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Michael Wildt

Volk, Volksgemeinschaft, AfD

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

eISBN 978-3-86854-914-0

© 2. aktualisierte Auflage Juni 2017 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-309-4

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Einleitung

IVolk

Das klassische Volk

Das Volk Gottes

Souveränität

We the people

Volk und Recht

IIVolksgemeinschaft

Alle Gewalt geht vom Volke aus

Inklusion

Exklusion

Teilhabe

Krieg

Nachkrieg

IIIDas Volk der AfD

Populismus in Europa

Das missachtete Volk

Kritik der Repräsentivität

Ethnische Homogenität

Volksgemeinschaft

»Alle sind das Volk«. Ein Ausblick

Literaturverzeichnis

Dank

Zum Autor

Einleitung

»Wir sind das Volk!« Ein anspruchsvoller Satz, vor allem in einer Demokratie, in der Macht und Regierung vom Volk ausgehen soll. Doch: Wer ist das Volk?

Das Volk als Ganzes bleibt unsichtbar. In der Regel tritt es alle vier oder fünf Jahre indirekt in Erscheinung und gibt bei Wahlen seine Stimme ab, um die Abgeordneten in der Volksvertretung, dem Parlament, zu wählen. Demnach bestünde das Volk aus den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern. So will es auch das Grundgesetz, das im Artikel 20 ausführt: »Sie [die Staatsgewalt, M.W.] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.« Nimmt man zur Kenntnis, dass Kinder und Jugendliche bis zu einem bestimmten Alter ebenso nicht wählen dürfen wie zahlreiche Menschen, die in Deutschland leben und hier ihre Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bezahlen, und erinnert man außerdem daran, dass in allen europäischen Staaten Frauen erst im Laufe des 20. Jahrhunderts das aktive und passive Wahlrecht erkämpft haben, dann wird rasch deutlich, dass das »Volk« keineswegs mit der Bevölkerung übereinstimmt und sogar nur eine Minderheit darstellen kann. Zieht man dann noch in Betracht, dass ein Großteil der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ihr Wahlrecht nicht mehr ausüben, könnte man selbst bei Großen Koalitionen von Minderheitsregierungen sprechen. Das Volk, so Niklas Luhmann spöttisch, ist »nur ein Konstrukt, mit dem die politische Theorie Geschlossenheit erreicht. Oder anders: wer würde es merken, wenn es gar kein Volk gäbe?«1

Es gibt indes Momente in der Geschichte, in der das Volk sichtbar wird und mit Macht auf die politische Bühne der Weltgeschichte tritt, ohne dass jemand nach Repräsentativität und gewählten Vertretern fragt. Die beiden Urereignisse westlicher Demokratiebegründung, die Amerikanische und Französische Revolution, haben mit großem Pathos für sich in Anspruch genommen, dass mit ihnen das Volk die illegitime Obrigkeit abschüttelt und beginnt, sich selbst zu regieren. »Die Souveränität ruht im Volk; sie ist einheitlich und unteilbar, unverjährbar und unveräußerlich«, heißt es in der französischen Verfassung von 1793. Hat jemand, außer den Repräsentanten und Nutznießern des alten Regimes, den orangefarbenen Massen in Kiew 2004 das Recht abgesprochen, die Neuwahl des Präsidenten durchzusetzen, obwohl die zentrale Wahlkommission die Wahl von Janukowytsch für rechtmäßig erklärt hatte? Niemand fragte nach der Repräsentativität der Menge auf dem Maidan, die von sich erfolgreich behaupten konnte, für das ukrainische Volk zu sprechen, ja, das ukrainische Volk zu verkörpern.

Und niemand, der die revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 in der damaligen DDR verfolgt hat, hat den Demonstranten in Leipzig, Berlin und anderswo, die »Wir sind das Volk« gerufen haben, die Legitimität dieses Anspruchs abgesprochen. War dieser Satz, von vielen im Westen unbeachtet, zunächst vor allem ein trotziger Protest gegen die Staatsmacht, die von sich behauptete, eine Volksregierung zu sein, und nun mit Volkspolizisten gegen eine angeblich verschwindend kleine, vom Westen gesteuerte Oppositionsbewegung vorging, die Betonung also auf dem ersten Wort »Wir« lag, so machte der rasch folgende Slogan »Wir sind ein Volk« mit Betonung auf »ein« klar, dass der politische Anspruch weiter reichte – und zugleich sich differenzierte.

