Blatter, Silvio Das sanfte Gesetz

PIPER

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-95307-8

März 2017

© Piper Edition, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Piper Verlag GmbH, München 2017

erstmals erschienen 1988 beim Suhrkamp Verlag

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

FÜR

LOUISE BLATTER

UND WIEDER FÜR MONA UND LISA

Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel

1

Das Wasser der Reuss floss und floss nach Norden, und es gab ein paar Orte, wo mit bloßem Auge nicht auszumachen war, durch welches Jahrhundert der Fluss dahinströmte.

Hell dehnte sich der Himmel über dem Freiamt.

»Stell Dir die Gegend ruhig und weitläufig vor – oder denkst Du, eine Landschaft am Fuß der Alpen könne so nicht sein?« Laura hatte die Karte mit diesen Sätzen in ein Buch gelegt und schon lange vergessen.

»Der Garten liegt verwunschen, inmitten von Bäumen steht das Haus mit der hölzernen Veranda.«

Die benachbarten Häuser flimmerten im frühen Nachmittagslicht, als seien sie nicht aus Stein gebaut, sondern aus einem beweglichen Stoff, der funkelte.

Laura machte eine Aufnahme.

Auf dem Bild gewannen die Häuser ihre Festigkeit zurück.

Eine Katze hockte auf dem Geländer der Veranda, Laura holte sie ins Suchfeld der Kamera. Die Katze ließ sich nicht stören, auch als der Motor den Film ausstieß und auf der matten Fläche Farben erschienen, blieb sie unverdrossen und reglos. Laura hielt dem Tier das Bild vors Gesicht. Die Katze kümmerte sich nicht um den Zwilling, der da wuchs und Umriss bekam. Sie leckte den Stern auf ihrer Brust und war damit beschäftigt.

Heute beginnt der Frühling, sagte Philip.

Er hatte Laura beim Fotografieren zugeschaut.

Meinst du, fragte sie.

Er muss, erklärte Philip, die Tage werden wieder länger, das ist ein physikalisches Gesetz.

Die Katzen wechselten ihr Fell, sie verloren den Winterpelz, in allen Teppichen und Kissen steckten ihre Haare.

Laura und Philip waren beide Mitte Dreißig.

Philip betrachtete Laura.

Sie war die Frau seines Vaters.

Den Frühling kümmerte weder Gesetz noch Kalender, er ließ sich weitere fünf Wochen Zeit, dann erst leuchtete das Gelb des Löwenzahns in den Wiesen, blühten die Kirschbäume, schimmerten die Blüten des Schwarzdorns weiß zwischen dem hellen Grün der Buchen. Der Wald erschien ganz licht, und am frühen Morgen, noch nass vom Tau, schwebte das Lila des Wiesenschaumkrauts blass im dünnen Bodennebel.

Laura hielt sich oft im Freien auf. Sie ging abseits vom Lärm und fotografierte: eine Amsel, die ihr Nest in einem Autowrack baute und das zerbrochene Fenster als Einschlupf benutzte, Bauern, die Kartoffeln pflanzten, eine Puppe im Gras, Taubnesseln auf Steinhaufen, Kriechenden Günsel am Weg, unscheinbar und versteckt

Menschen

Tiere

Blumen. Erst wenn du über die Wiese gehst und mit einem Schuh fünf Gänseblümchen zugleich zudecken kannst, sagte Laura, ist der Frühling wirklich da.

2

Jeder Mann hegt einen Traum.

Jeder alte Mann hortet in seinem Kopf eine Erinnerung, von der er nicht weiß, ob sie jemals mehr als eine Illusion gewesen ist. Er will es gar nicht wissen. Ein über lange Jahre lebendig gebliebener Traum bildet nämlich die stärkste Wirklichkeit, die ihn einholen und narren kann.

Bruno Wolf war ein Mann von sechzig Jahren.

Er schaute in den Spiegel.

Der Spiegel war eine Bilanz: Immobilien, Tankstellen, Wertpapiere und Getränkehandel.

Seit die Uhren nicht mehr tickten, verstrich die Zeit auf eine andere Art und Weise. Irgendwie, schien es Wolf, angemessener der Welt und ihren Geschäften.

Von seinem Arbeitszimmer aus sah er auf den Garten, wo sein Enkel Andreas im Gras lag und mit einem Kätzchen spielte. Tulpen und Narzissen blühten, Forsythien, die langen Zweige geschmückt mit freundlichen Blüten, trieben überall, und Teppiche kleiner Blumen wucherten über die Mauern angrenzender Grundstücke.

Bruno Wolf hatte Pläne.

Er dachte daran, mit italienischen Restaurants Geld zu verdienen.

Bruno Wolf besaß die naive Gabe, Idyllen als Motor für sein Handeln zu nutzen, ein vergnügter Enkel im Garten war ihm Anlass genug, an die Zukunft zu glauben.

Es wehte ein frischer Wind.

Zukunft war für Bruno Wolf nur ein anderes Wort für Erfolg. Und im Freiamt Pizza zu backen müsste doch Zukunft haben; Wolf fand, in seiner Rechnung sei kein Fehler.

Er traf den Entscheid.

Der Wind wehte aus der falschen Richtung.

Viele Mütter verboten ihren Kindern, am Sandkasten zu spielen.

Bruno Wolf war kein Mann, der sich mit Plänen und Fantasien nur die Zeit vertrieb. Ein Projekt, von dem er annehmen musste, es sei zum Scheitern verurteilt, ließ er rasch fallen. Sich damit zu befassen wäre verschwendete Zeit. Er schloss das Fenster.

Der Schatten eines Sportflugzeugs, das den nahen Flugplatz ansteuerte, zog durch den Garten. Die Katze holte ihr Junges und trug es am Nackenfell fort.

Wolfs Söhne, von denen jeder eine andere Mutter hatte, nannten ihren Vater der Blähungen wegen, unter denen er manchmal litt, und die fahrenzulassen die Natur ihn ja zwang, insgeheim den Furzer. Laut würde ihn keiner so rufen, weniger aus Furcht vor dem Alten denn aus Liebe und Gründen der Höflichkeit. Beide respektierten ihren Vater, den liebenswürdigen Tyrannen, der sich wieder an den Tisch gesetzt hatte und über seine laufenden und die neu anzugehenden Geschäfte nachdachte.

Gibt es etwas Prachtvolleres als blühende Bäume?

Nein, das gibt es nicht.

