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Das Schneetreiben hatte nachgelassen, und bald stapften Ulrich und Meinhardt
am Fleet entlang durch den Neuschnee, der alles gut einen Fuß hoch bedeckte.

Luger Bollen studierte Grafik-Design an der Kunsthochschule in Bremen und ist seit vielen Jahren Mitarbeiter des SPIEGEL.

Buchveröffentlichungen: „Der Flug des Archaeopteryx – Auf der Suche nach dem Ursprung der Vögel“, (Quelle & Meyer, 2007)

Für Übersetzungen ins Lateinische, Korrekturen und kundige Anmerkungen zum Manuskript hat der Autor Dr. Johannes Saltzwedel zu danken.

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1. Kapitel

In welchem ein Bote das Haus des Kaufmanns
Johann Albert Hesenius betritt und dessen Sohn
Ulrich ein gar seltsames Schreiben überreicht.

„Haltet sie, haltet sie auf!“

Schon halb außer Atem hastete die füllige Frau an den dick vermummten Gestalten vorbei, die sich zur Mittagsstunde durch die dunkle Schlucht der Springeltwiete schoben: Ein träger, vielgestaltiger Strom von Menschen, der sich zäh in beiderlei Richtung bewegte. Groß und Klein waren eingereiht in diesen Strom, brave Handwerker ebenso wie gut gekleidete Bürger, Amtsträger oder arme Tagelöhner. Frauen führten kleine Kinder an der Hand oder trugen, eingehüllt unter Lagen von Stoff, ihr Jüngstes auf dem Arm. Vierländer Bäuerinnen schleppten auf dem Rücken schwere Körbe, kleinere, meist voll bepackte Wagen rollten knirschend und rumpelnd inmitten des Stroms, und die vorgespannten Zugpferde trotteten so geduldig wie ihre Herren, die mitmarschierten und sie am kurzen Zügel führten. Solcherart bewegte sich der eine Strom zur breiteren Steinstraße hinauf und weiter zu den Märkten der Stadt, während ihm gegenüber eine deutlich schwächere Kolonne den umgekehrten Weg nahm, zum Fleet hinunter und in Richtung des Deichtores strebte. In einigen Stunden würde die Kraft des ersten Stroms nachlassen, der zweite aber dafür anschwellen, weil für zahlreiche Bewohner des Umlands ihr Weg sie meist lange vor Schließung der Tore wieder aus der großen Stadt herausführte. Manchmal kam die Bewegung zum Erliegen, und meist geschah dies, wenn zwei Wagen sich an einer gar zu engen Stelle begegneten und eines der Gespanne ein Stück zurücksetzen musste.

Für drei Knaben, jeder von ihnen alt genug, allein draußen zu sein, waren dies die besten Momente für ihr Spiel. Aller Vorsicht trotzend, welche die Erwachsenen an den Tag legten, stürmten sie das rutschige Pflaster auf und ab und schlitterten dabei über eine lang gestreckte und von Eis bedeckte Senke, welche die Straße ihnen bot – ein Treiben, dem sie sich mit einer Begeisterung hingaben, wie sie nur die Jugend kennt. Umso lauter erschallten ihre gegenseitigen Anfeuerungen, je kühner sie vor den Augen der Großen miteinander wetteiferten, wer den wagemutigsten Rutsch vollbrachte.

Marthe Reimers aber, die gerade selbst so laut gerufen hatte, fehlte jeglicher Sinn für ihre übermütigen Darbietungen, ja, sie schien überhaupt niemandem um sich herum Beachtung zu schenken, als sie inmitten einer ganzen Traube von Menschen zur gegenüberliegenden Straßenseite strebte, und ihr Blick war irgendwie auf einen mit allerlei Abfällen beladenen Handkarren gerichtet, welcher zwischen einer Schusterwerkstatt und der danebenliegenden Kellerstiege recht nachlässig abgestellt war. Eben dorthin schien auch Marthes rechter Arm zu deuten, den sie in unregelmäßigem Rhythmus hob und wieder von sich streckte, was ihren Lauf durchaus hemmte, da die Hand dabei einen Zipfel ihres langen Rocks fallen ließ und sie den schweren Stoff allein mit der Linken raffen musste.

Da sie nurmehr kaum zwei, drei Schritte vom Karren entfernt angelangt war, geschah es endlich, dass einer der Knaben einmal mehr aufrecht über die vereiste Furche rutschte. Den Blick richtete er dabei, Beifall heischend, nicht etwa nach vorn, sondern nach hinten auf seine Freunde. So aber versetzte er, rücklings gleitend, Marthe einen Stoß gegen ihre Hüfte, der, wenn auch nicht schwer, so doch gänzlich unerwartet erfolgte, und diese verlor nun prompt das Gleichgewicht. Mit einem halb seufzenden, halb klagenden Laut stolperte sie noch einen halben Schritt nach vorne – und fiel.

Sie hatte indes Glück im Unglück. Ihre Halt suchenden Hände umklammerten unwillkürlich die oberen Speichen des großen Holzrades, dem sie entgegen torkelte, und während das Rad, das sie so gepackt hielt, unter ihrem Gewicht eine halbe Drehung beschrieb, senkte sich ihr an die Speichen angehängter, massiger Körper geradezu sanft auf das schneebedeckte Steinpflaster hinab. Jedoch schwenkte zugleich auch, begleitet von einem hässlichen Knarren, der ganze Karren zur Seite, so dass die beiden langen Tragholme des Gefährts unversehens weit in die Straße hinein ragten, zwei stumpfen Lanzen gleich, die tölpelhaft geführt, den Herannahenden Einhalt boten.

Und so kam es, dass ein fülliger Herr im sauberen schwarzen Gehrock, welcher gerade noch munter auf seinen Begleiter eingeredet hatte, sich im nächsten Augenblick bäuchlings auf dieser sperrigen Schranke niederließ. Und um das Unglück endlich voll zu machen, zwang das nicht unerhebliche Gewicht seines Leibes das Gefährt nunmehr in eine Kipplage, die der Ladung nicht zuträglich war: Sie geriet mit einem Schlag ins Rutschen, und neben allerhand Schmutz und vielen aufgehäuften Blättern, fielen einige halbverdorbene Steckrüben herab auf das schneebedeckte Pflaster und streiften dabei den Herrn.

Während sich auf den Gesichtern derjenigen, die den Vorfall aus sicherer Entfernung beobachtet hatten, je nach Charakter mitfühlende Bestürzung oder tumbe Schadenfreude zeigte, während Marthe sich stöhnend aufrichtete und der unglückliche Herr in Schwarz sich vom Karren wälzte, wobei er eine Reihe derber und wenig standesgemäßer Flüche ausstieß, kollerten nicht wenige der rundlichen Rübenköpfe, dem leichten Gefälle folgend, nur immer weiter die Straße hinab. Es schien fast, als wollten sie jene drei Knaben einholen, die, wie auf Kommando, von ihrem Spiel abgelassen hatten und nun in eiliger Flucht davonstoben.