»Wir sind das Volk« konnte auch bedeuten, Volk der DDR zu sein und in einem eigenen deutschen Staat die Parteidiktatur abzuschütteln und Volkssouveränität durchzusetzen. Kennzeichnend war die kleine semantische Verschiebung von »das« zu »ein« im Oktober und November 1989. »Wir sind ein Volk« brachte deutlicher die Vereinigung mit der Bundesrepublik und über die Forderung nach Demokratie hinaus die Vorstellung vom Volk als geeinter Nation zum Ausdruck. Eben diese Gleichsetzung von Volk und Nation und die Forderung nach Einheit lagen den Nationalstaatsbestrebungen des 19. Jahrhunderts zugrunde. Das Volk war nicht allein die Versammlung von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern auf einem bestimmten Territorium, sondern diese gehören einer bestimmten Nation an – und umgekehrt: Alle Angehörigen einer Nation, wie immer sie man definieren mag, hatten demzufolge das Recht, in einem eigenen, unabhängigen Staat zu leben.

Wer zur Nation, zum Volk gehörte, unterlag unterschiedlichen Bestimmungen. Sicherlich war die gemeinsame Sprache ein grundlegendes Merkmal; manche Sprachen mussten erst geschaffen werden, um den Anspruch, Nation zu sein, darauf gründen zu können. Eine spezifische nationale Geschichte war ein zweites unerlässliches Kriterium der Nationsbestimmung, und nicht zufällig entstand im 19. Jahrhundert in Europa die (nationale) Geschichtsschreibung als eigenständige Disziplin. Die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Beglaubigung einer eigenen, von anderen Nationen abgegrenzten Geschichte brachte Historiker stets in die Nähe zur nationalen Ideologie und Legitimierung der offiziellen Nationalstaatsräson.

Geschichte ließ sich aber auch radikaler als gemeinsame Abstammung verstehen, die nicht bloß einen genealogischen Ursprung in grauer Vorzeit meint, sondern damit auch einen biologischen Zusammenhang herstellt, eine »Blutsverbundenheit«, die all diejenigen ausschließt, die zwar im Laufe der Geschichte zur Nation hinzugestoßen sind, aber eben nicht über das »gemeinsame Blut« verfügen. Mochten Juden oder Polen in Deutschland sich noch so sehr bemühen, ihre nationale Loyalität zu beweisen, der Vorwurf, sie besäßen »fremdes Blut«, schloss sie unweigerlich von der deutschen Nation aus. Antislawismus und Antisemitismus sind daher immer Begleiter einer »völkischen« Definition des Volkes.

Diese Ethnisierung des Volkes, wie sie etliche Beobachter markiert haben, ist vor allem für das 20. Jahrhundert charakteristisch. Indem das Volk naturalisiert wird, sich folglich nicht mehr über Verfahren des Rechts als Staatsvolk konstituiert, löst sich die Nation, so hat Ulrich Bielefeld argumentiert, als politische Form der modernen Gesellschaft auf.2 Während in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts Minderheiten mit repressiven Nationalisierungspolitiken ihrer kulturellen Differenz beraubt wurden, stempelt die ethnisierte, biopolitische, »völkische« Definition des Volkes die Andersheit des »Anderen« zu einer Naturtatsache, ruft unentrinnbar genetische und nicht mehr bloß genealogische Differenzen auf, die per definitionem nicht assimiliert werden können. Mörderische Politiken der Segregation, ethnische »Säuberungen«, Vertreibung bis hin zur massenmörderischen Vernichtung lösten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die vormaligen Assimilationsprojekte ab. Die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« wurde zum Inbegriff eines rassistischen und antisemitischen Konzepts des Volkes, das Exklusion und Ermordung von »Gemeinschaftsfremden«, »Fremdvölkischen« zur Konsequenz hatte.

