Gorch Fock


Seefahrt ist not!


Roman

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-203-6


Für Fragen und Anregungen: info@ruthebooks.de


RUTHeBooks
Johann-Biersack-Str. 9
D 82340 Feldafing
Tel. +49 (0) 8157 9266 280
FAX: +49 (0) 8157 9266 282
info@ruthebooks.de
www.ruthebooks.de

Verklärung einiger Schiffsausdrücke und plattdeutscher Wörter



ans - sonst (entstanden aus anders)

back brassen - einen Teil der Rahsegel so stellen, dass der Wind von vorn hineinfällt, wodurch das Schiff aus der Fahrt kommt; in übertragenem Sinne - stoppen

ballern - poltern, werfen, dass es knallt

bannig - sehr

barg - viel

batz - plötzlich

Black - Tinte

blangen - neben

Blösch - Eisscholle (Mehrzahl Blöschen)

Blutstropfen - Fuchsie

Boitel - Wicht, Kerlchen

Bünn - mittschiffs eingebauter, durch Löcher mit dem Wasser verbundener Fischbehälter

Bunge - Reifenstellnetz in Trommelform

Buscherump - Oberhemd (entstanden aus Burschenrumpf)

Büt - Beute, Strandgut

Buttpedder - Buttentreter, Neckname der Elbfischer

Daak - Dunst, Nebel

Dachhaus - Strohdachhaus

diesig - dunstig, unsichtig

Dönß - Stube

Draggen - vierzahniger Anker

Dreuchewer - Frachtewer, der keinen Bünn hat, also "trocken" ist

drok - dreist

Ducht - Bootsbank

dümpeln - schwanken, schaukeln

dwars - quer, gegenüber

Dweel - leinenes Tischtuch

Dweil - gestielter Schiffsfeudel

elk - jeder, jedes

Euschfatt - Holzschaufel zum Wasserausgießen

Ewer - zwei- oder einmastiger Segler auf der Elbe (der Name bedeutet Eber; vergl. Bollen - Bulle [Anleger], Buck - Bock [stumpfes Schiff])

Fall - Sand- oder Schlickriff, das sich durch den "Fall" der vom Wasser mitgeführten Bestandteile gebildet hat

fieren - herunterlassen

Flage - Schauer, Bö

Fleek - Fläche

Flögel - Windfahne auf den Masten (eigentlich Flügel)

Gaffel - oberer Segelbaum (-Gabel)

Gatt - Hinterteil des Schiffes

gau - schnell

Geutjen - Kinder (eigentlich Gänschen)

Giekbaum - Schlagbaum, unterer Segelbaum

gnostern - knirschen

Grientje - schmieriges Lachen

gucheln - in sich hinein lachen

Heck - Hinterwand des Schiffes

heilen, ausheilen - ein Netz flicken

Helmholz - oberer Teil des Ruders (Steuers)

Hemdsmauen - Hemdsärmel

hieven - aufziehen

hild - eilig

Hödjihöh - Ahoi

Huk - Ecke (holländ. hoek)

jumpen - springen, aus dem Englischen

Jalk - Tjalk, kleines breitbugiges Frachtfahrzeug

Kambüse - Küche, auch Schiffskajüte

Kapp - Deckverschluß der Kajüte

Kapuze - Wandbett mit Schiebetür

Kastetten - Staket

Kieker - Fernrohr

Kimmung - Horizont

klamüstern - grübeln

Klitsch - leichte Mütze

Klür - Farbe, Couleur

klüsen - scharf segeln, hart ankern, dass das Wasser durch die Klüsen (Kettenlöcher) kommt

Kluten - Erdstück

Knipptasche - Geldtasche, Portemonnaie

kodimmen - kondemnieren, ein Schiff abschlachten

Kolosen - Vorhänge, Rouleaus

krüssen - ersticken

Kule - Vertiefung, Senkung, Wasserloch

Kurre - Schleppnetz

Kurrgut - Netzgarn

labsalben - die Masten und Stengen schmeeren

lavieren - kreuzen, hin und her segeln

Lee - die dem Winde abgekehrte Schiffsseite

leege Wall - gefährliche Nähe von Land

Liek - Tau, das das Segel einfaßt

Liekedeeler - Gleichteiler, mittelalterliche Seeräuber der Nordsee

Luv - die dem Winde zugekehrte Schiffsseite

Macker - Kamerad, Gefährte

mall - krank, verrückt

meuten - aufhalten (inne Meut - entgegen)

mooi - gut, schön, angenehm

mörr - mürbe

Muck - schmale Henkeltasse (engl. mug)

Nachthaus - Kompaßhäuschen

Neß - Nase, Westspitze von Finkenwärder

Nock - Ende der Rah

Nüff - Nase

offermorgen - übermorgen

Patt - Pfütze

Pek - Schlittenhaken

Plicht - kleine Koje

Poller - kurzer Deckspfahl

Posensteel - Gänsekiel, Federhalter

Priel - schmaler Wasserarm

Putt - Sumpf

Pütze - Schiffseimer, an einem Tau befestigt

Ramm - Hexenschuß

raum ist der Wind, der von hinten kommt

Reepschläger - Seiler

reffen - die Segel durch Zusammenrollen verkleinern

Reff - der zusammengerollte Teil des Segels

Rickels - Zaun

Riemen - Ruderstange

rollen heißt die Bewegung des Schiffes um seine Längsachse

Ruder - Steuer

sacken - sinken

Schallen - Schlickvorland

Scharben - scharfschuppige Schollenart

schechten - ausschreiten

Scheger - Holzbrettchen, das beim Netzmachen die Maschen hält

scheistern - schwanken

Schleef - Schlingel, eigentlich großer Löffel

schölen - spülen, waschen

Schote - unteres Segeltau

Schütt - Hauszaun

schwoien - drehen (nur von Schiffen)

Setzbord - Reling, Bordwand

Sickberg - Eisberg

Siel - kleine Schleuse im Deich, aus hohlen Baumstämmen gemacht

slarpen - lässig, schlürfend gehen

sleupen - schleppen

Smutje - Schiffskoch

Spake - dicke Holzstange zum Bewegen des Spills (s. d.)

Spill - Ankerwinde

stampfen - die Bewegung des Schiffes um seine Querachse

Steert - Netzende, eigentlich Schwanz

Stegel - Weg vom Deich ins Land hinab

Streek - Strich, Zug

Stremel - Streifen, Stück

Stropp - dickes Tau

Stubben - Baumstumpf

stur - aufrecht (vom Mann), hart (vom Wetter)

Tamp - kleines Tau

Tamp legen - ein Schiff anbinden

Törn - Reihe, Tour, Zug, auch Schlinge

treunen - betteln

troß - stolz

Tunner - Zunder

Vogel Bunt - Vagabund

Wake - Wasserstelle im Eis

Warbel - Drehriegel

Wanten - Taue, die die Masten seitlich halten

Wart - Enterich

Wichel - Weide

Wiem - Hühnerstall

Winsch - Winde

Wisch - Wiese

ziepen - piepen (ein Fahrzeug ziept, wenn es ein wenig leckt).