Inmitten des Aufruhrs, welchen die drei hinter sich gelassen, hatte sich aber zugleich etwas, das im ersten Moment einem dicken grauen Klumpen glich, aus der schmutzigen Lawine voller Unrat gelöst: Die zunächst Stehenden erkannten ein prächtiges, schwarzweiß gesprenkeltes Huhn, welches wohl unter der Wagenachse gekauert hatte. Von wilder Angst gepackt, flatterte es fort aus dieser scheinbar toll gewordenen Umgebung, stieg etwa drei Fuß hoch und flog mit gepressten, glucksenden Lauten einige Schritte weit.

Doch endete sein Flug so abrupt, wie er begonnen hatte, denn schon hatte ein Jüngling mit mittelblondem Haar, der 13 oder 14 Jahre zählen mochte, und gerade forsch ausschreitend die Bahn des Tieres kreuzte, beherzt zugegriffen und hielt nun zwischen seinen Händen das bebende Tier, welches im Nachklang des überstandenen Unheils einige Male den Kopf vor- und zurück streckte, um sich schließlich seiner Gefangenschaft zu ergeben.

Marthe, die eben noch ein Bild des Jammers geboten hatte, strahlte über das ganze Gesicht und beschwor den so unverhofft aufgetauchten jungen Burschen, das Tier nicht wieder entfleuchen zulassen, was durchaus überflüssig war, da er behutsam aber fest die angelegten Flügel umschlossen hielt. Aber der glücklich überstandene Zwischenfall und ihr dankbares Gefühl für den, der ihr als rettender Engel erscheinen musste, vermengten sich umgehend zu einem munteren Redeschwall: „Haltet sie gut fest, junger Mann! Schön festhalten, es ist doch meine beste, … meine wahrhaft beste Legehenne! Nein, wirklich, ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll! Ihr könnt Euch denken, die Straße ist ja so gar kein Ort für ein kleines Huhn.“

Und sie begann sogleich eine ebenso bruchstückhafte wie ungeordnete Schilderung von Ereignissen, welche in ihrer unglücklichen Verkettung die Henne nicht nur irgendwie aus ihrem heimischen Verschlag, sondern gar durch das offene Küchenfenster hinaus auf die Straße getrieben hatte. Indem sie aber allerhand Überflüssiges in die Erzählung verwob und die Geschehnisse nicht in ihrer zeitlichen Reihenfolge erzählte, sondern so, wie sie ihr gerade einfielen, hätte selbst ein aufmerksamerer Zuhörer, als es der junge Vogelfänger war, aus ihrer Rede nur mit Mühe das Wesentliche heraushören können.

Zweifellos hätte sie den Burschen, dessen unbekümmert offene, fast heitere Miene ihr zu gefallen wusste, inmitten des ganzen Trubels auch noch geherzt und umarmt, wenn er ihr nicht in leiser Abwehr das Huhn entgegengestreckt hätte, und so konnte sie nicht umhin, für einen Augenblick innezuhalten und das Tier entgegenzunehmen, um es sogleich zartfühlend an ihre Brust zu drücken.

„All diese nutzlosen Gaffer“, empörte sich Marthe, „die ohnehin nur Maulaffen feilhalten können, und dann kommt Ihr und fangt das Tier so einfach und leicht. Aber sagt, wollt Ihr mich nicht zur anderen Straßenseite begleiten und auf ein Weilchen in meine Stube einkehren? Ihr mögt doch auf die ganze Aufregung hin gewiss einen Becher feinen Kräuterbieres?“

Die Frage verschaffte dem jungen Burschen endlich Gelegenheit, das Wort zu ergreifen, und wiewohl es ihn verlegen machte, wehrte er die wohlmeinende Einladung doch mit Bestimmtheit ab: „Verzeiht mir, gute Frau, aber ich bin wirklich sehr in Eile. Doch wollt ihr mir gefällig sein, so sagt an, wo ich hier das Haus des Kaufmanns Johann Hesenius finde, da ich dort wichtige Dinge auszurichten habe“, und dabei rückte er, wie jemand, der Kostbares zu behüten hat, einen arg verrutschten Ranzen zurecht, welcher ihm mit einem breiten und etwas zu langen Ledergurt von der linken Schulter hinab und zur anderen Seite reichte.

„Da tut Ihr recht daran, mich zu fragen“, entgegnete Marthe. Sie war, obschon ihre Einladung gerade ausgeschlagen wurde, vollkommen glücklich, da sie dem Jungen doch ihrerseits hilfreich antworten konnte, und sie wies ihm den Weg, viel gestenreicher und ausführlicher, als dies nötig gewesen wäre: „Seht nur, Ihr könnt gar nicht fehlgehen. Es ist das vorletzte Haus zur Linken, aber Ihr müsst wissen, dass dort der alte Harm im Kontor nicht mehr recht verständig ist. Auch hört er etwas schwer, drum sprecht nur besonders laut, und das Gescheiteste ist, Ihr fragt nur rundweg nach dem Kaufmann selbst für euer Anliegen!“

Die letzten Worte musste sie ihm hinterherrufen, da er sich schon hastig bedankt hatte und davon eilte.

Mit einem strengen Blick hingegen brachte sie den Herrn in schwarzem Tuch, welcher in Folge von Marthes Missgeschick gleichfalls gestolpert war, zum Schweigen, gerade als dieser die letzten Rübenreste von seinem Hut gelesen hatte und endlich den Unmut über seine verschmutzte Kleidung kundtun wollte. Nicht nur dass er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, kleiner war als sie: Nun, da sie aufrecht stand und ihre Würde wiedergewonnen hatte, flößte Marthe selbst gestandenen Kaufleuten Respekt ein: eine ebenso stämmige wie selbstbewusste Frau, die eben mit geschickter Hand die Enden ihrer Schürze verknotete, darin das gesprenkelte Huhn nun wie in einer Tasche vor ihrem Bauch untergebracht war. Etwas Unverständliches brummend, gab der Mann sein Vorhaben auf, wandte sich seinem Gefährten zu, und beide setzten endlich ihren Weg fort.

Marthe war nicht für einen Aufenthalt im Freien gekleidet, aber Neugier und ein warmes Gefühl für den Jüngling, dessen Namen sie in der ganzen Aufregung vergessen hatte zu erfragen, bewog sie, weiterhin in der Kälte zu verweilen, während sie ihm hinterher blickte. Eine Spur von Entzücken war in ihr rundliches Gesicht gemalt, als sie sah, wie er sicheren Schritts die Langsameren überholte und es dabei noch geschickt verstand, einem entgegenkommenden Gespann auszuweichen.

