesen kleinen Hosenscheißer an der Backe. Zumindest für ein paar Tage, bis ich rausgefunden habe, wie ich ihn zur Aufgabe zwinge.

»Also schön«, sagte er wie der Unterlegene in einem Gefecht. »Aber keine Extrawürste. Er muss sich genau wie alle anderen bewähren, sonst fliegt er.«

»Niemand hat was von Extrawürsten gesagt.« Kennedy stocherte drohend mit einem Finger. »Aber wenn ich rausfinde, dass du ihn dir gezielt rauspickst, um ihm deine ganz spezielle Art von Liebe und Aufmerksamkeit zu widmen, werd ich mächtig sauer.«

Hurley verdaute die Bemerkung und nickte schroff. »Okay … wir machen es so, wie du vorschlägst, aber auf eins kannst du wetten: Sobald ich den leisesten Anflug einer Schwachstelle erkenne …«

»Ich weiß … ja, ich weiß.« Sie führte die Bemerkung für ihn zu Ende: »… wird er sich wünschen, dir nie begegnet zu sein.« Kennedy fand, dass sie es für den Moment weit genug auf die Spitze getrieben hatte. Rapp musste diesem schrulligen alten Bastard einfach zeigen, was sie längst wusste. »Ich muss rüber ins Büro, um mich um einige Angelegenheiten zu kümmern. Wir sehen uns zum Abendessen.« Im Gehen rief sie ihm über die Schulter zu: »Und wehe, du springst mit ihm härter um als mit den anderen sechs. Dann kannst du dich drauf gefasst machen, dass deine Nichte mächtig böse wird.«

3

Rapp beobachtete Kennedy beim Wegfahren. Die schwere, übergroße Lacrosse-Sporttasche hing über seiner Schulter. Die ganze Szene kam ihm ziemlich surreal vor. Er fühlte sich an den Sommer erinnert, als er im Alter von neun Jahren von seiner Mutter beim Camp abgesetzt wurde und ihrem Wagen eine gefühlte Stunde hinterherschaute. Genau wie heute war er aus freien Stücken hergekommen. Diesmal standen ihm allerdings nicht die Tränen in den Augen. Damals hatte er sich vor dem Unbekannten gefürchtet, das ihn erwartete. Heute war er ein 23-Jähriger, der sich bereit fühlte, es mit der ganzen Welt aufzunehmen.

Das Auto rollte über die Schotterpiste von dannen, während Rapp die Tragweite seiner Entscheidung abwägte. Eine Tür schloss sich. Er befand sich auf dem Weg, eine andere zu öffnen. Allerdings hatten das vorher noch nicht viele andere Menschen getan. Sie war wild überwuchert und das, was dahinter wartete, wesentlich heimtückischer, als es sich sein Verstand auszumalen vermochte. Aufgrund seiner jungen Jahre fühlte er sich unverwundbar und heckte in Gedanken einen Plan nach dem anderen aus, wie er dem Tod von der Schippe springen konnte. Dieser Mann wollte ihn davon abbringen, sein Ziel zu erreichen – aber er war selbstsicher genug, um zu wissen, dass das nicht passieren würde. Er hatte noch nie in seinem Leben aufgegeben und wollte das hier unbedingt. Egal was man sich einfallen ließ, um ihn davon abzubringen, er nahm sich vor, alles gelassen von sich abprallen zu lassen. Der Preis, der am Ziel auf ihn wartete, war zu verlockend, und um seine Chance zu erhalten, nahm er alle Widrigkeiten gern in Kauf.

Rapp spürte die Augen des Mannes prüfend auf sich lasten. Er ließ die schwere Tasche fallen und wartete, bis der andere ihn erreicht hatte. Der Typ mit dem Schnäuzer und der Sonnenbrille blieb stehen und verstellte ihm den Weg. Rapp roch sofort die säuerliche Mischung aus Kaffee und Zigarettenqualm im Atem. Instinktiv wollte er zurückweichen, aber das legte man ihm garantiert als Schwäche aus, deshalb blieb er, wo er war, und atmete bewusst durch den Mund ein.