Zur Blütezeit der Kirschbäume war das Freiamt ein wundervolles Land. Wenn Bruno Wolf die Augen zukniff, um sich Weite vorzustellen, so erhaben schön wie Missouri, USA. »Der Lindenberg ist ein indianischer Hügel, die Kantonsstraße ein Blue Highway«, hatte Bruno Wolf Laura geschrieben, als er sie einlud, ihn in Europa zu besuchen. »Abenddämmer, und fern das Neonlicht einer Tankstelle mit demselben Schriftzug wie bei Euch in den Staaten: SHELL

Wolf schrieb seine Notizen auf Karteikarten, die wie ein Fächer ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lagen.

Wolf dachte daran, Imbissecken in seine Tankstellen einbauen zu lassen.

Wer seine Frau anruft und ihr mitteilt: du musst kein Abendbrot richten, ich bringe Pizza nach Hause, bekommt eine Rose geschenkt. Frauen lieben Männer, die mit einer Schachtel warmer Pizza und einer Rose heimkommen.

Morgen wollte er diese Pläne Philip vorlegen, dem älteren Sohn, seinem Berater, der ihm manchmal in der Sache widersprach.

Später dann Sandro.

Der Alte hatte die Absicht, dem jüngeren Sohn die Leitung der italienischen Restaurants anzuvertrauen.

Sollte er Laura auch einweihen?

Mit einem Glas Wasser stellte er sich wieder ans Fenster und blickte über Bäume und Hügel hinaus in den Himmel, der am Horizont blendend hell war. Der Tag roch nach frisch umbrochener Erde, der Tag roch nach Gras, das in den Silieranlagen trocknete, und ein wenig nach Verwesung. Der Tag roch nach Abgasen, der Tag roch nach Eisen, das Bremsklötze von den Rädern der Güterzüge abgeschabt hatten. Die Mischung der Gerüche, das war der Tag.

Bruno Wolf trank am liebsten klares Wasser vom Brunnen im Garten. Seinen Gästen bot er Wein aus eigenen Beständen an, und wenn es ihn auch freute, wie sie ihn lobten, so blieb er doch bei seinem Quellwasser. Es gab kein besseres Getränk, und er hatte gelernt, es zu genießen.

Bruno Wolf entschied sich, Laura seine Pläne noch nicht zu verraten. Auch mit Carmen hätte er nicht darüber gesprochen. Am ehesten vielleicht mit Verena, seiner ersten Frau, an die er häufig dachte, als sei die Erinnerung an sie eine Wunde, die niemals zu bluten aufhört.

Ich habe Lust auf Bohnen, hatte er einmal gesagt, noch hallte der Satz in seinem Kopf nach, und Verena gebeten, Bohnen mit Speck zu kochen,

vor dreißig Jahren,

als er damals nach Hause kam, war seine Frau nicht in der Küche. Die Wohnung schien verlassen, war still. Er hörte Geräusche von Besteck und Geschirr, die Nachbarn saßen beim Essen, und plötzlich vernahm er ein Wimmern, vom Garten her.

Das Herz, hatte der Arzt gesagt.

Im Garten hatte er Verena gefunden, tot zwischen den Bohnen lag sie, das weinende Kind neben sich.

Ein Riss der Aorta.

Und keiner hatte ein Unheil geahnt.

Es gab Tage, an denen Bruno Wolf sich nach Verena sehnte; sein Gedächtnis bewahrte das Bild seiner ersten Frau, er konnte sie nicht altern lassen.

Er war dreißig, sie arbeitet an seiner Seite.

Er war vierzig, an seiner Seite stand eine andere Frau.

Er wurde fünfzig,

er war sechzig geworden.

Und dachte nun manchmal: alter Mann.

Den Umstand, dass er allein hatte alt werden müssen, betrachtete Bruno Wolf als Schattenseite seines Lebens. Es war ein unverschuldetes Versäumnis. Darum blieb auch seine Melancholie immer stärker als jeder Anlass, mit dem er sich aufzuheitern suchte.

Es gab leider keine Frau, die alle Männer kannte, die er gewesen war, kein weibliches Herz hatte sein Leben in zärtlicher Obhut behalten. ER trug die Last der Erinnerung allein, ohne Korrektur. Mit jeder Frau hatte er nur eine beschränkte Zeit verbracht, Dauer war ihm nie vergönnt gewesen, und anstelle eines Ganzen hatte er sich mit Fragmenten abzufinden. In seinem Gedächtnis blitzten Bruchstücke auf, ähnlich bunten, von der Sonne getroffenen Scherben in der Asche, und Bruno Wolf erinnerte sich, wie Verena Erdklumpen von den Schuhen abstreifte oder am Abend die Schürze auszog, wie Carmen wütend die Tür des Autos zuschlug oder vor dem Ausgehen den Mund malte, wie Laura die Hände auf den Bauch legte, weil sie nur so einschlafen konnte, und ihm schien es, seine Frauen blieben immer ungefähr gleich alt, Frauen, die er sich in Ehen mit jüngeren Männern vorstellte, auch wenn er diesen Gedanken keineswegs liebte, im Gegenteil.

Gnadenlos alterte er fort.

Bruno Wolf hasste den Tod.

Zwischen den Bohnen hatte die Tote gelegen, die Finger gekrümmt wie eine Schläferin. Er konnte nichts mehr gutmachen. Dass man nichts mehr wiedergutmachen kann, war vielleicht das Schlimmste. Daher rührte die Schuld, die ihn seit diesem Tag verfolgte.

Stünde Verena vor ihm, würde er ihr wie früher mit der Hand das Haar aus der Stirn streichen. Schreckte sie wohl zurück vor dem alten Mann, vor seinen harten Händen?

So wie es ihm nicht gelang, sich Verena als Sechzigjährige vorzustellen, würde auch sie ihn nicht erkennen, wie er nun war: massig, mit einem fleischigen Gesicht und ganz ohne Haupthaar, mit zwar immer noch blauen, aber auch trüben Augen. Käme Verena heute in sein Haus, würde sie wohl in Philip ihren Mann vermuten. Diese Überlegung machte seine Traurigkeit bitter und stimmte ihn ärgerlich.

Das Wasser in seinem Glas war mildes Frühjahrswasser, er durfte es nicht zu kühl trinken. Im Sommer verstärkte sich sein Geschmack, mehr nach Erde und Eisen würde es riechen und etwas härter sein, dann trank er es ganz kalt. Bruno Wolf setzte sich an den Schreibtisch. Er drückte einen Schalter und sprach ein paar Sätze ins Diktafon.