„Es ist kein Anstand mehr unter den jungen Leuten!“, ließ sich plötzlich, während sie so dastand, eine Stimme neben ihr vernehmen, oder besser neben und unter ihr, denn Gesche, eine Nachbarin, mit magerem, runzligem Gesicht, war nicht allein von kleiner Gestalt, der obere Teil ihres Rückens war buckelig und so verwachsen, dass gar kein Hals auszumachen war und ihr Kopf wie tief zwischen den Schultern versunken ruhte. So reichte die „Krumme Gesche“, wie sie überall genannt wurde, Marthe nicht einmal bis zur Brust. Sie führte eine Handschaufel und einen Eimer Asche mit sich. Planlos verteilte sie einen weiteren Scheffel auf dem festgetretenem Altschnee, doch war es wohl eher so, dass allein Lärm und Tumult sie auf die Straße gelockt hatten. Etwas Außergewöhnliches musste ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, und begierig hoffte sie darauf, dass Marthe nunmehr ihre Neugierde stillte. So suchte Gesche jedenfalls ein Schwätzchen zu beginnen, und da sie nur eben noch den eiligen Abschied des Jungen vernommen hatte, stimmte sie nun erst recht jenes Klagelied an, das man allzu oft von ihr hörte. „Ei, was gibt so ein junger Bursche unsereins doch für ungehobelte Antworten: keine Zeit, das geben sie vor, aber ich sage dir, Marthe, nicht an Zeit, an Anstand fehlt es ihnen!“

Doch damit hatte sie den falschen Ton angeschlagen. „Sei still, Ge-sche“, wehrte Marthe ab. Mit zustimmendem Nicken begleiteten ihre Augen den Jüngling am fernen Ende der Straße, der nunmehr das von ihr angegebene Haus erspäht hatte, hinüberging, noch einmal kurz innehielt und dann schnurstracks im Eingang verschwand.

„Ein vortrefflicher Junge“, seufzte sie für sich, „mein Jüngster wäre heute wohl in seinem Alter, wenn der Herrgott ihn nicht so früh zu sich gerufen hätte. So flink ist er auf den Beinen und so geschickt mit seinen Händen. Nein, da ist nichts von Überschwang und Unrast, und dann,“ sprach sie und blickte erstmals gänzlich zur Krummen herab, „was wissen du und ich schon, in welchen Angelegenheiten er gerade jetzt unterwegs ist?“

Tatsächlich betrat nunmehr der Jüngling das Kaufmannshaus, dessen schlichte Fassade aus Backstein und hölzernem Fachwerk sich ganz und gar unauffällig in den Straßenzug fügte. Geschnitzte und ursprünglich wohl vergoldete Lettern über dem Eingangsportal nannten den Namen Johann Albert Hesenius nebst einer langen Jahreszahl in römischen Ziffern, die abzulesen er sich aber keine Mühe machte. Eine Türglocke ertönte beim Eintreten und er ließ, der Kälte wegen, die Tür sogleich wieder ins Schloss fallen.

Wenn es draußen an Helligkeit mangelte, so war das Innere des Hauses zu dieser Stunde geradezu finster zu nennen. Als sich seine Augen an das matte Licht gewöhnt hatten, das durch zwei übereinander liegende Fensterreihen herein fiel, erblickte der Knabe eine Eingangsdiele, die man stattlich hätte nennen können, doch war sie, wenigstens im hinteren Teil, vollgestellt mit Truhen, Schränken und Regalen sowie dicht an dicht stehenden Fässern, so dass dort kaum mehr als einige Fuß breit der gekalkten Wände dahinter auszumachen waren. Eine sinnverwirrende Fülle von Waren, deren Verteilung wohl nur Eingeweihten begreiflich war, gab es hier zu entdecken. Rollen von Leinwand, Wachs- und Schiefertafeln unterschiedlicher Größe, Federmesser, Tintenhörner, Griffel und Spreizzirkel erblickte er ebenso wie Schüsseln, Töpfe und Humpen aus Steingut, Holzbretter und Gefäße von Zinn. Dazu reihten sich staubbedeckte Flaschen aneinander, deren Inhalt er so wenig erriet, wie er um die Bewandtnis der kleinen abgepackten Säckchen vor ihm wusste, die eine ordnende Hand zu einer stumpfen Pyramide gestapelt hatte. Für gewöhnlich diente der Eingangsbereich eines Kaufmannshauses mehr dem Empfang der kaufwilligen Kundschaft, und wenn man sich handelseinig wurde, so wurde die Ware anschließend aus den weiträumigen Lagerräumen dahinter herbeigeschafft, aber Johann Hesenius hatte die Diele nach seinen Erfahrungen umgestaltet, da er fand, dass der Anblick einer vielfältigen Auslage die Menschen dazu brachte, mehr Dinge zu kaufen, als sie ursprünglich beabsichtigt hatten.

Mancher befreundete Kaufmann spottete mild darüber, und unter der Hand befand man, das altehrwürdige Kontor habe sich darüber in einen gewöhnlichen Kramladen verwandelt, aber solange die Abrechnungen ihm sagten, dass es das Richtige sei, bekümmerte Johann Hesenius solches Gerede nicht weiter.

Ein abgestandener, aber nicht unangenehmer Geruch, gespeist von Harzen, Leinöl und Wachs, wehte den Jungen an, während er einige vorsichtige Schritte tat. Es dauerte noch einige Sekunden, bis seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten und der Blick sich soweit schärfte, dass er weitere Einzelheiten des Raumes aufnahm.

Zwischen Truhen und Fässern reckten sich eckige Tragbalken von Eichenholz empor bis in Höhe des zweiten Stocks und stützten dort eine düstere, unverputzte Balkendecke. Geradeaus führte eine breite Holztreppe in mehreren Kehren nach oben und gewährte auf halber Höhe Zugang zu einer Galerie, welche die ganze linke Seite des Kontors überdeckte. Die Stufen führten noch weiter hinauf, doch verloren sie sich bald im tiefen Dunkel, das oberhalb der Deckenöffnung herrschte.

Die Diele selbst machte einen verlassenen Eindruck, aber Laute verrieten, dass in den Tiefen des Hauses Arbeit verrichtet wurde, denn ein wiederholtes dumpfes Poltern, begleitet von Zurufen, drang von fern herüber.

Nach einigen Sekunden wurde der Jüngling gewahr, dass ihn entgegen seiner ersten Befürchtung doch jemand empfangen wollte, denn ein Greis mit schütterem weißen Haar war rechter Hand aus einer Nische hervorgetreten, in die er sich zuvor so vollkommen eingefügt hatte, als sei er ein fester Bestandteil der Einrichtung.

Es war der von Marthe erwähnte alte Harm, der mit bedächtigen, schlurfenden Schritten auf ihn zuging, ein dürres Männlein, das dem Augenschein nach wenigstens im siebten Lebensjahrzehnt stehen musste. Die Jüngeren sprachen unbeschwert und ohne Respekt nurmehr von dem „Alten“; für alle anderen, auch für die, die ihn gut kannten, war er einfach nur Harm. Niemand wusste ihn anders zu heißen, und es schien fast, als habe das fortschreitende Alter irgendwann seinen ursprünglich vertrauten Familiennamen getilgt. Wer seit Längerem um die Geschicke des Hauses Hesenius wusste, konnte Geschichten beisteuern, nach denen er schon vor der Zeit des großen Krieges im Kontor der Kaufmannsfamilie zu arbeiten angefangen habe. Er galt als gänzlich anspruchslos, war stets pünktlich und zuverlässig in den alltäglichen Verrichtungen, die man ihm auftrug, und so wusste man ihn an seinem Platz im Hause Hesenius, Tag für Tag und Jahr für Jahr, und wenn er eines Morgens nicht zur gewohnten Stunde erscheinen sollte, so würde es für jedermann gewiss sein, dass er gestorben sei.