 

 

Inhalt




Erster Stremel

Zweiter Stremel

Dritter Stremel

Vierter Stremel

Fünfter Stremel

Sechster Stremel

Siebenter Stremel

Achter Stremel

Neunter Stremel

Zehnter Stremel

Elfter Stremel

Zwölfter Stremel

Dreizehnter Stremel

Vierzehnter Stremel

Fünfzehnter Stremel

Letzter Stremel

Verklärung einiger Schiffsausdrücke und plattdeutscher Wörter

 

 

 

Erster Stremel



"Insonderheit aber bitten wir dich für die, die auf dem Wasser ihre Nahrung suchen. Segne, segne die Fischerei auf der See und im Fluß, behüte Mann und Schiff in allen Gefahren!"

Pastor Bodemann beugte den grauen Kopf tiefer als zuvor. Da hatte er laut und warm für seinen alten Kaiser gebetet, laut und warm, wie es ihm von Herzen kam, nicht leise und kalt, wie sein Vorgänger, ein zäher Welfe, der nur der kirchlichen Vorschrift nachgekommen war: "Laß deine Gnade groß werden über deinen Knecht Wilhelm, unsern Kaiser und Herrn, und über das ganze kaiserliche Haus."

Die gefurchte Stirn berührte fast das schwarze Tuch, mit dem die Kanzel vom Sonntag Reminiszere bis zum stillen Freitag bedeckt war. Es schien, als wenn die Stimme ihm versagte und er aufhören müßte. Und er hielt überwältigt inne und ließ die große Stille kommen.

Totenstill wurde es in der Kirche auf Finkenwärder. Regungslos saß die Gemeinde. In die Augen kam eine Dunkelheit wie von aufsteigenden Tränen.

Und die See nahm das Wort, die Nordsee, die Mordsee, mit ihren jagenden, zerrissenen Wolken, mit ihrem pfeifenden, brausenden Sturm, mit ihren haushohen, schäumenden, brüllenden Seen, mit Brand und Wetterleuchten, mit Dünung und Gewitter, mit geborstenen Segeln, gebrochenen Masten, blakenden Notfackeln, verlorenen Wracken und hilferufenden Fahrensleuten.

Und es war niemand da, der nicht ihre Stimme vernommen hätte.

Die hellhaarigen Jungen auf den Bänken neben dem Altar, die als große Schleefen zu den gegenübersitzenden Konfirmandinnen hinübergelacht und ihnen zugenickt hatten, verjagten sich, legten beschämt die Hände zusammen und sahen vor sich hin, weil ihnen in der heiligen Stille die Väter und Brüder in den Sinn kamen, die draußen waren, und weil sie daran dachten, dass sie nach Ostern selbst in die Fischerei hineinkamen.

Auch bei den rotbäckigen Mädchen wurde es still. Alle falteten rasch die Hände, und manches Kinderherz bebte, vergessen war, dass sie abends am Deich einzuhüten hatten und dass die Jungen dort vor den Fenstern trommelten und pfiffen, bis sie hineingelassen wurden und Blindekuh oder Sechsundsechzig mitspielen durften.

Gesine Külper, die schönste Deern der Hamburger Seite des Eilandes, um die die Junggäste einander Sonntag abends auf Musik bannig in die Wanten stiegen, weil keiner sie dem andern gönnte und jeder sie nach Hause bringen wollte, senkte die Wimpern und neigte den stolzen Kopf, nicht allein, weil sie wußte, dass es ihr gut stand, sondern auch um die Seefischerei, um alle Freundschaft, Bekanntschaft und Verwandtschaft, die unter Segeln war.

Auch Hein Loop betete mit, der Rotbart vom Auedeich, den sie den Seeteufel nannten, wenn er nicht dabei war, Hein Loop, einer der Verwegenen, der Verwogenen, wie sie an der Wasserkante sagen, einer von denen, die nicht reffen und nicht beidrehen mögen, die mit allen Lappen segeln und mit jedem Winde fischen, denen es ergeht wie dem jungen Lord von Edenhall:

sie schlürfen gern in vollem Zug,
sie läuten gern mit lautem Schall,

die mit dem Glück von Edenhall anstoßen und es wohl auch einmal versuchen. Die See schmecke ihm erst dann, wenn sie gar sei, und gar sei sie nach seiner Meinung erst, wenn sie koche, hat Hein Loop einmal gesagt, und jeder, der ihn kannte, glaubte es ihm. Aber nun betete er, denn er wollte den andern Tag mit seinem Kutter nach See, up de Schullen dol, und konnte mooi Wind und mooi Fang gebrauchen.

Auch Jan Greun, Simon Fock und Hinnik Six, seine Macker, die nicht weit hinter ihm saßen, ließen das Kirchenwort in die unerschrockenen Seemannsherzen hinein, wenn sie in Gedanken auch ein kräftiges Sprüchlein achteran hingen, das bei Jan hieß: Herr Pastur, de verdreihten Dänen ne vergeten! Bei Simon lautete es: Amen, Herr Pastur: ober dat Is mütt irst innen Dutt, ans kann ik ne rut! Und bei Hinnik besagte es: De Büt, Herr Pastur, de Büt, de Büt, de hürt dor ok mit to!

Von den mittleren Bänken kam ein Weinen und Schluchzen. Dort saßen die Seefischerwitwen, in ihren schwarzen Kleidern und mit den dunkeln Kopftüchern wie morgenländische Klageweiber anzusehen. Der letzte Jahrgang hatte die Stirnen auf der harten Holzlehne liegen, als sei kein Leben mehr in ihm: so wollten es die Sitte und der Schmerz. Zuhinterst saß die greise Geeschen Witten, tiefe Runen im Gesicht, das einer Landkarte ähnlicher sah, als einem Menschenantlitz. Sie konnte nur noch für Tote beten, denn alles Leben hatte sie der See gegeben: ihren Vater, der dreiundvierzig vor der holländischen Küste über Bord gekommen war, ihren Mann, der in den sechziger Jahren während der Äquinoktien untergegangen war, ihren Bruder, den sich die See fünf Jahre später bei Amrum geholt hatte, ihre beiden Söhne, die vor neun Jahren mit ihrem neuen Ewer verschollen waren. Sie wohnte ganz allein in ihrem großen, leeren Dachhaus, zwischen Netzen und Segeln, die die Gebliebenen zurückgelassen hatten, und wunderte sich, dass sie immer noch lebte und dass auf ihrem Kirchenplatz nicht schon lange eine andere saß.