3

Philip knackte mit den Fingergelenken. Seit seiner Jugendzeit machte er mit diesem Geräusch alle nervös. Nochmals überflog er den Brief, die Einladung für ein Klassentreffen, und ging in Gedanken die Namen seines Jahrgangs durch. Es fielen ihm nicht alle ein. Er wollte auch gar nicht alle erinnern, sie waren ihm gleichgültig. Vielmehr berührte ihn ein einziges, ein ganz bestimmtes Gesicht. Es wischte alles andere weg. Der Brief hatte ihm ein Lächeln in Erinnerung gerufen, Wasser auf gebräunter Haut, einen Duft und Gesten, Bilder eines Mädchens, die er längst ausgelöscht geglaubt hatte. Sie tauchten auf, als besitze das Vergessen keine Macht; sie waren einfach da, deutlich und stark, wie auferstanden, und er hatte gemeint, sie verloren zu haben, fast unbemerkt, unterwegs durch die Jahre.

Philip Wolf war gelernter Jurist und verwaltete die Liegenschaften der Familie, er diente seinem Vater als Rechtsberater und spielte im Unternehmen eine Rolle, die ihn manchmal auch langweilte.

Das Bedürfnis, seine Schulkameraden wiederzusehen, war nur gering. Was hatte er noch mit ihnen zu schaffen? Zwar spürte er auch Neugier, doch sie war ein zu vernachlässigender Grund, als er sich anmeldete, ja, obwohl es ihm ein Gräuel war, sich bereits für einen Anlass des nächsten Winters zu verplanen, sagte er seine Teilnahme zu: die Hoffnung, Margrit Fischer wiederzusehen, war stärker als alle Abneigung.

Erinnerungen erzeugten in Philip Wolf gemischte Gefühle. Er unterhielt ein gebrochenes Verhältnis zu ihnen, angemessen den frühesten Bildern seiner Kindheit, in denen er sich in einem Bohnenbeet sitzen und weinen sah, neben Mutter, die sich nicht mehr bewegte, die sich nicht mehr um ihn kümmerte, sondern mit geschlossenen Beinen ausgestreckt dalag, gefällt, das Gesicht gegen die Erde gepresst, das Schwarz ihres Haars wie ein Fächer ausgebreitet, unter dem der Kopf verborgen lag. Der Vater war in den Garten gerannt, atemlos. Er hatte die Mutter auf den Rücken gedreht, über ihre Stirn floh eine kleine Spinne.

Philip verdrängte die Gedanken an den frühen Tod seiner Mutter und besann sich auf das Leben, auf Margrit, und in die Erinnerung an sie mischte sich auch Begehren.

Er hörte das Aufklatschen eines Balls und Stimmen. Sandro spielte mit Andreas Basketball, sie übten Korbwürfe. Man hätte die beiden Spieler für Brüder halten können, und vielleicht fühlten sie sich auch entsprechend.

Andreas war Philips Junge, ein siebenjähriges Kind.

Ich will nie hundertjährig werden, erklärte Andreas.

Warum denn nicht?

In diesem Alter kann man sterben.

Philips Hoffnung, Margrit bei dem Klassentreffen zu begegnen, verengte sich zu einer Erwartung.

Sie kommt bestimmt.

Er stellte sich die Frau vor, die sie nun sein musste – sein könnte, sah sich auf sie zugehen, verhalten, zögerlich und doch auch entschlossen, mit einem Ausdruck im Gesicht, der ihn verriet. Die mögliche Begegnung ließ ihn ganz fiebrig werden, weckte seine Leidenschaft.

Margrit, ja?

Er würde das leichthin aussprechen, ihr die Hand hinstrecken und gleichzeitig mit dem Ja ihre Hand berühren.

Und zwischen ihnen wüchse eine Wand.

Wüchse keine Wand.

Margrit und Philip hatten es als Jugendliche versäumt, sich zu berühren, ihre Körper hatten einander verpasst, als sie noch frisch waren. Nun standen beide in einem Alter, in dem es für eine Umarmung wohl zu spät sein würde.

Warum zu spät?

Die Verkettungen, die Kerker.

Vermögen zwei Körper, die einander, als sie unverbraucht waren, heftig anzogen und wie gleichpolige Magnete auch abstießen, später noch zusammenzufinden?

Zusammenzuschießen?

Vielleicht litte jede Berührung an der Vorstellung, wie es damals hätte sein können, und die späte Liebe ähnelte einer traurigen Leibesübung.

Aus Gründen der Vernunft war Philip Jurist geworden, er hatte dem Drängen seines Vaters nachgegeben, ohne große Widerrede, vielleicht um ein Liebhaber der Literatur zu bleiben. Immer wieder spürte er das Bedürfnis, sich zurückzuziehen zur Lektüre, er liebte es, im ledernen Stuhl am Fenster zu sitzen – zu lesen und zu trinken. Bücher mit Gedichten, die es ihm nahelegten, sie auch zu schließen, um über die Verse nachzudenken, waren ihm die wichtigsten. Er saß gern da, einen Finger im Buch; eigentlich zog er dieses Aufgehobensein allen anderen Zuständen vor:

Im Erlenschatten, Liebste,

im Erlenschatten, nicht.

Unter der Pappel, ja,

dem Weiß und Grün der Pappel.

Weißes Blatt du,

grünes Blatt, ich.

Philip Wolf war sanft, sensibel, introvertiert. Aber mit dem untrüglichen Sinn dafür, wie stark und hart er auch sein musste, um sich im Wolfschen Unternehmen zu behaupten, obwohl er bestimmt kein Geschäftsmann aus Leidenschaft war. Er wäre das mitunter gern gewesen und beneidete den Vater um die Besessenheit und den nie erlahmenden Willen, sich einer Sache ganz zu verschreiben. Philip liebte schöne Dinge, er war verführbar. Ein Anzug aus nachtblauer Seide, eine kleine indianische Skulptur, eine Leselampe, italienisches Design: dem wollte er nicht widerstehen. Und die Gedichtsammlungen, die er immer wieder zur Hand nahm, hatte er sich in dunkelrotes Leder einbinden lassen, Alberti, Williams –

Das Mädchen Margrit hatte dunkles Haar und ganz helle Haut. In seiner Erinnerung saß sie auf einem Felsbrocken, der aus dem Fluss ragte. Er hockte neben ihr, die Knie angezogen und mit den Armen umschlungen. Sie hatten sich von einer Gruppe abgesetzt, die sich über das nahe Wehr treiben ließ. Er hatte Angst bekommen. Sie auch. Beiden klebte das Haar am Kopf, und auf der Haut sträubten sich die feinen Härchen.