So wachte er über die Eingangsdiele, und sein einziger Begleiter auch zu dieser Stunde war Ambrosius, ein großer, launenhafter Kater, der aber bei jedem im Haus in hohem Ansehen stand, da er doch ebenso ein zuverlässiger Mäusejäger war.

Wie Harm den jungen Gast wahrgenommen hatte, war er aufgestanden und begrüßte ihn nun, und den suchenden Blick des anderen deutete er dabei als die übliche Ungewissheit eines Menschen, der nicht recht weiß, ob er die Ware finden werde, wegen der er hergekommen war. Mit seiner brüchig-heiseren Stimme fragte er, nach seinem Begehr.

Ohne Umschweife nahm der Jüngling einen Brief aus seinem Ranzen, hielt diesen in Brusthöhe und stellte sich vor: „Eilert Keye, zu Diensten. Ich entbiete Grüße von meinem Herrn, dem ehrenwerten Kaufmanne Hermann Lengsdorp, und habe dies eilige Schreiben zu übergeben dem Herrn Ulrich Hesenius, Sohn des Kaufmanns Johann Hesenius.“

Die Worte, die er, Marthes Rat befolgend, überaus klar und deutlich gesprochen hatte, waren dazu angetan, den Alten ein wenig zu verunsichern. So streckte er recht zögerlich die Hand in Richtung des Briefes aus und sprach halb zum jungen Boten, halb zu sich selbst: „Es schickt sich wohl eher, unseren Herrn Kaufmann selbst zu benachrichtigen, meint Ihr nicht?“ Doch der Junge machte keine Anstalten das Schreiben an den Alten zu übergeben, und seine Entgegnung sprach er ebenso höflich wie deutlich: „Wenn ihr mir bitte verzeihen wollt, aber es ist mir ausdrücklich aufgetragen, dies Schreiben allein dem jungen Herrn Hesenius zu übereignen, doch sollte er nicht hier sein, so bitte ich Euch, mir zu sagen, wo ich ihn finde.“

Nun, da Jüngling und Greis sich uneins gegenüberstanden, zeigte es sich, dass das Kontor keineswegs allein der Obhut des alten Harm anvertraut war. Über ihren Häuptern, dort wo die Galerie sich erstreckte, wurde eine Tür geöffnet, und jemand rief mit fester Stimme an die Adresse des Alten einen einfachen Satz, der kürzer kaum hätte sein können: „Es ist gut, Harm.“ Dies genügte dem Alten zur Weisung, derweil sich der Urheber des Gesprochenen, ein Mann mittleren Alters, zur Treppe begab und die Stufen herab schritt, um seinerseits den jungen Gast zu begrüßen.

Obgleich Johann Albert Hesenius, denn um diesen handelte es sich, von seiner Schreibstube aus das Kontor nicht zu überblicken vermochte, hatte er doch ein sicheres Gespür dafür entwickelt, wann immer es angeraten sei, dass, anstelle des alten Harm, er sich selbst um die Belange der Besucher kümmere. Als der Kaufmann unten angelangt war, sah Eilert seine stattliche Erscheinung: Er war wohl Mitte vierzig, wenigstens fünfeinhalb Fuß groß und dabei doch ohne jene Fülle an Bauch und Hüften, die man bei Männern von Stand sonst so häufig antraf, wenn sie erst ein gewisses Alter erreicht hatten. Nichts an seiner Kleidung hätte man auffallend und erinnernswert gefunden, und doch sah er darin vorteilhaft und würdevoll aus. Über dem weithin üblichen schwarzen Oberrock mit den nach holländischem Muster aufgereihten Knöpfen schwebte ein tadelloser eckiger Hemdkragen, der, blendend weiß gebleicht, zum Rande hin in eine feine Klöppelarbeit auslief.

Des Kaufmanns Haupthaar hatte sich nur oberhalb der Schläfen ein wenig gelichtet. Er trug es sorgsam nach hinten gekämmt aber nicht übermäßig kurz oder streng geschnitten. Der Bart war gleichmäßig mit Messer und Schere gestutzt, nur von der Oberlippe spross er ausladender in zwei kräftigen Strähnen, die beiderseits leicht nach unten wiesen, als gelte es, die ernste Nachdenklichkeit, die von dem Mann ausging, noch zu unterstreichen. Die Nase war nicht übermäßig lang, doch mit kräftigem, breitem Bein, darüber vertiefte sich eine einzelne senkrechte Falte und teilte die Stirn genau in der Mitte. Die Konturen des Schädels, die sich an den Wangen und über den Augen durch die Haut hindurch mitteilten, verrieten den kräftigen Knochenbau, doch war keine rohe, überschießende Kraft in den Bewegungen des Mannes, jede Regung von ihm wirkte maßvoll und zurückhaltend.

Wache, dunkelblaue Augen hatten Eilert schon von der Treppe aus gemustert, und da sie einander nun gegenüber standen und der Junge neuerlich die Grüße seines Herrn entbot und seine Ansage wiederholte, war da zunächst keine Regung, kein unverbindliches und freundlich hingeworfenes Lächeln in seinem Gesicht. Nur ein leichtes Nicken verriet, dass die Botschaft verstanden sei. Wenn Hesenius von der Ankündigung des Jungen überrascht war, so zeigte er es nicht. Er unterließ es, die Fragen, die er wohl hatte, in Worte zu fassen, und des Kaufmanns Stimme war sanft und höflich, als er antwortete.

„Wohl befindet sich Ulrich hier, doch hat er seine eigene Schreibstube und sie liegt nun allerdings weit oben unterm Dach. Ich werde ihn für Euch rufen lassen“, beschied er, begab sich zur hinteren Wand des Kontors und rief, nunmehr mit kräftigem Bass, in den Gang hinein, welcher in die Tiefen des Hauses führte.

Die monotonen Zähllaute, die in ruhigen Momenten von dort zu vernehmen waren, hörten auf, und es erklang eine unbestimmte Antwort, die im Kontor nicht mehr zu verstehen war, doch das Quietschen einer Türangel und anhaltende Schritte mochte man dahingehend deuten, dass der vom Kaufmann gegebene Auftrag ausgeführt wurde.

Während der alte Harm, da seine Dienste hier nicht weiter vonnöten waren, wieder seinen angestammten Platz in der Kontornische eingenommen hatte, begann Johann Hesenius eine oberflächliche Unterhaltung mit dem Jungen, denn die Höflichkeit gebot es, jedem Gast, mochte er auch nur ein Sendbote und so jung an Jahren sein wie Eilert Keye, ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu schenken. Als sich die üblichen Fragen zum Wohlbefinden seines Herrn und zum Stand der Geschäfte erschöpft hatten, vernahm man hoch oben eine zuschlagende Tür und gleich darauf Schritte, die sich den in der Diele Wartenden näherten.