Wer heute also über Volk und Volksgemeinschaft redet, darf die Abgründe des »Volkes« nicht ignorieren. Der emphatische Bezug der AfD auf das Volk, das laut propagierte Selbstverständnis, »Lobbypartei des Volkes« zu sein, das sich in erster Linie aus der Gegnerschaft zu einer als korrupt, inkompetent und verantwortungslos empfundenen politischen Elite speist, ist daher nicht mit dem bloßen Hinweis zu widerlegen, die AfD benutze das Volk als politische Mogelpackung. Der Rückzug auf ein staatsbürgerliches Verständnis von Volk und Demokratie ist ehrenwert, verdeckt jedoch, dass die »völkische« Auffassung des Volkes möglich ist und, wenn sie vom Volk gebilligt wird, »demokratisch« legitimiert verwirklicht werden kann. Hätte es 1935 in Deutschland freie Wahlen gegeben – und die Abstimmung im Saarland im Januar 1935, die unter internationaler Aufsicht stattfand, gibt durchaus eine Ahnung davon –, wäre die Zustimmung zu Hitler und der NSDAP zweifellos übermächtig gewesen. Die gewalttätige Politik gegen die linke Opposition, gegen die deutschen Juden, gegen kranke und behinderte Menschen, die vor aller Augen lag, hätte den Wahlsieg der Nationalsozialisten nicht beeinträchtigt. Selbst wenn man annehmen kann, dass viele Deutsche weder Konzentrationslager noch Antisemitismus unterstützten, so haben sie doch mit der Zustimmung zum Regime, zu dessen Politik, ein »völkisches« Volk zu schaffen, die Exklusion all derer, die nicht zur Volksgemeinschaft gehörten sollten, gebilligt.

Um diese Untiefen soll es in diesem kleinen Buch gehen, das keine umfassende, geschichtswissenschaftliche Analyse darstellt, sondern vielmehr eine historisch-politische Intervention. Volk und Volksgemeinschaft sind politisch, kulturell und sozial definierte Gemeinschaften, bei denen stets um die Zugehörigkeit, um Inklusion und Exklusion, gekämpft wurde. Darum argumentiere ich in diesem Buch vor allem als Historiker, auch wenn politikwissenschaftliche, demokratietheoretische Konzepte von Volk selbstverständlich berücksichtigt werden. Im Zentrum steht jedoch das Volk als »imagined community« (Benedict Anderson), dessen Definition durchaus fluid, umkämpft und nicht von vornherein gegeben ist. Die Auseinandersetzung mit der AfD und deren Volksbezug kann daher auch nicht mit einem bequemen Hinweis auf das Grundgesetz geführt werden, sondern benötigt auch ein gehöriges Maß an Selbstreflexion und Selbstkritik. Das »Volk« ist ein Leviathan, der keineswegs per se gut, vernünftig und friedlich ist.

Daher braucht es, so werde ich am Schluss argumentieren, eine Öffnung in der Diskussion um das Volk. Weniger in der (erneuten) Etablierung einer staatsbürgerlichen, nicht-»völkischen« Definition des Volkes sehe ich ein zukunftsweisendes Konzept in einer globalisierten Welt, in der Völker und Nationen sich längst aufzulösen begonnen haben. Mein Vorschlag lautet, sich auf Hannah Arendt zurückzubesinnen und Menschen, die das Recht haben, Rechte zu haben, in den Mittelpunkt des politischen Denkens zu stellen. Nicht die Zugehörigkeit zu einem Volk, das stets als Einheit im Kollektivsingular bestimmt wird, sondern die Wahrung von Rechten konkreter Menschen könnte einen Weg weisen, um den Widersprüchen und Ambivalenzen zu entgehen, die dem Begriff des Volkes von Anfang an inhärent sind, dessen Radikalisierungspotenzial das 20. Jahrhundert auf schreckliche Weise unter Beweis gestellt hat.

Für die zweite, aktualisierte Auflage habe ich neu erschienene Studien zu Demokratie und Populismus eingearbeitet, Ereignisse wie die Wahl Donald Trumps oder die Präsidentschaftswahlen in Frankreich berücksichtigt sowie vor allem im Kapitel zur AfD die politische Entwicklung der Partei in den vergangenen Monaten bewertet.

1Luhmann, Politik der Gesellschaft, S. 366.

2Bielefeld, Nation und Gesellschaft.