Das war vor zwanzig Jahren, Philip.

Sie redeten über die Geometrieprüfung des Vormittags, über die Konstruktion des »Goldenen Schnitts«. Eine Scheu hinderte ihn, Margrit zu berühren.

Und dann hatte er sie aus den Augen verloren.

Die Stimme von Andreas störte Philip auf. Der Junge war ins Haus gekommen und suchte seinen Vater.

Hunger, rief er, ich sterbe vor Hunger.

Er war verschwitzt und übermütig, trat ins Zimmer und stellte sich vor seinen Vater hin.

Sandro spielt mit Laura Tennis, sagte er.

Sie gingen zusammen in die Küche. Philip gab dem Jungen eine Dose Cola, schnitt ein Sandwichbrötchen auf und füllte es mit Schinken.

Sandro Wolf, der Athlet der Familie, war vierundzwanzig Jahre alt und studierte Betriebswirtschaft. Er konnte ganze Tage mit Sport verbringen und schien dabei unermüdlich zu sein, eine Maschine. Seit langer Zeit, und manchmal so verbissen, als sei das Gelingen sein Lebensziel, übte er den »dunking«, ein Kunststück beim Basketballspiel.

Er müsse dabei so hoch springen, erklärte Andreas seinem Vater, dass er den Ball ohne Wurf in den Korb legen könne.

Wie ein Ei ins Nest, sagte der Junge und verlangte eine zweite Dose Coke und noch ein Schinkensandwich.

Sie hörten Schläge vom Tennisplatz her. Mit einem stumpfen Klang traf der Ball auf dem Boden auf, hell tönend sprang er vom Schläger weg, weich und etwas klirrend war das Geräusch nach dem Aufprall an der Umzäunung.

Bist du schon bei Großvater gewesen, fragte Philip.

Andreas grinste: Er hat mir fünf Franken geschenkt.

Wie geht es Mutter, fragte Philip.

Er konnte sich diese Frage nicht abgewöhnen, obwohl der Junge nie darauf einging.

Hast du Eis?

Philip ging zum Kühlschrank und holte eine Packung.

Mövenpick Walnuss, schwärmte Andreas, die putzen wir weg.

Er leckte mit der Zunge über den Mund. Und zusammen legten sie los. Philip zuerst etwas freudlos, bald mit zunehmender Lust, als er spürte, wie er dem Jungen beim Eisessen näherkam, in diesem albernen Wettbewerb, seine Hälfte als Erster zu schaffen.

Es gab Tage, da vermisste er den Jungen – dieses Einvernehmen, das möglich war mit dem Kind, Vertrauen: eine Nähe, die er immer auch bei Frauen suchte, mit einer Frau aber noch nie so blindlings erlebt hatte. Der Junge nahm ihn ohne Vorurteil an, und Philips Spannung löste sich, ein Vorbehalt verschwand, die Reserve, mit der er allen Menschen begegnete.

Meinst du auch Männer, wenn du Menschen denkst?

Ja, aber vor allem Frauen.

Bisher waren es stets Frauen gewesen, die sein Bedürfnis nach Nähe weckten.

Um es dann nicht mit ihm zu teilen.

Der Junge setzte sich auf seine Knie. Philip sog den wilden Geruch des Kindes ein, Schweiß, Gras, Katzenfell, Urin, getrocknetes Blut und Mövenpick Walnuss. Er küsste Andreas ungestüm auf Nacken und Hals. Als der Junge ihm das Gesicht zuwandte, fauchend wie ein Tiger, und ihm mit der Zunge über den Mund fuhr, schmeckte Philip seine Haut und die Cola.

Später gingen sie auf die Veranda und spielten Mensch ärgere dich nicht. Auf dem warmen Holzboden lag eine Katze, ihre Jungen spielten mit einer Maus, rissen ihr den Bauch auf. Die Sonne drängte durch das Laubwerk der Bäume, und da der Wind ein wenig wehte, schien es, von den Zweigen, die sich sacht bewegten, würde Silber stieben.

Auf dem Tennisplatz übte jemand Aufschläge.

Vor dem Haus, auf dem Weg, der zu den Feldern hinausführte, lagerte eine Gruppe Soldaten. Als einer von ihnen zum Rucksack ging, stolperte er über die Gewehre; man hörte das Scheppern der Magazine.

Gibt es einen Teufel, fragte der Junge.

Mit sechs Augen hatte er gerade das zweite seiner Männchen ins Ziel gewürfelt.

Beim nächsten Zug überholte ein blaues Männchen von Philip ein rotes von Andreas.

Zurück zum Start, grinste Philip.

Andreas fand das gar nicht lustig. Er ballte die Faust und schlug sie auf den Tisch.

Die Soldaten nahmen ihr Gepäck wieder auf und schulterten die Gewehre. An den weißen Stoffzeichen, die sie um den Helm trugen, erkannte Philip, dass sie sich im Manöver befanden. Es waren Markeure. Ein Offizier studierte die Karte, dann ging er voran, geräuschlos folgte ihm der Tross. Die Tarnfarbe der Kampfanzüge ließ die Männer zur Natur gehörig erscheinen, das Gelände schluckte sie auf.

Auf der ganzen Welt kann man nämlich Fußabdrücke des Teufels finden, sagte Andreas.

Er hatte nun drei seiner Männchen ins Ziel gewürfelt.

4

Mit jedem Atemzug inhalierten sie trockene heiße Luft, die Lungen wollten vor Anstrengung bersten, beim Laufen schmerzten die Beinmuskeln, der Schweiß tropfte ihnen von der Stirn, die Zunge klebte am Gaumen. Eine seltsame, eine die Nerven zerreibende Stille herrschte, alles vibrierte und schien sich zu spannen, als Laura sich auf den Aufschlag vorbereitete und Sandro den Ball erwartete.

Laura spürte den Puls in den Kniekehlen pochen, seltsam fahrig, als zupfe etwas an der Haut, sie warf den Ball hoch, höher als der Kamm des Lindenbergs am Horizont, und holte mit dem Schläger entschlossen aus. In der winzigen Spanne Zeit, auf seinem höchsten Punkt, stutzte der Ball, als überlege er eine Gegenwehr.