Das geschah so geschwind, als würde ihr Urheber jede zweite Stufe auslassen, und das gleichmäßige Klacken der Schuhe auf Holz wurde dabei unvermeidlich begleitet vom vermehrten Knarren der Dielen und Balken, als missbilligten diese solch einen schwungvollen Abstieg.

Vor der letzten Treppenkehre verlangsamte Ulrich Hesenius seinen Lauf, blickte in die vor ihm liegende Halle und erfasste die vertraute Gestalt des Vaters ebenso wie den ihm unbekannten jungen Burschen. Er war erst Anfang zwanzig und groß gewachsen, dabei aber von so schlankem Wuchs, dass seine Gestalt fast schmächtig wirkte und wohlmeinende Verwandte sich unentwegt bemüßigt fühlten, seinen Appetit bei Tisch zu hinterfragen, wiewohl er hierfür eigentlich keinen Grund lieferte. Wenig erinnerte in dem schmalen, blassen Gesicht an die kraftvoll energischen Züge des Vaters. Vertraute der Familie aber entdeckten umso mehr Ähnlichkeiten mit der so früh verstorbenen Mutter: die Blässe seiner Haut, unter der stellenweise feine blaue Äderchen hervor schimmerten, die schmale, mit einigen Sommersprossen bedeckte Nase, die zudem etwas spitz zulief, und ganz gewiss die großen blauen Augen, überwölbt von deutlich hervortretenden Lidern, in denen die hellen Wimpern wie unsichtbar standen. All das verlieh seinem Blick diesen seltsamen, leicht verträumt und melancholisch wirkenden Ausdruck, so als hinge er gern Gedanken nach, die in weite Ferne reichten, und als seien diese zudem im Übermaß trüb und schwer.

Er war glatt rasiert, aber auch ein Bart hätte wohl nicht vermocht, ihn älter wirken zu lassen als er nach Jahren zählte. Das in der Mitte gescheitelte, hellblonde Haar reichte ihm, wie es weithin üblich war, bis über die Schulter herab. Als einzige Besonderheit hatte Ulrich es sich zur Gewohnheit gemacht, von den Schläfen ausgehend zwei kleine Strähnen zu schmalen Zöpfen zu flechten, und diese unsichtbar am Hinterhaupt zusammenzubinden. Aber weder Eitelkeit noch eine der vielen Modetorheiten, die sich auch seiner Generation bemächtigt hatte, waren der Grund hierfür, sondern einzig das Gefühl, es sei allzu lästig, sich beim Schreiben fortwährend das ungebändigte Haar aus den Augen streichen zu müssen. Auch schwor er, es habe ihn ein ums andere Mal davor bewahrt, die noch feuchte Tinte auf halb geschriebenen Briefen zu verschmieren.

Seine dunkle Kleidung war von so gewöhnlicher Art, als wolle er damit noch unterstreichen, dass sein Platz im Haus eine recht abgelegene Schreibstube war, fern der Diele, wo sich alle begegneten. Einzig die feinen, fingerlosen Wollhandschuhe, die er zur Arbeit übergestreift hatte, hätte man auffällig nennen können: Tatsächlich schätzte er sie als überaus nützlich, da sie ihm beim Schreiben in der kalten Stube doch die Hände wärmten.

Eilert betrachtete den Empfänger seines Briefs mit leiser Verwunderung, da er nunmehr gewahr wurde, wie jung dieser war. Es machte ihn in seinen Augen zu etwas Besonderem, da er es gewohnt war, Nachrichten zu überbringen an Männer, die reif und welterfahren wirkten und die nach Jahren nicht selten seinem Großvater gleich kamen.

„Eilert hier hat dir einen wichtigen Brief zu übergeben“, stellte Johann Hesenius den Jungen vor.

Während dieser nunmehr zum dritten Mal die Grüße seines Auftraggebers, des ehrenwerten Kaufmanns Hermann Lengsdorp, entbot, nahm Ulrich recht zögerlich den Brief an sich, als sei er etwas, das in Wahrheit nicht nach dem Willen des Absenders, sondern durch eine zufällige Laune des Schicksals ausgerechnet in seine Hände gelangt sei. Er betrachtete ihn sorgfältig, doch war es unübersehbar sein Name, welcher auf der Deckseite des gefalteten Blatts prangte. So verdrängte er alle Fragen, die ihn bestürmten, erbrach das Siegel von dunkelrotem Wachs und entfaltete den Bogen.

Ambrosius, der auf leisen Pfoten herbeigeeilt war, kaum dass er Ulrichs Schritte auf der Treppe gehört hatte, strich um dessen Schuhe und Strümpfe herum, was ihm für gewöhnlich mit anhaltendem Fellkraulen gelohnt wurde, doch diesmal warb er vergeblich, und da ihn auch sonst niemand beachtete, leckte er nur planlos eine Vorderpfote und zog mit beleidigter Miene ab, während Ulrichs Blick auf dem Papier ruhte und er die darin geschriebene Botschaft las. Es waren nur wenige Zeilen, die da lauteten:

„Mein hochverehrter junger Herr!

Wir, Hermann Lengsdorp, Kaufmann zu Lissabon, Brügge und hierselbst zu Hamburg und nach dem Willen des Rats Delegierter für auswärtige Handelsfragen unserer Stadt, ersuchen Euch in dringlicher Angelegenheit um Beistand und erbitten eine nicht geringe Gefälligkeit, eingedenk eurer vorzüglichen Kenntnis der medizinischen Wissenschaft, von welcher wir wohl vernommen haben.

So lautet unser Wunsch, Ihr möget einwilligen, den Leichnam eines zur gestrigen Nacht unglücklich Verstorbenen eurer Anschauung zu unterziehen. Doch wird es notwendig sein, die Angelegenheit rasch anzugehen, so dass Ihr Euch zur dritten Nachmittagsstunde zum Eingang des Neuen Zeughauses am Ellerntor begeben müsst. Mögt Ihr dieser unbotmäßigen Eiligkeit zum Trotz meiner Bitte willfahren, so wollt Ihr mir dies bitte durch Eilert, unseren Überbringer, kund tun!“

Während er die stumm aufgenommene Botschaft im Geiste nachklingen ließ, reichte Ulrich den Brief mit nachdenklicher Miene weiter an seinen Vater. Nicht nur wäre es unschicklich gewesen, daraus zwischen ihnen ein Geheimnis erwachsen zu lassen, vielmehr betraf die Nachricht in gewisser Weise auch ihn, denn wollte Ulrich der Bitte nachkommen, so musste seine Arbeit im Kontor wenigstens für heute ein Ende finden.