Einer aber war da, der hatte den Kopf nicht gesenkt und die Augen nicht zugemacht: Thees to Baben, der Segelmacher und Spökenkieker, der Blut stillen, Krankheiten besprechen, Hexen bannen und Schweine zum Fressen bringen konnte und die Gabe des Vorsehens und Vorhörens besaß. Er beobachtete den Pastor scharf, und als Bodemann die Augen schloß, machte Thees seine weit auf und starrte durch das verbleite Fenster, bis er ihn kommen sah, den langen, heimlichen Zug, der vom Deich stieg und über die Äcker, Gräben und Wischen wallte, ohne eines Weges oder Steges zu bedürfen, der durch die von selbst sperrweit aufgehenden Türen drängte und die Kirche füllte. Lautlos und gespenstisch besetzte er alle leeren Plätze und alle Gänge. Kopf an Kopf standen sie, die gekommen waren, die gebliebenen Fahrensleute, die alten und die jungen, die Schiffer und die Knechte. Mit weitgeöffneten, wasserleeren Augen sah der Segelmacher sie an. Wie sie über Bord gespült waren, standen und gingen sie, das Wasser leckte ihnen von den Südwestern, glänzte auf den Ölröcken und quoll aus den Seestiefeln. Der Spökenkieker sah sie und lugte, ob sie einen unter sich hatten, dessen Untergang am Deich noch nicht bekannt geworden war. Dabei blieb er ruhig, denn er war an Spuk gewöhnt: nur, wenn einer der Toten ihn ansah, schüttelte er den Kopf, als wenn er sagen wollte: an den Segeln hat es nicht gelegen, dass ihr geblieben seid: die Segel waren gut! Wobei er allerdings voraussetzte, dass er sie auch wirklich gemacht hatte.

Endlich - ein erlösendes Husten unten im Schiff, ein befreiendes Scharren oben auf dem Chor, ein dreistes Sperlingsgeschrei draußen in den Erlen und Eschen. Da vergingen Gespenster und Gedanken, die Sonnenstrahlen fingen wieder an zu spielen und Alt-Bodemann bekam seine Sprache zurück. Und als er dann bei seinem Herrgott um den Hausstand anhielt und alle, die dazugehörten, um gottesfürchtige Eheleute, Eltern und Herren, gehorsame Kinder und frommes und getreues Gesinde, da war die große Stille vorüber: die Konfirmanden machten wieder ihre verstohlenen Zeichen, die Mädchen kicherten und stießen einander im geheimen an, Gesine Külper dachte an den ersten Schnellwalzer, Thees Segelmacher stützte die Ellbogen auf die Brüstung und hörte so nipp zu, als wenn er noch Pastor werden wollte, und die Fahrensleute rollten die Prüntjer geruhig wieder hinter die Kusen.

Klaus Mewes, der junge Seefischer, der in der Nähe der Orgel auf dem Chor saß, war von der Erinnerung an seinen Vater freigekommen, die ihn jäh befallen hatte, und konnte sich wieder seines guten Platzes freuen. Denn er hatte sich so zu Anker gehen lassen, dass er nicht allein recht in der Sonne saß, sondern auch aus dem Fenster sehen konnte. Hinter den Wischen und Gräben sah er den hohen Deich aufragen und über den Stroh- und Pfannendächern der Häuser gewahrte er die Masten der Fischerfahrzeuge, die auf den Schallen und am Bollwerk lagen, und die Rauchwolken der Dampfer, die im Fahrwasser, hart am holsteinischen Elbufer, auf und ab fuhren: Dinge, die ihm Hirn und Herz mit Mut und Freude füllten!

Wenn er dieses Mal gleichwohl nicht sonderlich darauf achtete, so konnte nur sein Junge schuld daran sein, der unter seinen Augen unermüdlich neben der Kirche im Gras auf und ab ging. Er freute sich wie ein Stint, dass er ihn nicht mit hereingenommen hatte, wie es eigentlich seine Absicht gewesen war, als der Junge ihm mit dem Hund nachgekommen war und gesagt hatte, sie wollten das Gesangbuch tragen und ihn bis an die Kirchentür bringen. Denn hätte der Vogel Bunt so lange ruhig gesessen und geschwiegen? Sicherlich nicht - er wäre bald aufgestanden und umhergelaufen und hätte geguckt und gezeigt und gefragt und getan: beim stillen Eingangsgebet in der Fensternische hätte er gefragt, wie jener Bauerjunge vom Osterende getan hatte, als er seinen Vater in den Hut gucken sah: Du Vadder, lot mi ok mol innen Hot kieken! Den Klingelbeutel hätte er in den Händen gewogen und ausgerufen: Junge, Junge, Vadder: dor is ober plenni Monne in! Und Geeschen Witten hätte er laut gefragt: Diern, Geeschen, wat schreest du? Hest du dien Ontjen woll nix to freten geben? Wenn er aber zur Ruhe ermahnt worden wäre, hätte er geantwortet: ick bün vörn Pastur ne bang, Vadder! - oder eingewendet: de lebe Gott is ne bi Hus, Vadder, de kann mi nix seggen!

Es war weder vorwärts noch rückwärts aufzuzählen, was er alles angerichtet hätte, und es war besser, dass er draußen seine Wache abreißen mußte.

Der Seefischer lachte in sich hinein.

Als sie vor der Kirche angelangt waren, hatte Jochen Rolf sich zu ihnen gesellt und schalkhaft-ernst gemeint: wenn der Junge mit hinein wolle, müßten ihm wohl erst die Taschen durchsucht werden, damit er keine Steine bei sich behalte und sie dem Küster an den Kopf werfe. Solle er aber draußen bleiben, dann wäre nur zu wünschen, dass der Pastor es kurz und knapp mache, damit der Junge nicht die Geduld verliere und alles in Brand stecke. Worauf der Vogel Bunt die Kirche von oben bis unten angeguckt und dann ernsthaft erwidert hatte, die brenne ja gar nicht, weil sie ganz aus Stein gemacht sei. - Da war dem Seefischer ein köstlicher Einfall gekommen, er hatte den Jungen bei der Hand genommen und neben die Kirche gelotst, ihm dort einen Apfelbaum und einen Birnbaum gezeigt und ihm gesagt, der eine sei der Großmast und der andere der Besansmast und zwischen ihnen sei der Fischerewer und rechter Hand sei Steuerbord und linker Hand sei Backbord. Dat brukst mi ne to vertillen, hatte der Junge geeifert, dat weet ik jo all lang! Na, dann solle er aufpassen, war des Seefischers Entgegnung gewesen, er wolle einmal ausfindig machen, ob der Junge schon etwas könne, ob er schon zu etwas zu brauchen sei: darum solle er auf dem Ewer zwischen den Bäumen eine Wache nehmen, wie auf See in der Schollenzeit, zwei Stunden hindurch. Der Kompass läge Nordwest an: er solle darauf achten, dass er nicht aus dem Kurs komme, solle aufpassen, dass die Segel immer voll Wind seien und nicht klapperten, und guten Ausguck halten, damit er keine Haverei mit andern Fischerewern habe. Der Junge hatte wie ein Großer genickt und war von Herzen damit einverstanden gewesen, er hatte sogleich das Deck mit großen Schritten ausgemessen, hatte Großmast und Besan mit den wirklichen Masten verglichen und den Kopf in den Nacken geworfen und die Äste auf ihre Eignung zu Giekbaum und Gaffel geprüft.