Aus, rief Sandro.

Laura nahm mit dem zweiten Ball Maß, warf ihn hoch, etwas schräg nach links, und diesmal stimmte die Länge. Doch Sandro schlug eine schnelle Rückhand, der sie nur hinterher staunen konnte.

Du widerwärtiger Muskelprotz, schimpfte sie.

Er zeigte ihr die Faust und lachte.

Der Tennisplatz befand sich hinter dem Garten. Bruno Wolf hatte ihn für Laura und Sandro anlegen lassen. Hin und wieder schaute er zu, wenn die beiden spielten, gern an einem lauen Abend im Sommer. Ohne Krawatte, im kurzärmligen Hemd, saß er im Schatten eines Baums und beobachtete das Spiel wohlwollend freundlich, aber ohne sich um den Spielstand zu kümmern. Er verfolgte das doch monotone Hin und Her des Balls, um sich zu entspannen. Er suchte Ruhe und Zerstreuung. Darum blieb er nie ungeteilt aufmerksam, er gewährte seinen Gedanken freien Auslauf, Düfte atmete er ein und versuchte, sie mit der Nase zu bestimmen, Augen hatte er für die kleinen weißen Bälle und für die Vögel des Himmels. Ihm war egal, wer das Match gewann. Die Schwalben jagten um die spitzen Türme der Klosterkirche, ihre Rufe tönten in den Abend, und das tat ihm wohl.

In der Seele, sagte Bruno Wolf.

Er klopfte mit den Knöcheln der rechten Hand auf die Brust, als schwebe die Seele in dem Gewölbe aus Knochen und Fleisch, frei wie Spinnweb vor der Fensterrose in einem Dom.

Noch im vergangenen Sommer hatte Bruno Wolf selbst Tennis gespielt. Allerdings war ihm bei dieser Betätigung nie ganz wohl gewesen. Das Schultergelenk schmerzte bei jedem Aufschlag, und seine Füße waren zum Laufen zu schwach.

Ich bin für Tennis zu schwer, sagte er.

Das war ein Beschluss.

Du bist lediglich zu ehrgeizig, antwortete Sandro.

Kurze Bälle hasste Bruno Wolf geradezu.

Sinnlos startet man, läuft Richtung Ball und kommt doch zu spät, sagte er mit unverhohlener Ironie.

Ja, er war losgerannt und hatte gewusst, ich komme nicht an den Ball. Er hatte den Kopf über sich selbst geschüttelt, war aber dennoch gelaufen, jedes Mal, Bruno Wolf, der ewige Kämpfer, der niemals eine Sache aufgab, selbst das Verlorene nicht.

Nach dem Match ging Laura zurück ins Haus.

Sandro übte allein. Er hatte die Maschine eingestellt und kämpfte mit einhundert Bällen gegen einen imaginären Gegner. Immer denselben Schlag übte er, knallte den Ball auf immer denselben Punkt ins Feld hinter dem Netz. Und jedes Mal, wenn er dabei an etwas anderes dachte als an den auszuführenden Schlag, wenn er etwas anderes fixierte als den zu treffenden Ball, jagte er diesen ins Netz oder ins Aus.

Konzentrier dich ganz auf den Schlag, hatte er Laura belehren wollen. Denk einmal gar nichts, sei Bewegung, sei nur dieser Schlag.

Ist das noch Tennis, hatte sie gefragt.

Ist das nicht Zen?

Laura fühlte sich gut. Sie lebte gern in Muri, im herrschaftlichen, alten Haus mit dem verwunschenen Garten, zusammen mit Bruno Wolf.

Als Wolfs Dritte.

Du hattest unter den gegebenen Umständen gar keine Chance, eine andere als die Dritte zu werden, tröstete sie sich selbst. Nicht einmal in den delikaten Angelegenheiten des Herzens war ihr die freie Wahl vergönnt.

Laura mischte Campari mit Soda und gab Eis ins Glas. Sie legte sich ein Frottiertuch um den Nacken und trat auf die Veranda hinaus, wo Philip noch immer mit Andreas spielte. Das Glas in der Hand, machte sie ein paar Dehnübungen. Die Eiswürfel klirrten, als sie einen Fuß gegen das Geländer presste und die Achillessehne dehnte. Sie konnte beim Wippen in ihr Zimmer schauen, das unaufgeräumt war. Bücher, Wäsche, ein Kassettenrecorder, Bälle und der Tennisschläger lagen verstreut auf dem Boden. Ein Sekretär aus Kirschbaumholz war überladen mit Papieren und Briefen, zuoberst lag die Polaroid-Kamera.

Die von mehreren Zimmern aus erreichbare Veranda erstreckte sich über die ganze Hausfront und verlieh der Wolfschen Villa eine südliche Note, was einen seltsam berühren musste im Freiamt, dem schwermütigen Landstrich.

Seit meiner Kindheit schwärme ich von so einem Haus, hatte Laura gesagt, als sie die Veranda zum ersten Mal betrat. Ein ähnliches Haus steht außerhalb von St. Louis, erwiderte Bruno Wolf, es fehlen nicht einmal die Ahornbäume.

Er hatte sich gegen das Geländer gelehnt: eine Katze strich um seine Beine, und er hob sie hoch mit behutsamer Zärtlichkeit. Ja, hatte sie sich eingeredet, der Entscheid, seine Einladung anzunehmen, ist richtig gewesen.

Laura lockerte den Wadenmuskel des Beins, das sie belastet hatte, sie massierte das Gewebe über der Ferse und tastete eine Sehne ab, die seit Tagen gereizt war.

Der Garten war auch ein Revier, er verriet die Schwäche der Wolfs für Katzen. Kreuz und quer verliefen ihre Pfade, ein Netzwerk im Gras, dessen Sinn nur den Tieren verständlich war, den ungezählten Katzen, die sich am frühen Abend auf der Veranda zur Fütterung einfanden, Katzen, die sich tagsüber irgendwo aufhielten und wie herbeigezaubert plötzlich da waren, Katzen, die man weder kommen noch gehen sah, aber im Frühjahr und Herbst nachts manchmal hörte, wenn sie sich im Garten stritten und so paarten, dass Lust und Schmerz sich im selben Ausdruck fanden.