Und während nunmehr Johann Hesenius den Brief las, wandte sich Ulrich an den jungen Eilert: „Es ist hierin von einem Toten die Rede. Weißt du von diesem oder von weiteren Umständen, die dein Herr dem Brief nicht anvertrauen wollte, wohl aber vielleicht … nun, sagen wir einem treuen Boten?“

„Nein Herr, ich kann Euch nichts weiter berichten, als dass er mir das Schreiben aushändigte, welches ihr gerade gelesen habt, und dass er mir auftrug, nicht zu säumen, da die Angelegenheit große Eile hat. Schließlich bin ich auch gehalten, eure Antwort so geschwind als möglich zu überbringen.“

Ulrich fand nichts Unaufrichtiges in Eilerts Worten, doch wusste er auch, wie sehr Verschwiegenheit unter Sendboten als besondere Tugend galt, und so beschloss er für sich, ob dem Jungen nicht doch ein wenig mehr zu entlocken sei als solch karge Auskunft. Als angehender Arzt hatte er die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die ihm ihre Leiden anvertrauten, zugleich mit wichtigen Auskünften hierzu hinterm Berg hielten, meist aus Scham über ihre ungesunden Lebensgewohnheiten. Doch endete die Heimlichtuerei, wenn man ihnen unerwartet eine Einzelheit nannte, die sie als ihr sicher geglaubtes Geheimnis wähnten, nun aber plötzlich entblößt sahen. Es waren meist nur Kleinigkeiten, die er nach der Beschaffenheit der Haut oder dem Zustand der Augen des Menschen ihm gegenüber erriet oder die ihm auf andere Weise ungewollt mitgeteilt wurden, doch hielt man diese dem Erzählenden vor Augen, so führte Erschrecken unweigerlich dazu, dass der Betreffende sich entlarvt wähnte und fortan aufrichtiger antwortete.

So blickte Ulrich dem jungen Eilert geradewegs in die Augen und dann warf er, wie nebenbei, etwas ein, dass seine Gewissheiten erschüttern musste: „Nun, zumindest wissen wir, dass dein Herr dir diesen Brief nicht zuhause ausgehändigt hat.“

In das offene Gesicht des Jungen trat tiefes Erstaunen: „Wo… woher wisst Ihr davon?“

„Er schrieb diese Zeilen mit fremder Feder und Tinte, an einem ungewohnten Ort, vermutlich in einer recht unbequemen Ecke im Rathaus, und überdies war er wohl selbst sehr in Eile, als er den Brief aufsetzte“, fuhr Ulrich ungerührt fort, die eingeworfene Frage scheinbar überhörend.

Die Verblüffung des jungen Boten wuchs in der Tat mit jedem Wort, das er hörte, und mit ungläubiger Miene blickte er auf den jungen Mann an der Treppe, der die Dinge auf eine für ihn rätselhafte Weise durchschaute. Bei alledem wusste er Ulrichs forschende Art aber in keiner Weise unhöflich zu nennen. Es war vielmehr eine ruhige Gewissheit in dem, was er gesagt hatte und überdies schwang in seinen Worten wie selbstverständlich der Wunsch mit, er, Eilert, möge mit eigener Schilderung entweder bestätigen, was gesprochen war oder, ihm zum Widerspruch, die eigentliche Begebenheit so mit allen Einzelheiten zu schildern, wie er sie erfahren hatte.

Und tatsächlich, wiewohl Ulrich ihn mit keinem Wort bedrängt hatte zu reden, nannte Eilert nunmehr Einzelheiten, die ihm zuvor nicht eingefallen wären, weil man über die persönlichen Belange seines Herrn einfach Stillschweigen bewahrte.

„Es ist alles wahr, was Ihr sagt. Aber zuerst müsst Ihr wissen, dass mein Herr, der doch zu den großen Kaufleuten der Stadt zählt, wahrhaft viele Verpflichtungen hat und in allerlei Ausschüssen und Versammlungen zugegen sein muss. Selbst im Rat sucht man vor den Sitzungen oft seine Meinung einzuholen. An diesem Tag müssen es noch mehr solcher Beratungen als üblich gewesen sein. Den ganzen Morgen über war es eine seltsame Unruhe im Haus. Mein Herr hatte das Kontor schon früh verlassen, aber ich sollte mich zur Mittagsstunde bereithalten und ihn im Rathaus aufsuchen, da er dann womöglich neue Nachrichten zu beschicken habe.

Und so ist es dann geschehen. Ich bin zeitig zum Rathaus aufgebrochen, denn es dauert mitunter arg lang, ehe unsereins vorgelassen wird, und nachdem ich einige Zeit in den Vorräumen gewartet habe, erscheint endlich auch mein Herr. Eben erst hatte er aus einer langen Besprechung gefunden. Er winkt mich zu sich, wir begeben uns in eine Ecke, wo ihm jemand Papier, Tinte und Feder aushändigt, und ohne sich überhaupt zu setzen, schrieb er jene Zeilen, die Ihr soeben gelesen habt. Aber es ist doch ganz verdreht, dass Ihr all dies benennen konntet, noch ehe ich davon berichtet habe. Es ist ja, als wäret Ihr dabeigesessen und hättet es mit eigenen Augen gesehen.“

Der Junge hatte bildhaft und ehrlich gesprochen, doch allein von den recht turbulenten Umständen, unter denen ihm sein Botengang aufgetragen wurde. Hingegen hatte er dem Inhalt des Schreibens rein gar nichts hinzugefügt und Ulrich wurde es gewiss, dass man ihm nichts weiter anvertraut hatte, als das, was er bereits aufgesagt hatte.

„Du hast natürlich ein Recht zu erfahren, wie ich die Begebenheiten, von denen du gerade gesprochen hast, erahnen konnte“, fuhr er wohlwollend fort: „Es ist dabei durchaus keine Zauberei im Spiel, denn das meiste davon stand auf eine gewisse Art in diesem Brief zu lesen, so dass ich nur wenig dazutun musste, es zu erraten. Ich nehme doch an, dass ein wohlangesehener Kaufmann wie dein Herr sein persönliches Siegel besitzt? Nun, er hatte es offensichtlich nicht zur Hand, denn stattdessen finden wir im Wachs aufgedrückt das Wappen der Stadt: Es muss also in amtlicher Stube versiegelt worden sein, und da uns die ersten Zeilen zudem mitteilen, dass er dem Rat nahesteht, dürfen wir aus beiden Dingen schließen, dass unsere Botschaft nicht anders als im Rathaus selbst zur Niederschrift gelangte.“

Eilert schien allenfalls halb überzeugt, vermochte aber nichts zu entgegnen, da Ulrich ungerührt mit seiner Erklärung fortfuhr.