"Van Burd dött ik ober doch ne gohn, ne, Vadder?" hatte er noch gefragt.

"Och du Dösbattel," war des Seefischers Erwiderung gewesen, "kannst du ok van Burd gohn? Büst doch up See, is doch all Woter üm di rüm."

"Is ok jo wohr! Wat is Seemann denn?"

"Seemann?" Klaus Mewes hatte den struppigen Hund ergriffen und an den Birnbaum gesetzt. "Sitten blieben, Seemann! Dat is dat witte Nachthus, Störtebeker, un sien Nüff, dat is de Kumpaß." Nun wisse er wohl alles: er brauche nicht immer am Ruder zu stehen und das Helmholz festzuhalten, sondern könne geruhig auf Deck hin und her gehen, wie die Fischerleute es täten, hatte der Seefischer geschlossen und war in die Kirche getreten, während der Junge unter dem Geläut der Glocken und dem Gebraus der Orgel an seine erste Schiffswache gegangen war.

Jetzt war Bodemann schon mitten in der Predigt, und der Junge ging immer noch ernst und wachsam zwischen Apfel- und Birnbaum auf und nieder, als ob er wirklich an Bord sei, denn er wollte beweisen, dass er schon groß genug wäre und allein die Wache gehen könne. Er wollte zeigen, dass er schon mit der See klar kommen könne, damit sein Vater ihn im Sommer mit auf den Ewer nahm, wie er ihm versprochen hatte. Wie nach Segeln blickte er nach den Zweigen hinauf. Einen Buchfink, der im Wipfel des Apfelbaumes saß, ließ er sich als Flögel gefallen. Er hatte die Hände nach Fischerart tief in die Hosentaschen gesteckt und pfiff gefühlvoll vor sich hin, spuckte auch einmal großartig in die See hinein, als wenn er bange sei, dass er kein Wasser genug habe und aufs Trockne komme.

Es schien stürmisch zu sein, denn alle Augenblicke wehte ihm das weiße Nachthaus über Bord, sei es, weil eine Ratte über den Graben schwamm oder weil sich eine Katze auf der Wurt des nahen Bauernhofes sonnte. Junge, was war das für ein Stück Arbeit! Was sollte der Wachhabende tun? Nachlaufen konnte er nicht, denn ringsherum war Wasser, das keine Balken hatte: er verlegte sich deshalb auf Rufen und Pfeifen, und wenn das nicht half, dachte er schließlich: och wat, nu jump ik eenfach ober Burd: ik kann jo swümmen - und lief nach der Wurt oder nach dem Graben, ergriff sein Nachthaus und schleppte es zurück, wobei er pustete, als wenn er wirklich im Wasser sei, stellte es wieder an den Birnbaum und sagte: "Du müß sitten blieben, Seemann, ans hebb ik keen Kumpaß!" Dann guckte er verstohlen nach den Kirchenfenstern hinauf, denn er war sich nicht ganz sicher, ob er über Bord springen durfte.

Klaus Mewes sah es wohl und högte sich über ihn, während ihm das Blut, das die Sonnenstrahlen geweckt hatten, heftig und stark in den Schläfen klopfte. Das war sein Junge, der kleine Mann mit den hellen Haaren, den blauen, nordischen Augen und dem wettergebräunten Gesicht, der eine graue, wollene Matrosenmütze aufhatte, um den Hals ein schottischbuntes Tuch trug, einen weißblauen Buscherump und eine marineblaue Büx anhatte und auf braunen Segeltuchschuhen ging, wie ein Janmaat, der auf Freiwache ist und sich landfein gemacht hat. Das war sein Junge! Wer den so gehen und stehen sah, dem mochte wohl das Gedicht von Uhland einfallen: Jung Siegfried war ein stolzer Knab - und durch die Brust seines Vaters brauste ein solches Lied, das die Orgel übertönte.

Wieder nahm Klaus Mewes sich freudig und heilig vor, einen Fahrensmann aus ihm zu machen, einen Seefischer, einen so furchtlosen und verwegenen, wie Finkenwärder noch keinen gehabt hatte. Noch diesen Sommer wollte er ihn mit nach See nehmen, ob auch die Mutter weinte und die Leute den Kopf schüttelten. Lachend wollte er ihnen trotzen, denn er war es nicht gewohnt, auf andere zu hören, weder an Land noch auf See. Wie seinen Ewer, so steuerte er auch sein Leben selbst.

Ja, Klaus Störtebeker sollte ein Fischermann werden!

Der Junge hieß Klaus Mewes, wie er selbst, aber das ganze Eiland, mit Ausnahme von Gesa, nannte ihn Klaus Störtebeker, einmal, weil er wirklich ein großer Strömer und Liekedeeler war, ein Brite und Tunichtgut, dann, weil sein grüner Kahn diesen Seeräubernamen an Steven und Gatt trug, schließlich auch wegen des Großvaters, dem er noch ähnlicher sehen sollte als seinem Vater, wie die alten Leute behaupteten, - der auch Klaus Mewes geheißen hatte, wegen seines Freibeutertums aber allgemein Störtebeker genannt worden war. Was den kleinen Klaus Mewes anbetraf, so war der mit seinem Seeräubernamen so einverstanden, dass er auf seinen wirklichen nicht mehr hörte: rief einer Klaus, so sagte er: Klaus gifft en ganzen barg! - nannte ihn einer Klaus Mewes, so erwiderte er: dat is mien Vadder, du anner! - erst bei Störtebeker ließ er sich ermuntern und antwortete.