Die Eisstücke schmolzen in dem von der Kälte beschlagenen Glas, es war angenehm, sie mit der Zunge gegen den Gaumen zu pressen oder zu lutschen, obwohl der Gesichtsnerv die Kälte unvermittelt ableiten und in ein Auge schießen lassen konnte.

Was unterscheidet das Leben von einem Traum?

Aus Träumen wacht man auf.

Doch vielleicht ist das Leben nur ein Traum, aus dem wir noch nicht aufgewacht sind.

Vom Garten, in den man über die Veranda gelangte, führte ein Weg am Tennisplatz vorbei aufs freie Feld hinaus. In langen Reihen standen Kirschbäume, dahinter erstreckten sich Felder mit Raps, Mais und Korn, auch fettes Wiesland, bis zum Wald. Auf den Äckern staksten Krähen umher, und zur Erntezeit fielen vom Seetal her Möwen gierig in die reifende Frucht ein.

Laura zog die Tennisschuhe aus, der rote Sand hatte unter den Knöcheln den Schuhrand nachgezeichnet. Ein Kätzchen kam herbei und tapste mit der Pfote nach den sich bewegenden Zehen.

Auf dem Kiesplatz, den man von der Veranda her sah, parkte ein hellblauer Ford. Eine fette schwarze Katze schlief auf der Motorhaube.

Laura setzte sich zu Philip und Andreas.

Sie spielte mit den grünen Männchen, und ein Fremder hätte die drei für eine ganz gewöhnliche Familie gehalten.

Philip gefiel diese Vorstellung gut.

Er sehnte sich nach der Idylle. Vater und Sohn, das blieb sich gleich. Doch der Name der Frau wechselte ständig in seinen Träumen:

Laura, Margrit,

nein, Sabine nicht mehr.

Er hatte ein Faible für das Weibliche, aber seine Beziehungen glückten ihm nie. Insgeheim betrachtete er Lauras gerötetes Gesicht; nach dem Tennisspiel zeigten sich die Fältchen in den Augenwinkeln besonders deutlich, als hätte die Anstrengung sie vertieft. Laura setzte ihr Männchen um fünf Felder vor. Für eine Frau hatte sie erstaunlich große Hände. Ring trug sie keinen. Fast wirkten ihre Gelenke zu schmal, die Ellenbogen rundeten sich gleich wie das Kinn.

Was machst du, wenn du unbewaffnet bist und ein Nashorn dich angreift, fragte Andreas.

Philip und Laura überlegten, doch keinem fiel eine zwingende Abwehr ein.

Ziemlich schwierige Frage, sagte Philip, direkt ein Grund, nie auf Safari zu gehen.

Du musst dem Nashorn auf den Rücken springen, meinte Andreas.

Warum, fragte Laura.

Dann kann es dich nicht mehr sehen.

Das Spiel war aus. Laura ging unter die Dusche und nahm Andreas mit. Philip trank den letzten Schluck Burgunder, der Wein hatte sich auf der Veranda zu sehr erwärmt.

Eine Trattoria, darauf hatten Vater und er sich geeinigt. Philip beurteilte die Wahl des Namens ganz sachlich: Trattoria, die Information, Wolf, der angesehene Name. Der Alte würde einmal mehr recht behalten, das Geschäft könnte sich durchaus lohnen, die Pläne hatten Hand und Fuß.

Trattoria Wolf: für Gäste, die ein Restaurant mit italienischer Ambiance dem Dunst ländlicher Gaststuben im Freiamt vorzogen.

Philip hörte die laufende Dusche und das Lachen des Jungen. Laura kitzelte ihn beim Waschen. Dann wurde es still, nur noch das Wasser rauschte in die Wanne.

Vielleicht seifte der Junge nun Laura ein.

Mit einer Frau so zusammen sein wie mit dem Kind, es stellte sich immer wieder als unmöglich heraus. Die Zuneigung zu einem Kind war unverfänglich, die Beziehung eindeutig und klar. Im Umgang mit einer Frau verkomplizierte sich jedes Wort, und jede Berührung erlangte eine Wichtigkeit über sich selbst hinaus: die Beziehung saugte sich mit Bedeutung voll wie eine Niere mit Gift.

Philip hatte seine Ehe als Abnützungsschlacht, als Krieg der Geschlechter erlebt.

Mit dem Kind Nähe – mit der Frau Clinch.

Für Andreas empfand er eine absichtslose Liebe. Ja, Philip liebte seinen Jungen und es tat ihm weh, nicht täglich mit ihm zusammen sein zu dürfen. Die Scheidung von Sabine hatte er mit der Trennung von Andreas bezahlt. Der Preis war viel zu hoch, so grausam – es spielte überhaupt keine Rolle mehr, welche Anlässe dazu geführt hatten.

Philip ging ein paar Schritte in den Garten hinaus und setzte sich auf den Rand des Brunnens. Das letzte Sonnenlicht flackerte in den Bäumen wie in schwankenden Lampen und verlöschte jäh. Körper waren die Bäume jetzt, ausatmende Körper.

Er wünschte sich, in Einklang mit den Bäumen zu leben.

Sei nicht so schwärmerisch, Philip.

Sabine hätte so sprechen können.

Warum liebt der Mensch Bäume?

Dem Baum entspricht das Dableiben, hatte er einmal zu ihr gesagt, Bäume sind leicht zu entwurzeln, aber nur schwer zu verpflanzen.

Quatsch, hatte Sabine gesagt, ich liebe Bäume auch und wäre dennoch am liebsten in New York.

Es gab Momente, in denen Philip Sabine hasste. Er hatte dann Lust, sie zu verletzen, es reizte ihn, ihre Wohnung zu stürmen, die Räume zu verwüsten und seinen Jungen zu holen. Auch ein paar Bücher hätte er gern mitgenommen. Sabine hatte sie bei der Scheidung behalten, doch sie gehörten ihm, sie fehlten ihm, wenn ein Satz ihn beschäftigte und er ihn nachschlagen wollte, es machte ihn wütend und traurig zu wissen: das Buch, in dem die Stelle zu finden ist, verkümmert in einem mir unzugänglichen Regal.

Am schlimmsten war es, den Jungen zu vermissen und zugleich die Tröstungen des Buches entbehren zu müssen. Dann trank er zu viel.