„Auch mit den übrigen Dingen, die ich gesagt habe, verhält es sich nicht anders. Dass dein Herr beim Schreiben nicht die ihm gewohnte Feder führte, zeigt sich leicht darin, dass der Tintenstrich anfangs bei den ersten Lettern viel breiter verläuft als bei allen nachfolgenden. Wir wollen deshalb annehmen, dass der Kaufmann das nächstbeste Utensil ergriff. Ob nun der Federkiel auf andere Art gespitzt war oder einfach zu dünn und weich – jedenfalls musste seine Hand erst das rechte Gefühl dafür finden, wie sie über das Blatt zu führen sei. Und da wir schon vom Blatte reden: Es ist geknickt nicht allein durch das Zusammenfalten. Vielmehr hat sich noch eine weitere Falz, welche allerdings unschön im spitzen Winkel quer über das Papier läuft, abgedrückt. Mir scheint, als habe der Schreiber den Bogen hastig auf einer Unterlage ausgebreitet und nicht darauf geachtet, dass eine Ecke weit überhing, woraufhin der Brief entlang dieser Kante gedrückt und weithin abgeknickt wurde.

Als letztes schließlich bemerkte ich, dass auf dem Blatte die zuletzt geschriebenen Worte allerlei ungewollte Abdrücke hinterlassen haben. Dieses konnte nur dadurch geschehen, weil dein Herr den aufgestreuten Löschsand vorzeitig davon blies und alsdann das Schreiben rasch zusammenfaltete, noch ehe die feuchte Tinte gänzlich angetrocknet war. Du siehst also, dank der vielen vor mir liegenden Hinweise konnte ich mir leicht zusammenreimen, unter welchen Umständen der Kaufmann dir diesen Botengang aufgetragen hat.“

Eilert vernahm wohl die Erklärung, aber in seinem Gesicht stand geschrieben, dass sie sich gar zu unwahrscheinlich anhörte und dass zu einem Scharfsinn dieser Art gewiss auch irgendwelche geheimen Kräfte gehören mussten. Er konnte nicht umhin, Ulrich fortan zu bewundern. „Verdrehe dem Jungen nicht den Kopf mit solchen Gauklertricks“, ließ sich den beiden gegenüber Johann Hesenius vernehmen, während er den nunmehr von ihm gelesenen Brief zurückreichte.

„Das Ganze ist aber doch zu eigenartig“, sagte Ulrich, und überhörte dabei die vom Vater ausgesprochene Missbilligung, da er mehr zu sich selbst sprach. Es kam häufiger vor, dass er die Menschen um sich herum vergaß, wenn ihn Fragen beschäftigten und diese sich seiner weiteren Betrachtung entzogen, „eigenartig zunächst einmal aus dem Grunde, dass ich Eilerts Herrn nicht kenne.“

„Nun, offensichtlich kennt er dich.“ Johann Hesenius verspürte durchaus keine Neigung, in die Gedankengänge seines Sohnes einzusteigen, seine Überlegungen waren wie immer geradlinig und durch und durch praktischer Natur.

„Lengsdorp schreibt, er habe vernommen, dass du Medizin studiert hast. Gott weiß, dass ich damals wie heute keine Veranlassung habe, davon ein großes Aufheben zu machen, doch für eine jede Zunge, die hierüber stumm bleibt, findet sich woanders eine, die mit umso größerem Eifer darüber reden wird. Überdies muss er zu den Geschichten über meinen studierten Sohn vernommen haben, dass du übers Jahr zu uns nach Hamburg zurückgekehrt bist und eine Nachricht dich am ehesten hier im Kontor erreichen werde.“

Der Unwillen in des Vaters Worten mündete sonst leicht in einen Streit mit seinem Sohn, doch dessen Gedanken waren längst weiter geeilt und er schüttelte nur den Kopf darüber, dass Johann Hesenius ausgesprochen hatte, was doch ohnehin offensichtlich war.

„Ihr versteht die Sätze nur, wie sie geschrieben stehen, Vater, aber das, was nicht geschrieben steht, ist es, das mich so eigenartig dünkt. Lengsdorp mag von anderen Geschichten über mich gehört haben und mich daraufhin für einen Gelehrten der Medizin halten – doch warum sollte er überhaupt auf die Idee verfallen, jemanden zu Rate ziehen, den er selbst nie gesehen hat und der sich zudem noch nicht einmal einen Arzt nennen darf? Für die Beschau eines Toten sollte er sich aus der Ärzteschaft der Stadt doch leicht die Dienste eines gut beleumdeten Mannes sichern können?“

Da eine Antwort ausblieb, fuhr Ulrich in seiner Betrachtung fort.

„Wenn der Unbekannte, um den es geht, einer Krankheit erlag, so wird es doch gewiss einen Arzt gegeben haben, der ihn behandelt hätte? Dann könnten wir annehmen, dass dieser ratlos oder wenigstens unsicher ist, was die Todesursache angeht. Wenn Lengsdorps Bitte aber zu bedeuten hätte, dass der Mann durch ein unglückliches Geschick aus dem Leben gerissen wurde, so kann es dafür keine Zeugen geben, denn anderenfalls bedürfte es ja überhaupt keiner weiteren Untersuchung.“

„Wohin soll all die Fragerei, zu der du hier anhebst, schon führen? Du wirst ohnehin sehen, was für eine Bewandtnis die Sache hat, wenn du dich erst hinbegeben hast, diesen Toten in Augenschein zu nehmen!“ Die Beiläufigkeit, mit der Johann Hesenius diese Worte ausgesprochen hatte, führte dazu, dass Ulrich länger brauchte als gewohnt, bis er ihre volle Tragweite erfasst hatte.

„Dann erlaubt Ihr, dass ich gehe?“ fragte er vorsichtig.

„Nun, sicher doch! Lengsdorp hat einigen Einfluss in der Kaufmannschaft. Es sind nicht wenige, die meinen, er werde bald dem Rat angehören. Es wäre gar zu unschicklich, auch gegen seinen alten Vater, den ich wohl kannte, diesen Dienst, den er erbittet, zu verweigern!“

Die Türglocke schellte erneut, und zwei Frauen, von denen die jüngere zwei sehr kleine und dick eingemummte Kinder an der Hand führte, betraten das Kontor. Johann Hesenius schickte einen freundlichen Gruß zu ihnen herüber. Die neue Kundschaft weckte den langsam arbeitenden aber stets dienstbaren Geist des alten Harm, der sich ihren Wünschen widmete.

Obwohl Ulrich bei der Aussicht, für den Rest des Tages seine enge Schreibstube zu verlassen und gar für Stunden zur Medizin zurückzukehren, innerlich frohlockte, fühlte er doch die Notwendigkeit, seinen Vater darauf hinzuweisen, dass hierüber all seine Schreibarbeit wenigstens bis zum morgigen Tag liegen blieb.

„Ich habe gerade erst angefangen, die neuen Warenlisten zu übersetzen, und es sind bislang auch nur zwei der vier Briefe geschrieben, die du für die Gilden in Helsingborg gewünscht hast!“, gab er zu bedenken.