IVolk

Der Begriff Volk führt stets die blutigen Kämpfe, die in seinem Namen geführt werden, mit sich: die Abgrenzungen nach oben und unten, nach innen und außen. Das Staatsvolk will nichts gemein haben mit dem Pöbel, der Menge, den Massen; allein das Wort Volksherrschaft, gar in der Doppelung Volksdemokratie, ruft die Assoziationen Terror, Anarchie und Willkür hervor. Das auserwählte Volk Gottes glaubt sich gegenüber den ungläubigen Völkern in einer unzweifelhaften Position der Überlegenheit; das Volk, zur Nation gekürt, verwandelt die Bevölkerung eines Territoriums in eine Abstammungsgemeinschaft oder in Staatsbürger, die sich ebenfalls mit der ganzen Kraft des naturrechtlichen Vernunftanspruchs zur modernisierenden Herrschaft über andere Völker berufen fühlen. Wer den Begriff des Volkes in den Mund nimmt, sogar beansprucht, Volk zu sein, wird sich daher fragen lassen müssen, welches Volk er meint.

Das klassische Volk

Im antiken Griechenland bezeichnete der Begriff demos die Versammlung der freien männlichen Bürger einer polis, wohingegen mit ethnos all diejenigen »barbarischen« Völker benannt wurden, die außerhalb der griechischen Welt lebten. Zum demos gehörten weder Frauen noch Sklaven und auch keine Fremden (Metöken), sondern waffenfähige Männer von unbescholtener, athenischer Geburt. Das »Volk« im antiken Athen war eine Bürgerversammlung, nicht Staatsvolk im modernen Sinn. In der Stadt Athen und seiner Umgebung lebten im 5. Jahrhundert v. u. Z. etwa 200000 Menschen, darunter rund 60000 erwachsene Männer, von denen 30000 als Vollbürger galten – also etwa 15 Prozent der Bevölkerung, die über die Geschicke Athens unmittelbar entschieden.

Die »Entstehung des Politischen bei den Griechen« (Christian Meier) bedeutete die Trennung in die häusliche Sphäre des oikos, wo der Familienvater weiterhin ein autonomes despotisches Regime führte, dem sich Frauen wie Sklaven zu unterwerfen hatten, und die öffentliche Sphäre der polis, des städtischen Gemeinwesens. Wer sich am Wohl der polis nicht beteiligte, verlor seine Bürgerrechte und wurde als »schlechter Bürger«, wie es in einer von Thukydides überlieferten Rede des Perikles hieß, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Alle Entscheidungen, die die polis betrafen, wurden in der Volksversammlung getroffen, die etwa vierzig Mal im Jahr zusammentrat und von einem Rat der 500 vorbereitet wurde, dessen Mitglieder für jeweils ein Jahr anteilig in den zehn Bezirken Athens ausgelost wurden. Auch die Besetzung der politischen, militärischen, religiösen Ämter wurde entweder von der Volksversammlung bestimmt oder ausgelost. Per Los wurden auch die Bürger ausgewählt, die als Laienrichter die »Dikasterien«, die Volksgerichte, bestückten, denen jeweils etwa 500 Richter angehörten. Es gab kein kodifiziertes Recht, sondern wie in der Volksversammlung entschieden die Richter je nach Fall und eigenem Urteil.

Was die Athener »erfanden«, war die Gleichheit der Bürger. Schon mit den Reformen des Kleisthenes zum Ende des 6. Jahrhunderts v.u.Z. wurde Rechtsgleichheit (Isonomie) aller männlichen, freien Bürger eingeführt; der Adel musste sich mit dem »Volk« politisch arrangieren. 462/61 v.u.Z. schließlich wurde der Areopag, der Adelsrat, entmachtet, seine Mitglieder getötet oder vertrieben. In den nächsten 150 Jahren erlebte die Volksherrschaft in Athen Höhen und Tiefen, wie die Regierungszeit des Perikles auf der einen und die Errichtung von Oligarchien und die Hinrichtung Sokrates’ auf der anderen Seite.