Klaus Mewes freute sich. Wie treu der Junge Wache ging, wie genau er das Deck abmaß! Da war kein Schritt zu viel und keiner zu wenig! Wenn er sich beim Birnbaum umdrehte, vergaß er niemals, nach dem Kompass zu sehen und die Segel zu überholen; wenn er beim Apfelbaum angekommen war, spähte er luvwärts und leewärts über die See. Mit großem Behagen und einiger Verwunderung bemerkte der Seefischer diese Einzelheiten, die ihm sagten, dass der Junge ihm und den anderen Fahrensleuten schon viel mehr abgeguckt hatte, als er glauben wollte. Nichts störte den kleinen Fischer, der wußte, dass er auf See war und kein Land in Sicht hatte, und sich weder um die vorbeigehenden Kinder bekümmerte, noch den vorüberrollenden Wagen nachlief.

Dass der Seefischer bei diesem Ausguck viel von der Predigt hörte, war nicht zu verlangen: er wurde kaum gewahr, dass der goldene Stern oben an der Orgel klingend lief, einem Hochzeitspaare zur Feier, und hätte sogar den Klingelbeutel übersehen, wenn der ihm nicht pall unter die Nase gehalten worden wäre. Nur der Gesang lenkte ihn eine Zeitlang von seinem Jungen ab, denn es brauste gewaltig durch die Kirche: Krist Kyrie, komm zu uns auf die See! Im Innersten ergriff es ihn, denn das war kein Gesang mehr: wie ein weher Ruf, wie ein todesbanger Schrei hörte es sich an und schlug wie Meereswogen um die kahlen Pfeiler, es war, als wenn die Stürme sich wieder erhöben und die See und die Herzen aufwühlten, die Segel und die Seelen zerrissen, als wenn Geisterlaute, die Stimmen der Ertrunkenen, der Verschollenen sich hineinmischten. So furchtbar drückte der Küster auf die Tasten, der an seinen gebliebenen Sohn dachte, so übermächtig sangen die Fahrensleute.

Klaus Störtebeker sah sich besorgt um und dachte, es komme Wind auf, weil es mit einem Male so brauste. Aber er durfte und wollte sich nicht bange machen lassen und ging deshalb wieder auf und ab zwischen den Bäumen, deren Stämme der Hasen und der Raupen wegen mit Kalk bestrichen waren. Unverdrossen hielt er aus, bis der Mond aufging, der stille, milde Freund der Menschen: Peter Wittorfs rundes, glänzendes Vollmondsgesicht erschien in der Schalluke auf dem Turm. Die Glocke mit der Aufschrift: Ut dat Füer bün ik floten / Peter Struve hett mi goten - begann, sich leise knarrend zu wiegen, schwang sich höher und höher, bis der Klöppel dröhnend gegen den Mantel schlug und das helle Geläut sich erhob. Die Türen wurden aufgestoßen, die Jungen stürmten heraus, als sei drinnen eine Feuersbrunst ausgebrochen, die Mädchen drängten nach, dann kamen die Fahrensleute und die Frauen: da ging das Nachthaus bellend in die Binsen und war nicht wieder in Sicht zu bekommen, so laut Störtebeker auch rief und pfiff. Aber wenn er nun auch ohne Kompass war, so hielt er dennoch getreulich aus und verließ seinen Posten nicht, bis sein Vater lachend zu ihm trat und ihn erlöste.

Ob er auch Haverei gehabt hätte? Nein, nur das Nachthaus wäre siebenmal über Bord gekommen! Ob der Fang gut gewesen sei? Ja, bannig gut, ein feiner Streek, hundert Stiege, große Südschollen!

"Deubel ok, du kannst dat ober!" lobte Klaus Mewes.

"Jä, Vadder, dat harrst di woll ne dacht, wat? Nimm mi man mit no See, denn schallst mol sehn, wat wi de Fisch belurt!" sagte der Junge mit blitzenden Augen und fuchsklugen Nasenlöchern.

Der Seefischer aber warf ihm das Gesangbuch hin und erwiderte, sie wollten erst mal sehen, ob die Klütjen noch schmeckten. "Kumm, Seemann!" Und er schechtete groß und heiter auf dem Kirchenweg entlang und überholte eine dunkle Reihe nach der andern. Immer größer wurden seine Schritte, so dass Störtebeker in Sprüngen laufen mußte, um mitzukommen, und Seemann, der weite Wege gar nicht gewohnt war, weil er sonst nur von Backbord nach Steuerbord zu wackeln brauchte, seine rote Zunge als Notflagge aussteckte, was Klaus Mewes aber nicht bewegen konnte, sich aus der Fahrt laufen zu lassen.

Der Seefischer lachte und sprach laut, ohne sich an die mißbilligenden Blicke der Alten zu kehren. Was ging es ihn an, dass auf dem Kirchenwege nicht gelacht werden sollte? Er tat, was er wollte, und aß, was ihm schmeckte, der große Klaus Mewes, der getrost seine Segel dem Winde bot, weil er keinen mürben Kram fuhr, der wußte, dass er den besten Ewer unter den Füßen hatte, mit dem sich etwas beschicken ließ, und der Herr und König seines Lebens war. Nicht umsonst hatte er Tag und Nacht, bei jedem Wind und Wetter, seine deutsche Flagge auf der Besan wehen: das war der Tiefe seines Wesens entsprungen und entsprach seiner Liebe zu seinem Fahrzeug, seiner Wikingerlust an der Seefahrt. Hatte der Wind das bunte Tuch zerfetzt, dann zog er unbekümmert eine neue Flagge auf und ließ weder Furcht noch Aberglauben in seine Seele hinein. Sonnigen Herzens pflügte der glückliche Fischer die See, lachend strich er den reichen Segen ein, den sie für ihn hatte, und wenn der Fische noch so viele waren. Fremd war ihm das alte heidnische Gefühl, das den Bauer bewog, sein Feld nicht ganz zu mähen, sondern eine Ecke Hafers stehen zu lassen, für die Götter, für Wotans Schimmel.

Sie sagten, man solle und dürfe niemand aufs Wasser weisen. Wer den Weg nach dem Schiff nicht von selbst finde, aus dem könne doch kein Seemann werden: am besten aber sei es immer noch gewesen, wenn einer gegen seiner Eltern und aller Willen zur See gegangen sei. Was scherte das Klaus Mewes, den Lachenden? Er sprach mit seinem Jungen nichts als Fischerei und Seefahrt und erfüllte ihn mit nichts anderem, als dass er Fahrensmann werden müsse und solle. Was für Last haben die Frauen am Deich, dass sie die Kinder vom Graben und von der Elbe fernhalten, dass sie sie aus den Böten und Kähnen herausbringen! Goh man ne bit Woter! ist ihr zweites und drittes Wort. Was tut Klaus Mewes? Er lacht und sagt: "Goh man betjen bit Woter, Störtebeker! Schipper man mol, klüs man mol not Fohrwoter raf, seil man betjen, swümm man mol, dor liggt de Boot, dor is de Kohn!"