„Es hat weiter keine Eile, denn der Winter ist so streng wie alle Jahre. Und selbst wenn es in den nächsten Wochen einmal auf Tauwetter zuginge, so werden wir doch nicht vor Ende März das erste Schiff auf Fahrt schicken und auch die Briefe befördern können. Gib acht, dass du mir die Listen Ende nächster Woche vorlegen kannst, dann ist es gut! Hast du in allen Zeilen darauf geachtet, den Platz zu lassen für das, was ich nachzutragen habe? Ich werde bis dahin die neuen Kurse beim Wechsler erfragt haben, so dass ich die Summen errechnen und jeweils passend notieren kann!“

Ulrich bejahte dies, und nun endlich drückte Johann Hesenius’ Miene auch so etwas wie Wohlwollen und Anerkennung aus. Nein, wenn es dem Jungen auch an Kaufmannsgeist fehlte, so war er doch tüchtig auf seine Art, und was man ihm auftrug, das wusste er zuverlässig anzugehen. Das Lateinische beherrschte er ohnehin wie einer der Besten, und selbst im Französischen vermochte er sich trefflich auszudrücken. Gerade diese Kenntnis war es, die dem Geschäft neuerdings zu einigem Nutzen gereichte, denn bis weit nach Osten war die Sprache von König Louis mittlerweile eingekehrt – zuerst wohl an den Adelshöfen, doch neuerdings sogar schon bei den Händlern in Riga, Malmö oder gar Nowgorod. Wie gut war es da, dass sie – anders als manches Handelshaus, das sich nicht darauf verstand – mit den fernen Geschäftsfreunden in der Zunge redeten, die den Leuten dort so angenehm war.

Dann kehrte die Strenge in des Kaufmanns Gesicht zurück. Mit einem Kopfnicken wies er auf den jungen Boten, der geduldig das Ende der Unterredung zwischen ihnen beiden abgewartet hatte.

„Eilert hier verdient nunmehr eine Antwort“, beschied er seinen Sohn, der für einen Moment wieder in die Betrachtung des geheimnisvollen Schriftstücks versunken schien.

„Das ist wahr“, nahm Ulrich den neuerlichen leichten Tadel an, und an den jungen Boten gewandt, fuhr er fort: „So richte deinem Herrn bitte aus, dass ich mich zur rechten Zeit an dem von ihm genannten Ort einfinden werde!“

Eilert Keye, froh eine so vorteilhafte Antwort überbringen zu können, bedankte sich bei beiden Herren mit jenem Überschwang, wie ihn allein die Jugend an den Tag legen kann. Dann stürmte er zur Tür und hinaus zur Straße, während Johann Hesenius ihm schmunzelnd hinterher schaute.

„Was wisst Ihr über Hermann Lengsdorp, Vater?“ fragte Ulrich, nachdem der Junge gegangen war.

„Ich habe einst Vitus, seinen Vater, kennengelernt, er ist nun wohl ein alter, kranker Mann. Von den drei Söhnen starben zwei sehr früh, und ich weiß dir wenig über Hermann zu erzählen. Er muss noch sehr jung sein, doch hat er sich auch in Ratskreisen einen guten Ruf erworben. Man erzählt sich, er habe beträchtliches Vermögen im Porzellanhandel verdient, weil er offenbar in Einvernehmen mit einigen Handelshäusern in Lissabon steht, von denen er ohne Umwege gute Chinaware bezieht. So muss er nicht wie andere in Amsterdam oder Antwerpen anstehen und in einer langen Reihe von Bietern um einen erträglichen Preis feilschen.“

Ulrich nickte unwillkürlich. Im Überseehandel, davon hatte jeder gehört, ließen sich in kurzer Zeit Reichtümer erzielen, die weit über das hinausgingen, was die Ostseefahrer heute noch erwarten konnten. Lengsdorp gehörte zu denen, die es mit Glück und Geschick und wohl auch dank guter Beziehungen geschafft hatten, aber sein Vater wusste, wenn das Gespräch auf diese Dinge kam, wenigstens ein Dutzend Namen von Kaufleuten aufzuzählen, die bei dem Versuch, die neuen Handelsrouten einzuschlagen, mehr verloren hatten als nur Schiff und Ladung. Es war ein heikles Thema, und Ulrich wollte lieber zu näher liegenden Dingen zurückkehren.

„Lengsdorp wird vielleicht einen Bericht über meine Untersuchung lesen wollen, und es mag dahin führen, dass ich morgen erst des Nachmittags wieder zurück sein kann.“

„Nun, du wirst wissen, was zu tun ist und es soll mir recht sein so“, war alles, was Johann Hesenius entgegnete. Die Dinge waren für ihn geregelt, und er wandte sich ab, um Harm zur Seite zu stehen, der sich mühte, den beiden Frauen die Vorzüge verschiedener Schiefergriffel nahezubringen. Er hatte dabei jedoch nur ihre halbe Aufmerksamkeit, da eines der Kinder seine Erklärungen mit allerlei quengelnden Fragen zu übertönen suchte. Es war Kleinkram, den Leuten das Passende zu verkaufen, aber zwischen den Auslieferungen an andere Händler war jede Nachfrage recht.

Ulrichs Gefühle aber waren zwiegespalten. Auf der einen Seite hatte er nunmehr jede Erlaubnis zu gehen. Er würde wenigstens für den Rest des Tages zur Medizin zurückkehren, die ihm so viel bedeutete, und dabei handelte er sogar gemäß dem Wunsch des Vaters. Es war wie ein Ausflug in eine andere Welt, doch eben deshalb kam ihm mit schmerzhafter Deutlichkeit in den Sinn, wie freudlos er im Grunde seit einem halben Jahr seine Alltagsarbeit hier im Kontor verrichtete. Irgendwann am morgigen Tag würde er zurückkehren müssen in seine kleine Schreibstube, und das ganze kleine Einvernehmen mit seinem Vater konnte nicht überdecken, dass Johann Hesenius den Lebensweg, den er gewählt hatte, in seinem Herzen ablehnte.

Er überschlug im Kopf die Zeit, die ihm noch zur Vorbereitung blieb. Zum Neuen Ellerntor würde er beinahe quer durch die ganze Stadt laufen müssen. Er stieg schnellen Schrittes die Treppe hinauf und verschwand noch einmal kurz in jener Kammer, die er vor Monaten als sein Arbeitsreich gewählt hatte. Das war zum einen geschehen, weil sie so abgelegen war, dass er für sich bleiben konnte, und zum anderen, weil dort oben durch das Fenster der Dachgaube ein größeres Stück Himmel zu sehen war als weiter unten, nahe der Straße. Wenige Minuten später glaubte Ulrich sein angefangenes Tagwerk sicher verstaut zu haben. Er packte sodann seine Habe und stürmte ein letztes Mal die unentwegt knarrende Treppe hinunter in die Diele, die sich in der Zwischenzeit bis auf Amb-rosius und den alten Harm wieder geleert hatte. Er verabschiedete sich von dem Alten und begab sich endlich, eingehüllt in seinen Mantel, auf den Weg.

Den Kopf voller Gedanken, schritt er auf der Straße so eilig aus, dass die krumme Gesche, die wie üblich hinter ihrem Stubenfenster darüber wachte, was draußen geschah, missbilligend den Kopf schüttelte. Über diesen neuerlichen Beweis für die unschickliche Hast der jungen Leute würde sie mit Marthe noch zu reden haben.

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2. Kapitel