Es verstimmte ihn auch, wenn er auf ein Buch zu sprechen kam und sagte, Augenblick, ich hole den Band –

Verloren, die verlorenen Bücher standen bei Sabine. Einige hatte er wieder angeschafft. Doch ungelesene Bücher sagten Philip wenig. Der Gebrauch verlieh einem Buch Bedeutung, erst die Lektüre schuf seinen Wert. Viele Bücher hatte er nochmals gelesen, um sie nicht bloß wie eine Ware zu besitzen. Geh doch zu Sabine, hatte ihm Sandro geraten, sag ihr, diese Bücher gehören mir, ich will sie haben.

Gib ihr Geld dafür.

Kauf sie doch.

Philip war zu Sabine gefahren und hatte ein paar Bücher aus dem Regal gezogen. Sie nahm ihm einen Roman aus der Hand: Weißt du noch, sagte sie.

Und er erinnerte sich: Sie war schwanger mit Andreas, sie las in dem Buch, er hatte ihr den Rücken massiert, als das Telegramm kam …

Willst du es wirklich?

Ich will es, sagte er.

Philip forderte nicht nur Bücher ein, er hatte neue Exemplare gekauft und legte Sabine Buch nach Buch zum Tausch auf den Tisch. Ausgaben, die so nicht zu ersetzen waren, bezahlte er ihr wie einer Buchhändlerin.

Sie war versteinert, sie hasste ihn dafür.

Die Scheidung ist der Verlust, der dem Tod am nächsten kommt. Man kann auch nichts mehr wiedergutmachen. Nach der Trennung bleiben zwei Verletzte zurück. Anfällig für tausenderlei Schuld und Sentimentalitäten. Empfänglich für das zeitweilige Neuaufflackern der Liebe. Allein im Chaos der Gefühle, die man mit Liebe verwechselt. Gebeutelt von Mitleid, Bitterkeit und Hass. Am Ende ist die Scheidung schlimmer als der Tod, hatte Philip zu seinem Vater gesagt.

Er schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Brunnen, trank, schöpfte nochmals und benetzte sich Gesicht, Hals und Nacken. Philip war gern allein, aber er dachte, er sei es zu oft. Er hätte jetzt gern etwas zerbrochen, mit den Händen zerbrochen.

Laura und Andreas traten frisch angezogen auf die Veranda. Philip saß getarnt im Dämmer, im Dunkelkreis der Bäume, und beobachtete sie. Laura hatte Andreas einen Arm um die Schulter gelegt, der Junge neigte sich ihr zu, seine Stirn berührte ihre Brust.

Laura hatte nie ein Kind gehabt.

Es hat sich nicht ergeben, pflegte sie zu sagen, es gab nie eine Situation, in der alles für ein Kind stimmte.

Mit Bruno Wolf war sie übereingekommen, auf ein Kind zu verzichten.

Ich bin dir wohl zu alt, murrte er.

Mir nicht, aber später dem Kind, meinte sie.

Was Laura angeführt hatte, mochte wahr sein. Trotzdem hatte es ihren Mann verletzt.

Philip stand auf und ging langsam zur Veranda zurück, wo nun das Licht brannte.

Bald kamen auch die Katzen. Aus den Bäumen, aus dem halbhohen Gras, von der Kühlerhaube des Fords, aus dem Haus, vom Dach herunter, vom Tennisplatz her. Von überall kamen die Katzen, lautlos und schnell, als würde die Dämmerung sie hervortreiben, geschmeidige Tiere, die auf das Geländer der Veranda sprangen, Philip um die Beine strichen, sich auf die Treppe setzten und die Türschwellen. Ihr Schnurren zog sich wie eine Tonspur durch den frühen Abend, der auch nach Fell roch, das von der Sonne gewärmt worden war.

Laura öffnete ein paar Dosen Katzenfutter, Andreas goss aus einem Krug ein Gemisch von Wasser und Milch in verschiedene kleine Schüsseln.

Da fielen Schüsse.

Hinter dem Tennisplatz, im Wiesland – oder im Wald?

5

Sandro begleitete Andreas zum Bahnhofsplatz, wo Sabine sie beim Kiosk erwartete.

Sie trug ein leichtes lila Sommerkleid, fast sah sie aus wie ein Mädchen, sie hatte olivfarbene Haut und kurzgeschnittenes Haar. Sandro hielt den Jungen an der Hand, fest hielt er ihn, er wollte langsam auf diese Frau zugehen, zuschreiten. Jeder Schritt – ein anderes Bild, das er aufnahm und sich einprägte: wie sie ging, ihnen entgegenkam, wie sie die Beine bewegte, dabei die Knie unter dem Kleid hervorschob, die Füße aufsetzte.

Und ihr Atem, ihr Geruch.

Zimt, dachte Sandro.

Er hatte ihr die Hand leicht auf die Schulter gelegt und bückte sich, um sie auf die Wange zu küssen. Bei der flüchtigen Berührung streiften seine Lippen ihren Mund, den Mundwinkel. Seine Hand fühlte die Rundung des Schultergelenks und das Fleisch des Arms, als er die Finger zu ihrem Ellenbogen hinuntergleiten ließ, der etwas aufgeraut war.

Ein junger Mann.

Eine Frau von dreiunddreißig Jahren.

Ich bin nicht in sie verliebt, redete Sandro sich ein.

Es war ein körperliches Verlangen, das ihr Anblick, ihr Duft, ihre Bewegungen, die Gedanken an sie: ihr Bild in ihm auslöste.

Sandro wollte Sabine besitzen.

Jetzt fuhr sie mit ihrem Jungen weg. Sabine war, verdammt noch mal, ganz einfach anziehend. Sie wusste das, sie spielte damit. Nicht ohne Ingrimm dachte Sandro, heute noch ein paar Tonnen Gewichte stemmen zu müssen, um diese Frau auch nur einigermaßen zu verkraften. Einmal mehr war er überzeugt, dass sein Glück vom dunking abhing.

Schaff endlich den dunking.

Nach dem dunking würde er alle anderen Ziele ganz spielerisch erreichen.

Der dunking ist der Schlüssel, Sandro.

Sandro war eins siebenundachtzig, seine Körperlänge übersprang er leicht, doch für den dunking musste er die Füße noch ein paar Zentimeter mehr vom Boden hochkriegen und dabei aufrecht in der Luft stehen bleiben …

Er spazierte durchs Dorf. Er war ganz in Weiß gekleidet, Sandro liebte weiße Anzüge. Die Mauer des Pflegeheims gab noch Tageswärme ab. Einzelne Autos fuhren schon mit Licht. Das Neonschild der Wolfschen Tankstelle war weithin sichtbar, ein seltsam gesammelter Schein, hinter dem der Himmel seiden glänzte. Sandro gefielen Tankstellen, besonders einsam gelegene. Es bereitete ihm mehr Vergnügen, den Motor eines Autos abzustimmen, als Lehrsätze der Betriebswirtschaft auswendig zu lernen.