Die Untiefen demokratischer Herrschaft analysierte Aristoteles (384 – 322 v.u. Z.) schonungslos, der als Metöke keinen Anteil an der Athener Politik haben durfte, sie jedoch genau beobachtete und reflektierte. In Aristoteles’ kritischem Blick kann man von einer Demokratie sprechen, »wenn die Freigeborenen und Armen, die die Mehrzahl bilden, als Souverän die Macht innehaben«3 und diese zu ihrem Vorteil nutzen können. Zwar war die Gefahr, dass ökonomische Eigeninteressen das Politische korrumpieren könnten, auch bei den anderen Regierungsformen gegeben wie der Einzelherrschaft, Monarchie, die in Tyrannis ausarten kann, oder der Herrschaft Weniger, Aristokratie, die sich zu einer Oligarchie radikalisieren kann. Aber in der Demokratie, in der nicht Herkunft, Bildung, Besitz Kriterien für Herrschaft sind und in der Demagogen, also begabte Redner, die Möglichkeit besitzen, die Volksmeinung durch das Schüren von Emotionen zu beeinflussen, befürchtete Aristoteles, dass nicht das Gemeinwohl der polis als vielmehr eigennützige Zwecke im Mittelpunkt der Politik stünden. Konsequent war bei ihm die Demokratie der Begriff für die verfehlte Herrschaft der Vielen, deren gelungene, auf den allgemeinen Nutzen gerichtete Form er Politie nannte.

Wie also können sich Tugenden wie Vernunft, Besonnenheit, Maß und Gemeinwohlorientierung in der Politik durchsetzen? Während für Platon (428/27–348/47 v.u.Z.), den Lehrer von Aristoteles, der Ausweg in einer totalitären Herrschaft von Philosophen bestand, setzte Aristoteles auf eine Mischverfassung, die monarchische, aristokratische und demokratische Elemente verband und so eine Ordnung der polis schuf, die zugleich Bedingungen für die Entwicklung wie die Stärkung politischer Tugenden bot. Freiheit ist ebenso unverzichtbarer Bestandteil einer guten politischen Ordnung wie die Anerkennung der Ungleichheit bei gleichzeitiger politischer Gleichheit. Polis dürfe nicht als große Familie oder Haushalt missverstanden werden. Nicht die Einheit ist das Ziel gelungener Politik, sondern das Glück der Bürger. Auseinandersetzung und Vielfalt sind daher unverzichtbar. Ein Gefüge von sich gegenseitig kontrollierenden Institutionen, das die positiven Eigenschaften der unterschiedlichen Regierungsformen miteinander verknüpft, sowie die Erwartung, dass sich in einer solchen Ordnung die notwendigen politischen Tugenden aufgrund von Gewöhnung und Erziehung dauerhaft entwickeln werden, zeichnen das pragmatische und realistische Lösungsszenario von Aristoteles aus, ohne dass er das eigennützige Streben nach Reichtum und Macht, das jede gute Verfassung zerstört, unterschätzt hätte.

Der römische Staat war Republik, aber keine Demokratie. Zwar war für Cicero (106–43 v.u.Z.) die respublica res populi, waren die öffentlichen Angelegenheiten also eine Sache des Volkes. Aber das Volk war »nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist«.4 Obwohl plebejische Elemente seit den Aufständen der Gracchen in die politische Verfassung eingebaut wurden und die Volkstribune erweiterte Kompetenzen erhielten, blieb der Senat als aristokratische Institution das entscheidende Machtzentrum der römischen Republik. Eine auf Gleichheit basierende Bürgerherrschaft wie in Athen gab es in Rom nicht, und mit der Diktatur Cäsars löste sich die republikanische Verfassung auf, um schließlich mit Augustus als Kaiser wieder in die Monarchie zu münden.

Das Volk Gottes

Neben den klassischen Bestimmungen des Volkes als demos beziehungsweise populus darf im europäischen Kontext nicht die jüdisch-christliche Vorstellung des auserwählten Volkes Gottes außer Acht gelassen werden. In dem Moment der Bedrängnis, als sich die Israeliten als Zwangsarbeiter in ägyptischer Gefangenschaft befanden, versprach Gott dem Mose die Rettung aus der Sklaverei: »Ich nehme euch mir zum Volk, ich werde euch zum Gott, erkennen sollt ihr, daß ICH euer Gott bin, der euch führt, unter den Lasten Ägyptens hervor« (Exodus, 6,7; Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig). Der besondere Status, den Juden und später dann ebenfalls Christen, für die Gott durch Christus mit ihnen einen neuen Bund geschlossen hat, als Volk Gottes für sich reklamieren, bedeutet sicherlich mehr Verpflichtung, die Gebote Gottes zu achten, als das überhebliche Gefühl des Auserwähltseins gegenüber anderen Völkern. Aber der beanspruchte Bund mit Gott kann auch als einzigartig und exklusiv begriffen werden, der dem Wir-Gefühl eine erhöhende Dimension verleiht und die Grenzen gegenüber anderen, die nicht als zum Volk Gottes zugehörig erachtet wurden, verschärft. Die Vorstellung des auserwählten Gottesvolkes erhält in Verbindung mit dem Versprechen der Befreiung vom ägyptischen Joch zusätzlich eine eschatologische Bedeutung, nämlich die Hoffnung, dass Gott sein Volk in die Freiheit führen wird, in ein Leben ohne Unterdrückung. Exodus ist eine starke Verheißung, und kennzeichnenderweise sind die Gospel aus der Sklavenzeit, die auch heute noch in den afroamerikanischen Gemeinden gesungen werden, von eben diesem Bild der Befreiung, des Auszugs des Gottesvolks aus der Sklaverei, geprägt.