Und eines brannte er dem Jungen wie mit glühendem Eisen ins Herz und drückte es tief und unverwischbar, unauslöschlich ein: Ne bang warrn! Nicht bange werden, sonst kommst du nicht mit nach See! Nicht bange werden, zu keiner Zeit und Stunde, einerlei, ob es hell oder dunkel ist, ob es donnert oder blitzt oder weht, weder auf dem Wasser noch an Land, weder in den Masten noch auf den Bäumen, weder vor Menschen noch vor Tieren, weder vor Lebendigen noch vor Toten! Nicht bange werden, nicht bange werden!

Und der Junge nahm es auf, wie das Segel den Wind. Bang dött ik ne warrn, ans komm ik ne no See, sagte er sich immer wieder, wenn ihm etwas Furcht einjagen wollte, und wurde dreist und verwegen, wie sein Vater es wollte.

Sie hatten die Höhe des Deiches erreicht, und Klaus Mewes blickte aufatmend über die Elbe. Und wenn er auch die Fischerewer noch im Wintereise sitzen sah, das nicht von den Schallen schmelzen wollte, so fischte und segelte er doch im Morgenlicht mit allen Segeln bei Helgoland. Und wenn Störtebeker sich auch noch mit dem Gesangbuch abschleppte, so hatte er ihn doch schon an Bord und wies ihm die Feuerschiffe vor der Elbe und die Lotsenschoner auf See.

Da grüßte sein Ewer über das Eis, er sah seine Flagge flattern - und seine Seele faßte noch mehr Wind, als sie schon bereichte, denn sie setzte die letzten und höchsten Segel.




Laßt mich nur auf meinem Sattel gelten,
bleibt in euern Hütten, euern Zelten,
und ich reite froh in alle Ferne
über meiner Mütze nur die Sterne.

Goethe

Zweiter Stremel



Klaus Störtebeker stand auf dem Deich, hatte die Hände hohl um den Mund gelegt und rief die Leute. "Kap Horn un Hein, wat eten! Wat eten! Wat eten!"

Endlich entstiegen sie der Kambüse, winkten mit der Hand, zum Zeichen, dass sie verstanden hätten, und kamen über das Eis.

Dann setzten sie sich drinnen zu Tisch, wie es sich gehörte. Auf der Bank mit dem Blumenkranz und dem Namen und der Jahreszahl saß zu oberst der Schiffer, rechts von ihm der Knecht, der Bestmann, vor ihm der Junge, Störtebeker aber neben ihm auf dem bunten Bankkissen.

Gesa trug die vollen dampfenden Schüsseln auf. Es gab frische Suppe mit bunten Korintenklütjen. Safran, Suppenkraut und Muskatnuß fehlten nicht daran, und ein Stück Fleisch, wie ein halber Ochse groß, kam dazu auf den Tisch.

Eine stille Pause, dann ergriff Klaus Mewes den großen, blanken Schöpflöffel und füllte sein Fatt, seinen Teller. Als er genug hatte, gab er den Löffel dem Knecht. Störtebeker bekam ihn zu allerletzt, obgleich er vielleicht am hungrigsten war. An der alten Schiffsordnung, die am Deich galt, durfte nicht gerüttelt werden, obschon Klaus Mewes sich sonst wahrlich nicht an das alte Wort kehrte: Fleesch förn Schipper, Klütjen förn Knecht, Kantüffeln förn Jungen. Er gab ein Essen, wie es selbst die großen Bauern nicht besser geben konnten.

Bi Disch ward ne snackt: das war nichts für Klaus Mewes, da hätte ihm wohl einer ein Pechpflaster auf den Mund backen müssen, wenn er das gesollt hätte. Er sprach und lachte, ohne sich etwas dabei zu denken, und ließ sich auch durch die verweisenden Blicke seiner Frau nicht aus dem Kurs bringen.

Störtebeker aß fünf Klöße, Gotts den Donner, wat kunnt angohn! "Vörre Hand weg, Vadder," versicherte er, "ohn uttoseuken; wenn ik no de lütjen langt harr, harr ik wenigstens söben upkregen."

"Oder söbenuntwintig," gab der Knecht trocken drein, aber Störtebeker verstand den Spott nicht.

"Ik wull, wi eten irst lebennige Schullen, Vadder, de smeckt noch en barg beter!"

"Dat wull ik ok," rief Klaus Mewes und blickte nach seinem Ewer hinaus.

Er hätte ja die Schollen annehmen können, die Jan-Ohm von der Aue geschickt hätte, meinte Gesa, aber er wehrte ab und sagte, das wäre ja noch schöner, wenn der Fischermann sich die ersten Schollen ins Haus bringen ließe! Gott solle ihn bewahren: die müsse er selbst aus der See geholt haben oder sie schmeckten ihm nicht. Er sah seinen Jungen an:

"Ne, Störtebeker?"

"Jo, Vadder!"


* * * * *


Nachmittag standen die drei am Fenster und knütteten, Klaus der Schiffer, Kap Horn der Knecht und Klaus Störtebeker. Hein Mück der Junge hatte Urlaub genommen: die drei aber klapperten mit den Schegern und fuhren mit den Nadeln in der Luft herum, obgleich Gesa mit der Sabbatschändung uppen Sünndagnomerdag keineswegs einverstanden war und eine Lippe zog. Aber die Netzmacher ließen sich nicht stören.

Kap Horn war der Bestmann, der Steuermann, Klaus Mewes sein Knecht. Er hieß eigentlich anders, aber auf Finkenwärder nannten sie ihn allgemein Kap Horn. Viele sagten auch Korl Horn, namentlich die Gören.

Er war ein Janmaat alten Schlages, der lange Jahre auf großen Schiffen gefahren hatte, auf hamburgischen und englischen, der im Süd-Atlantik Albatrosse geangelt und bei Grönland Walfische harpuniert hatte und dreißigmal unter der Linie durchgekommen war. Warum er dann noch von der großen Fahrt abgemustert hatte und vom Viermastvollschiff auf den Fischerewer geklettert war, weiß ich nicht: er fuhr aber schon zwölf Jahre bei Klaus Mewes und war schon fast zu einem Finkenwärder geworden, nur in seiner Sprache war noch ein hamburgischer Ton und er gab noch oft ein englisches Wort drein. Und dann hielt er sich als alt- und weitbefahrener Matrose für etwas Besseres als die anderen Fischerknechte, die doch höchstens einmal holländisch oder dänisch sprechen gehört hatten.

Wenn jemand mit Fahrten und Reisen prahlte, dann pflegte er einfach zu fragen: "Kap Horn?" Und wußte der andere dann nicht einmal, was gemeint war, so spuckte er minnachtig aus; verneinte er, so drehte er sich um und sagte, mit Bierfahrern verkehre er nicht, bekam er aber ein Ja als Antwort, so fragte er schnell: "Veel mol?"