»Wirf noch mal einen genauen Blick auf diese Karre.« Hurleys Stimme klang säuerlich.

Rapp kippte den Kopf zur Seite und sah zu, wie der Sedan hinter der nächsten Kurve verschwand.

»Sie kommt nicht zurück«, ließ er spöttisch verlauten.

Rapp nickte.

»Augen gerade und nach vorn«, schnauzte Hurley.

Rapp starrte sein Spiegelbild in den polarisierten Gläsern an und sagte kein Wort.

»Ich weiß nicht, mit was für einem Scheiß du sie rumgekriegt hast. Ich hab keine Ahnung, wieso sie denkt, du hättest, was nötig ist, um es durch meinen Auswahlprozess zu schaffen, aber ich kann dir eins versprechen: An jedem einzelnen Tag, den du hier bist, wirst du tausendfach die Sekunde verfluchen, in der sie in dein Leben getreten ist. Behalt das allerdings schön für dich, denn wenn ich höre, wie du auch nur ein negatives Wort über sie verlierst, wirst du dafür Schmerzen erleiden, von denen du nicht mal wusstest, dass sie existieren. Hast du mich verstanden?«

»Ja.«

»Ja-aaa«, äffte ihn Hurley nach. »Hältst mich wohl für einen deiner schwuchteligen Professoren vom College?«

»Nein.« Rapp steckte die Beleidigung ungerührt weg.

»Nein«, bellte Hurley und die Adern an seinem Hals traten hervor. »Du wirst mich als Sir anreden, wenn du mit mir sprichst, sonst bohr ich dir meinen Stiefel so tief in den Hintern, dass du Leder spuckst, verstanden?«

Ein Brocken Spucke flog Rapp ins Gesicht, aber er ignorierte es. So etwas Ähnliches hatte er schon geahnt. Nachdem er sich vorher bereits umgesehen und vergewissert hatte, dass sich sonst niemand in der Nähe befand, wollte er die Gelegenheit nutzen. »Sir, erbitte Erlaubnis zu reden.«

»Ich hätte es mir denken müssen.« Hurley seufzte, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: »Also schön, Elitestudent. Du sollst deine Chance bekommen, dein Sprüchlein aufzusagen. Ich kann nur hoffen, du willst mir sagen, das alles sei eine total bescheuerte Idee gewesen und du willst wieder heim zu Mami. Kein Problem«, schob er schnell hinterher. »Verdammt, ich werd dich sogar persönlich zu ihr bringen.«

Rapp grinste und schüttelte den Kopf.

»Scheiiiiiße!« Hurley zog das Wort in die Länge und schüttelte angewidert den Kopf. »Du glaubst echt, du schaffst das?«

»Allerdings, Sir.«

»Du willst also meine Zeit verschwenden.«

»Sieht ganz so aus, Sir. Ich würde jedoch vorschlagen, dass wir die Angelegenheit ein bisschen beschleunigen.«

»Beschleunigen?«, fragte Hurley.

»Ja, Sir. Ich gehe davon aus, wenn Sie mit einem Mann in den Ring steigen, brauchen Sie höchstens 20 Sekunden, um rauszufinden, ob er genug Talent besitzt, um Ihren Auswahlprozess durchzustehen.«

Hurley nickte. »Das stimmt.«

»Ich will Ihre Zeit nicht überstrapazieren, also finden wir doch einfach direkt raus, ob ich’s draufhabe.«

Hurley lächelte zum ersten Mal. »Du willst gegen mich antreten?«

»Ja, Sir … damit es schneller geht.«

Hurley lachte. »Und du glaubst, du hast eine Chance?«

»Nach allem, was ich über Sie gehört habe … nicht die geringste.«

»Und warum hast du es dann so eilig, von mir den Arsch versohlt zu kriegen?«

»Nun, früher oder später werden Sie das sowieso tun. Früher ist mir lieber.«

»Und wieso?«

»Damit wir zu den wichtigen Themen übergehen können.«

»Und die wären?«

»Dass Sie mir beibringen, wie man Terroristen tötet.«

Den Spruch hatte er noch nie gehört. Hurley trat einen Schritt zurück und musterte seinen Rekruten mit neu erwachtem Interesse. Er war knapp 1,90 Meter groß und schien körperlich extrem fit zu sein, aber damit durfte man bei einem 23-Jährigen wohl rechnen. Kräftiges, tiefschwarzes Haar und gebräunte Haut. Optisch passte es schon mal. Hurley erhaschte einen ersten Vorgeschmack, worauf Kennedys Vorschusslorbeeren gründeten. Eher amüsiert als besorgt signalisierte Hurley mit einem Nicken sein Einverständnis. »Gut. Probieren wir’s. Siehst du den Schuppen da drüben?«