Die Geschäfte hatten geschlossen, überall waren Schaufenster erleuchtet. Kaum Leute auf der Straße. Der Parkplatz neben der Käserei war nur halb besetzt, zwei Jugendliche fuhren mit dem Moped Slalom. Kinder hatten mit roter Kreide ein Feld auf den Asphalt gemalt und spielten Himmel und Hölle. Die Kirche schimmerte hell, der Abglanz des Himmels überzog das Dach, ein paar Schwalben umkreisten die Türme, trotz der Dämmerung flammten ihre weißen Bäuche auf. Aus dem offenen Portal ertönte die Orgel. Jemand übte die immer gleiche Stelle und machte immer denselben Fehler. Der nächste falsche Ton war im Voraus zu berechnen, wer ihn erwartete, erlag dem Zwang zu zählen: jetzt.

Philip hatte mit dieser Wahnsinnsfrau geschlafen und war doch weit davon entfernt, den dunking zu schaffen, Philip hatte ein Kind mit Sabine. Und sie waren einander überdrüssig geworden bis zur vollkommenen Gleichgültigkeit.

Du kannst eine Frau nicht besitzen, Sandro.

Ein Mann schaffte es bestenfalls, ein paar Zentimeter in sie einzudringen. Es war lächerlich, das als Akt der Besitznahme zu betrachten.

Sandro setzte sich in die Gartenwirtschaft des Adlers und bestellte Mineralwasser. Es war noch zu früh, um ins Orakel zu gehen, wo er den Abend gelegentlich an der Bar verbrachte. Am Nebentisch saßen zwei Offiziere über eine Karte gebeugt. Dahinter aßen ein Junge und ein Mädchen mit langen Löffeln Eis aus einer gemeinsamen Schale. Sie fütterten einander, als sei jeder der Jungvogel des anderen. Sandro kam sich wie ein alter Mann vor. Wie ein Mann in den Dreißigern, der an eine Frau dachte, während Sabine mit ihrem Jungen nach Hause fuhr, nach Wohlen, wo sie am Dorfrand in einem Block seines Vaters wohnte.

Der Ast einer Kastanie hing über seinen Tisch. In Dunkinghöhe, schätzte er. Sandro erhob sich und sprang. Die Fingerspitzen erreichten das unterste Blatt nicht. Zwei Handbreiten fehlten noch, zwanzig Zentimeter, mehr eigentlich, als es seiner Form entsprach. Entweder hing der Ast höher als der Basketballkorb und Sandro hatte sich verschätzt. Doch wie sollte er die Höhe jemals erreichen, wenn er nicht einmal das Augenmaß dafür besaß? – Oder hatte er beim Absprung gezögert, weil in seinem Kopf der Gedanke aufblitzte die Reihenfolge könnte umgekehrt sein? Sabine war vielleicht die Voraussetzung für den dunking. Erst nach der Liebesnacht mit Sabine würde er überhaupt fähig und stark genug sein, den dunking zu schaffen.

Das Leben stellte sich Sandro als ein überaus kompliziertes Spiel mit vielen dramaturgischen Möglichkeiten dar. Bedienung, zahlen.

Die Abendluft kühlte sich ab, von den Feldern her ertönte das Zirpen der Grillen. Im rasch schwindenden Licht verdoppelte der Lindenberg Masse und Gewicht.

Sandro Wolf spürte beim Gehen die geschmeidige Muskulatur der Schenkel, die so kräftig ausgebildet war – zwischen seinen Beinen ripschte der Hosenstoff. In den Häusern brannte Licht, aus offenen Fenstern hörte er Tischgeräusche und aus den Fernsehgeräten sagte eine Stimme »Strahlentote« und »Knochenmarktransplantation«. Ein paar Halbwüchsige fuhren auf röhrenden Mopeds vorbei, aus einem Kofferradio sang Falco Jeannie. In Kellereingängen und im Halbdunkel offener Schuppen entdeckte Sandro Militär. Soldaten hatten auch im Zwielicht der Vorgärten Stellung bezogen. Die Raketenrohre der Panzerabwehr deckten ihr Schussfeld ab: die Kreuzung. Als er, auf dem Weg zum Orakel, die Straße überquerte, blickte er in die Mündungen der Waffen.

Im Orakel traf sich eine Clique junger Erwachsener; Sandro fühlte sich wohl in dieser Gesellschaft, in der er als Einziger ganz besessen war von einem zu erreichenden Ziel.

Halt, wer wird denn gleich in die Luft gehen, frotzelten seine Freunde, wenn Sandro zum Sprung nach seinem imaginären Korbrand ansetzte.

Wirf den Tisch nicht um.

Drei Meter vierzig?

So hoch ist das doch nicht.

Mit einigen der Spötter hatte er das Orakel gegründet, eine Katakombe im Keller des Pfarrhauses: Disco und Bar, ein Raum für Brett- und Computerspiele. Damals besuchten sie das Gymnasium in Wohlen, nun studierten die meisten in Zürich.

Nina Meyer saß allein an der Theke, überflutet vom Schein eines orangefarbenen Lichts, das die Bar in eine Höhle verwandelte.

Es war kühl in dem schummrigen Halbdunkel.

Nina wendete ihm den Rücken zu, doch Sandro hatte sie sofort erkannt.

Er besaß das Auge eines Jägers.

Er hatte in der Tat ein ungewöhnliches Auge und erriet nicht nur rasch das Geheimnis jeder Situation, sondern sah auch den nächsten Schritt voraus, die Entwicklung, die Lösung. Und als einer, der es gewohnt war, alles als ein Spiel zu betrachten, saß er schon auf dem Hocker neben Nina, bevor sie überhaupt merkte, dass er die Bar betreten hatte.

Guten Abend, du Schöne.

Ninas Hund freilich, der neben ihr auf dem Boden lag, hatte Sandro längst bemerkt. Der Hund, ein zottiger Bastard von der Größe eines Kalbs, rührte sich allerdings nicht, er wusste, dass der lange Kerl für Nina keine Gefahr bedeutete.