"Dree oder so." Dann lachte er und sagte: "An mi kannst nich klingeln, old boy: ik bün soßtein Mol um Kap Horn seilt un nu lot dien Prohlen man en bitten no." Bei einer solchen Gelegenheit war er auch Kap Horn getauft worden.

Nun stand er backbords von seinem Schiffer am Fenster und war bei einer weißen Manillakurre, Klaus Mewes arbeitete an einem Zungensteert, mit dem er nur langsam weiter kommen konnte, und Störtebeker hatte etwas in der Mache, von dem er steif und fest behauptete, dass es eine Bunge werden sollte, ein Reifenkorbnetz für Hechte und Schleie, während Kap Horn auf ein Zwiebelnetz riet und Klaus Mewes es für eine Staatsgardine für den Krähenkäfig hielt. Sie hatten es gleich wichtig. Wie Weberschiffchen flogen die Nadeln hin und her und auf den Schegern reihte sich Masche an Masche. Dabei aber wurde ausgiebig geklönt, denn niemand hatte uppen Stutz zu mindern und Maschen zu zählen, also besonders aufmerksam zu sein. Einmal frischte Kap Horn sogar ein altes Matrosendöntje von St. Pauli auf und begann zu singen:

"In England geiht dat lustig her,
dor bot se Scheepen grot un swor,
een bannig Deert von Ungetüm
dat sall jo de Gretj Astern sien!
Lang is dat Deert twee dütsche Mil,
hoch annerthalf von Deck to Kiel!
Soß Masten, hoch bet an den Moon,
acht Dog brukt een, um roptogohn ..."

Weiter kam er aber nicht, denn Gesa, die nach dem Graben gewesen war und die Enten gefüttert hatte, trat in die Dönß und untersagte ihm den Hymnus mit den Worten: "Sünndogs ward ne sungen, Korl!"

Gesa, die ihren Jungen stets Klaus nannte und von seinem gräßlichen Seeräubernamen nichts wissen wollte, gab auch Kap Horn nicht seinen Spitznamen, sondern nannte ihn ehrbar Korl und meinte ihm wunder was für einen Gefallen damit zu tun. Janmaat verdeffendierte sich aber:

"Wenn ik arbein sall, mutt ik ok singen, Gesa."

"Arbein schall? Keen seggt di dat? Pack dien Kurr man getrost tohop un mok man Fierobend un les man mol inne Bibel," priesterte sie, und als Klaus Mewes herzlich lachte, fuhr sie erregter fort: "Ji dree sündt jo woll ne, sünd woll rein mall worden, stillt jo uppen Sünndag vört Finster hin un knütt! Weet ji ok, keen sünndogs arbeit?"

"Uns Herr Pastur!" sagte Klaus.

"Ne, de Bedelmann! För uns Lüd is de Week dor!"

Klaus erwiderte gelassen, es müsse aber sein, denn es sei Tauwetter und das Eis könne jede Tide abtreiben, so dass sie fahren müßten, er wolle und wolle die beiden Kurren bis dahin aber fertig haben, denn in der Fischerei unterbliebe das Knütten doch wieder.

Und er müsse seine Bunge auch klar haben, verteidigte Störtebeker sich, denn sein Vater solle sie ihm noch einstellen. Was sie wohl meine, die ganzen Gräben säßen voller Hechte.

Dann sollten sie mit ihrem Kram nach der Küche oder nach dem Boden oder nach dem Ewer gehen, fing Gesa wieder an, die sich über sie ärgerte. Sie sollten sich doch nicht von den Leuten sehen lassen, denn am Deich sprächen sie sicherlich wieder davon und hielten sich darüber auf.

"Lot jüm, Mudder," erwiderte Klaus sorglos, "ik blief doch hier, mag to giern sehn, wenn welk uppen Diek langs goht un mi inne Finstern kiekt."

Und er füllte die Nadel, die leer geworden war, und knüttete weiter.

Gesa aber ging kopfschüttelnd aus der Stube und machte sich in der Küche zu schaffen, von wo sie über die Bauerndächer und Obstbäume nach ihrer Heimat sehen konnte, nach den blaugrauen Bergen der Geest. Sie konnte die Fischer nicht verstehen! Sie war noch keine Fischerfrau geworden und fühlte wieder mit bitterem Schmerz, dass aus ihr niemals eine werden konnte. Immer noch graute ihr vor dem Wasser, und alle Schiffahrt war ihr fremd und unverständlich. Sie konnte sich nicht helfen. Das eine ließ sich nicht abschütteln und das andre nicht lernen. Klaus rüstete mit Gewalt zur Fahrt: sie sah ihre böse Zeit kommen, sie hörte schon den Regen gegen die Fenster schlagen und den Wind an der Tür saugen und wußte nicht, wie sie es wieder ertragen sollte, ihren Mann auf See zu wissen. Sie liebte ihn tief und heiß und lag in seinen Armen wie im Sonnenschein, aber seine Fahrten machten sie bange und sie wünschte im Herzen nichts sehnlicher, als dass er kein Seefischer wäre, sondern Bauer oder Handwerker oder sonst etwas anderes an Land. Könnte er nicht etwas anderes beschicken, könnte er nicht sein Fahrzeug verkaufen, wie andere Fischer es getan hatten?

Aber Klaus Mewes - und das tun? Sie mußte doch lächeln über den Gedanken. Bis Blankenese müßte es gewiß zu hören sein, sein Lachen, wenn sie davon spräche, dass er an Land bleiben solle.

Da saß sie nun in ihrem Glück, um das die ganze arme Heide sie beneidete, war eine große Seefischerfrau mit Haus und Hof und Deich, der jede Reise die Hundertmarkscheine auf den Tisch flogen, und war doch nur ein armes Weib voll Unruhe und Bangigkeit, die immer und überall Wetter und Wolken aufsteigen sah und ihres Lebens nicht froh werden konnte. Wie manchen Tag sehnte sie sich schon nach der stillen, einsamen Geest zurück, wo sie nichts von Schiffen und von Seefahrt gewußt hatte, wie manchen Tag, wenn die Elbe in Gischt und Schaum einherging! Wie manche Nacht ließ der Wind sie nicht einschlafen, wie manches Mal jagten die Blitze sie aus dem Bett, wie oft schreckten sie die Stimmen der geängstigten Schiffahrt im Nebel! Und immer allein zu sein! Der Mann war auf See, der Junge auf der Elbe! Mit den Finkenwärder Frauen aber hatte sie wenig Verkehr und Freundschaft, weil sie fühlte, dass sie als Butenländerin nicht ganz für voll angesehen wurde.