Rapp nickte.

»Da drin steht eine Liege zum Aufklappen. Sie gehört dir, solange du durchhältst. Verstau deine Sachen in der Truhe und zieh dir Shorts und ein T-Shirt über. Wenn du nicht innerhalb von zwei Minuten auf der Matte stehst, schick ich dich sofort heim.«

Rapp fasste es als Befehl auf, schnappte sich seine Tasche und trabte zum Schuppen. Hurley sah zu, wie er sich hineinduckte, merkte sich die Zeit auf der Digitaluhr und lief zurück auf die Veranda. Er stellte seinen Kaffeebecher am Rand der glänzend weiß lackierten Bodendielen ab. Ohne auch nur über die Schulter zu blicken, zog er den Reißverschluss seiner Hose herunter und pinkelte in die Büsche.

4

Rapp entdeckte die Klappliege neben drei Etagenbetten. Typische Militärausrüstung. Nicht besonders bequem, aber um Längen besser, als auf dem Boden zu schlafen. Nachdem er sich bis auf die Unterhose ausgezogen hatte, öffnete er seine Tasche und holte ein paar Shorts und ein schlichtes weißes T-Shirt heraus. Kennedy hatte ihn angewiesen, nur Kleidung ohne Aufdruck mitzunehmen. Die übrigen Auszubildenden sollten keine Rückschlüsse ziehen können, woher er stammte. Sie waren strikt angehalten, untereinander nicht über ihre Vergangenheit zu reden. Rapp faltete seine Kleidung zusammen, verstaute sie in der Truhe, schloss diese und stellte die Tasche obendrauf. Er hätte den Rest auch noch ausgepackt, hörte aber, dass sein Ausbilder im Anmarsch war. Rapp nahm seine Position in der Mitte der ausgetretenen Matte ein und wartete kampflustig auf den großen Moment.

Hurley blieb neben dem Eingang des Schuppens stehen, nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und lockerte sich mit ein paar Streckbewegungen und Schulterrollen. Er ging nicht davon aus, dass ihm dieser Bursche sonderlich viel abverlangte, und beließ es deshalb bei einem letzten Dehnen der Wade, zog noch mal kurz an seiner Kippe und trat sie mit dem Stiefel aus. Sein Schützling stand bereits in Shorts und T-Shirt auf der Matte. Hurley musterte ihn. Trainiert, genau wie die anderen, aber seine Haltung wirkte viel zu leger und entspannt, was er sofort negativ vermerkte.

»Schultern zurück! Augen gerade und nach vorn!« Hurley schüttelte den Kopf und nuschelte etwas Unverständliches in sich hinein. »Ich hab wirklich keine Lust, Babysitter für dich zu spielen.« Er beugte sich vor, um Stiefel und Socken abzustreifen, und platzierte sie in einem akkuraten 90-Grad-Winkel am Rand der Matte. Die Socken faltete er vorher ordentlich zusammen, setzte die Sonnenbrille ab und legte sie auf den Socken. Er betrat die Matte und fragte: »Nach welchen Regeln?«

Rapp blieb ungerührt. »Das bestimmen Sie, Sir.«

Hurley lehnte sich ins Hohlkreuz, dehnte sich noch ein wenig, und meinte: »Da niemand dabei ist, um mitzuverfolgen, wie du den Hintern versohlt kriegst, können wir es ruhig wie zivilisierte Menschen austragen. Finger weg vom Gemächt und von den Augen. Keine Schläge gegen den Hals.«

»Würgegriffe?«