Demgegenüber war das christlich dominierte, europäische Mittelalter strikt hierarchisch gegliedert. Drei Stände bildeten die Gesellschaft: Adel, Klerus und Bauern, wobei die Städte zunehmend diese feudale Struktur unterliefen. Die entscheidende politische Herrschaftsfrage bestand darin, ob der kirchlichen oder der weltlichen Macht die Suprematie zustand. Mit seiner Theorie der zwei Reiche schuf Martin Luther (1483–1546) eine Balance, aber um den Preis, dass die Christenmenschen der weltlichen Obrigkeit Gehorsam schuldeten. Der Satz Jesu: »So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört« (Matth 22, 21; Einheitsübersetzung), der als Antwort auf die Frage, ob man als Jude dem Römischen Reich Steuern zahlen solle, die Nichtigkeit materieller Dinge unterstreichen sollte, wurde nun politisch im Sinne einer Aufforderung zur Untertänigkeit interpretiert.

Wenn sich jedoch das niedere Volk, der Pöbel, der vulgus, die inferiores, pauperes, minores zusammenrotteten und sich gegen die Obrigkeit erhoben wie die aufrührerischen Bauern 1525, dann geriet auch rasch wieder die eschatologische Dimension des Gottesvolks in den Horizont, das gegen die irdischen, verderbten Mächte, gegen den Anti-Christ für das zukünftige Reich Gottes stritt. »das volck wirdt frey werden«, prophezeite Thomas Müntzer (1489–1525), »und Got will allayn der herr daruber sein.«5

Die Reformation, die Spaltung der Christenheit und die nachfolgenden katastrophischen konfessionellen Kriege im 16. und 17. Jahrhundert förderten die Vorstellung von der Notwendigkeit absoluter Macht: Souveränität. Jean Bodin (1529/30–1596), der mehrere Verfahren wegen Häresie über sich ergehen lassen musste und der mörderischen Bartholomäusnacht in Paris 1572 als mutmaßlicher Protestant nur knapp entkam, ebenso wie Thomas Hobbes (1588–1679), der 1640 aus England ins Pariser Exil floh und dort den Leviathan schrieb, reagierten beide auf den endgültigen Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltordnung durch die Spaltung der Christenheit, indem sie in ihrer neuen politischen Theorie der Souveränität die Trennung von Glauben und Politik auf der einen und die strikte politische Einheit des Staates auf der anderen Seite forderten.

Souveränität

»Unter der Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen«, lautete Bodins klassische Formulierung. Absolut und unbeschränkt sollte die Macht des Souveräns sein, nur den Gesetzen Gottes und der Natur unterworfen: »Der souveräne Fürst erkennt außer Gott keinen Höheren neben sich an.« Wichtigstes Merkmal seiner Souveränität war die Gesetzgebungskompetenz: »Es zeigt sich also, daß das Wesen der souveränen Macht und absoluter Gewalt vor allem darin besteht, den Untertanen in ihrer Gesamtheit ohne ihre Zustimmung das Gesetz vorzuschreiben.«6 Bodin legte nicht von vornherein fest, in welcher der politischen Ordnungen, ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie, das Prinzip der Souveränität verwirklicht werden könne. Aber seine Argumentation lief darauf hinaus, dass nur ein Einzelner, ein Fürst, der absolute Souverän sein könne.