Wie wichtig sie es in der Dönß hatten! Als wenn sie sie gar nicht vermißten! Wie sie lachten, Klaus Mewes am lautesten!

Dieses Lachen hatte es ihr angetan, als er um sie geworben hatte, denn so hatte sie noch niemals jemand lachen gehört! Das hatte sie in seine Arme gedrängt, hatte sie von der Geest in die Marsch gelockt, von dem Heidehof in das Fischerhaus, und hatte sie nicht an die Not und Schwere des Seefischerlebens denken lassen. Vergessen war es gewesen, was sie gehört und gelesen hatte von Sturm und Untergang: wo einer so lachen konnte, da konnte weder Unglück noch Gefahr sein, hatte sie gemeint, als Klaus sie freite.

Er lachte noch just so wie damals, er hatte es noch nicht verlernt, aber sie konnte es jetzt nicht mehr ohne Schmerz hören, es schnitt ihr ins Herz, wenn sie an das Finkenwärder Elend, an die Witwen und Waisen, an all die Tränen und unruhigen Stunden dachte, es kam ihr wie ein Frevel, wie eine Sünde vor. Dass er so verwegen war, machte ihr das Herz noch schwerer, und eine trübe Ahnung früher Witwenschaft hing ewig wie ein dunkles Gewölk über ihrem Leben.

Wie laut sie erzählten, die beiden Seefischer! Gewiß von nichts anderem als von Fahrt und See, und die durstige Seele des Jungen trank es. Der war schon der See verfallen, war dem Deich und ihr schon verfremdet und wurde es von Tag zu Tag mehr. Es war ja schon ausgemacht, dass er den Sommer mit an Bord solle: all ihr Bitten war bisher vergeblich gewesen.

Es war ein Herzleid, ein hartes Leid! An sie und ihre Heide dachte kein einziger, niemand bekümmerte sich darum. Wie lange Zeit war sie nicht mehr zu ihren Eltern gekommen, die ihren Enkel kaum kannten! Klaus lachte, wenn sie davon sprach, sie solle gern hingehen und alle grüßen, aber was er auf der Geest beschicken solle? Er könne auch so weit nicht laufen. Den Jungen bekam sie nur mit halber Gewalt dazu, dass er mitging. Seitdem er wußte, dass sein Vater sich nichts aus der Geest machte, trug auch er kein Verlangen danach. Dort sei für einen Seefischer nichts zu lernen, echote er, dort gäbe es ja nur Heide und Sand und Steine und weiter gar nichts.

Schließlich aber ging Gesa doch nach der Dönß zurück, weil ihr zu kalt wurde, suchte ihr Strickzeug her und setzte sich neben den weißen Kachelofen.

"Kiek mol an, Mudder knütt ok, Vadder," rief der Junge lustig, "kiek mol an, Kap Horn, un uns will se wat seggen!"

Da mußte sie wider Willen doch mitlachen.

"Wat sä de Pastur denn Godes, Klaus?" fragte der Knecht, "hette ok beet, dat dat Is bald doldrifft un wi no See seilen könnt?"

"Jo, dat segg man," sagte Klaus und riß grimmig an seiner Kurre, "ik wull, dor keum mol Westenwind achter!"

Er blickte über die Schallen, auf denen die Fleek, das dicke Eis, schon seit Fastelabend lag. Bis an den Nienstedter Fall, bis in die Mitte der Elbe stand es noch, zwar schwärzlich und mürbe, aber es hing doch noch zusammen. Dagegen war das Fahrwasser drüben schon fast frei von Eis, dort trieben nur noch große und kleine Schollen. Dort segelten denn auch schon die Fischerfahrzeuge vom Audeich, dem anderen Ende des Eilandes, dort kreuzten schon die Dreuchewer und Jalken, dort fischten schon die Altenwerder Jollen nach Stinten und Sturen und die Hamburger Smietnettfischer nach Butten, während das Neßgeschwader, das aus dreißig Ewern, neun Kuttern, sieben Wattjollen, einigen fünfzig Elbjollen und Böten bestand, noch im Eise festsaß und nicht mitkonnte. Die Auer und Blankeneser kamen schon mit den ersten lebendigen Schollen die Elbe herauf, einige hatten schon große Reisen nach der Weser gemacht: Klaus Mewes aber und seine Nachbarn saßen noch fest. Wenn der Eisbrecher binnen Wasser genug gehabt hätte, wäre ihnen längst geholfen gewesen, aber der große Beißer konnte nur eben den Rand ein wenig glatt fressen.

Klaus Mewes sah, dass zwei weiße Kutter von einem kleinen Schlepper von Blankenese heraufbugsiert wurden, die sicherlich den Bünn voller Schollen hatten, und kam sehr in Fahrt. Seine Gedanken zertrümmerten das Eis und brachen sich einen Weg nach dem offenen Wasser.

"Kap Horn, wat meenst dorto, wenn wi sülben Isbreker speelt?" rief er.

"Wat seggst du, Klaus? Du wullt en Isbreker utgeben?" fragte der alte Janmaat, der gerade mit brausendem Monsun in den Segeln zwischen dem Kap der guten Hoffnung und Singapur schipperte und deshalb nicht zugehört hatte.

"Wi weut di bi Isbrekers," warf Störtebeker laut dazwischen, "swarten Kaffe schallst du hebben!" Klaus aber hatte seinen Plan schon unter Segeln. "Wi möt allemann bi," rief er, "Hütz mitte Mütz, Lütjfischers un Seefischers, Schippers un Lüd! Wi stekt uns beiden Kurrlienens ut un spannt uns alltohop vör un denn teht wi an! Schallst mol sehn, wo gau wi denn not Fohrwoter raf kommt!"

"Jä!"

"Wat jä? Meenst, wat wi ne soveel Hölpslüd uppen Hümpel kriegt?" fragte der Schiffer.

"Ik hilp ok mit," versicherte der Junge wichtig, "ik kann wat tehn, Vadder!"

"Du bliffst hier, Klaus," kam es aber mit Gegenwind vom Ofen her, "meenst du, wat du dor ünnert Is kommen schallst!"

An Hilfsleuten würde es wohl nicht fehlen, gab der Knecht zu, aber wer würde sein Fahrzeug zum Eisbrecher machen wollen? Das sei der Knoten!

Der am weitesten im Eis stecke, erwiderte Klaus. Er selbst! Er wolle es wagen, sein Ewer sei einer der stärksten und könne es am besten ab, er wolle gleich am andern Morgen alles klar machen, und Kap Horn solle dann den Deich abklopfen und es aussingen, dass die Eisbrecherei mit Hochwasser anfangen solle. "Denn könt wi offermorgen all up de Schullen dol, Mudder!"