cover
Georgine Beeke

Menschenkrank

Bilanz einer Spurensuche





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vom Vater abgewandt: Großmutter Marte

Als Großmutter 15 Jahre alt war, starb ihre Mutter. Marte, so hieß Großmutter, führte danach mit großer Umsicht den Haushalt in der kleinen Kate, bestellte den großen Gemüsegarten, versorgte das Kleinvieh, drei ältere Brüder, die als Handwerker arbeiteten, und den Vater, einen Tagelöhner. Marte ging leidenschaftlich gern zur Schule. Weil ihr zum Stillen ihrer Wissbegier und für ihren Lerneifer nur wenige Schulbücher zur Verfügung standen, hatte sie alle Gedichte daraus auswendig gelernt. Romane oder überhaupt Bücher zu lesen, auch wenn sie Zugang und Zeit dazu gehabt hätte, schickte sich für ein Mädchen ihres Standes nicht, von dem erwartet wurde, Hausfrau und Mutter zu werden. Dafür war ein Wäscheschatz notwendig, den sie sich selbst schaffen musste.

Wie die meisten Mädchen im Dorf übernahm sie nach dem schwierigen Teil des Flachsanbaus mit geschickten Händen bereitwillig dessen Herstellung. Fertig gewebtes Leinen wurde am Dorfanger auf einer Feuchtwiese beim Mondschein zum Bleichen ausgelegt. Das war der schönste Teil der Arbeit. Mit berechtigtem Stolz und der Freude über das Ergebnis saß Marte mit den Frauen und Mädchen des Dorfes unbeaufsichtigt von stets Unmoral witternden Familienoberhäuptern am Wiesenrand und bewachte das kostbare Gut. Bei den Arbeiten in Haus und Garten halfen die ihr herzlich zugeneigten Brüder, bis die beiden Ältesten nacheinander das Haus verließen um zu heiraten. Der jüngste Bruder nahm sich bald seine Frau ins Haus. Er hatte die Pflicht übernommen, den Vater im Bedarfsfall zu versorgen, der sich nach dem Tod seiner Frau heimlich einer Witwe zugewandt hatte, einer Fremden, die zu entfernten Verwandten ins Dorf gekommen und geblieben war.

Nach dem Einzug der Schwägerin verstaute Marte alles, was sie besaß, in einer kleinen Truhe auf dem Speicher und bewarb sich erfolgreich um eine Stellung als Haushaltshilfe bei einer Kaufmannsfamilie in Bremen. Bevor sie das Dorf verließ, verlobte sie sich noch mit einem jungen Mann, der einige Jahre älter als sie war. Mit seinem Vater, der todkranken Mutter und dem etwas kränkelnden jüngsten Bruder baute Wilhelm am anderen Ende des Dorfes ein Wohnhaus mit Stallungen. Die dem Lebensunterhalt dienende kleine Landwirtschaft entstand auf dem Grund, auf dem Jahre zuvor das alte Haus einer Brandkatastrophe zum Opfer gefallen war, die die Bewohner obdachlos gemacht und ihnen harte Entbehrungen auferlegt hatte.

Bald nach diesem Brand und der Verheiratung seiner Schwestern waren drei von Wilhelms Brüdern nach ihrer selbstfinanzierten Lehre beim Dorfschmied auf Frachtschiffen nach Amerika ausgewandert als Hilfsmatrosen, um die Überfahrtkosten zu sparen. Im zunächst rasant wachsenden und nach guten Arbeitern suchenden Chicago hatten sie sich angesiedelt und es im Liftbau nach kargen, schwierigen Anfangszeiten zu einigem Wohlstand gebracht. Wilhelm jedoch, der Älteste und Verlobte von Marte, hatte sich den Eltern und dem jüngsten Bruder verpflichtet. Schweren Herzens und mit Fernweh hatte er die scheidenden Brüder unterstützt und ihnen in ihrem Bemühen geholfen, fern der Heimat in einer neuen, verheißungsvollen Welt ihr Glück zu suchen.

Noch während er an Haus und Wirtschaftsgebäuden baute, wurde er zum Militärdienst eingezogen und verließ das Dorf, wie zuvor Marte. Er hatte gutgeheißen, dass sich seine Verlobte, bevor sie heirateten, ihre Aussteuer durch eine der wenigen ihr verbleibenden Möglichkeiten verdienen wollte. Bis dahin ihre Angelegenheiten für das Wohl ihres Vaters und ihrer Brüder in den Hintergrund stellend, hatte sie ein Einkommen nur durch den Lohn ihrer Arbeit auf dem nachbarlichen Gutshof erhalten können. Ihr ganzer Besitz lag in der kleinen Truhe mit selbst hergestellter Wäsche und wunderbar feinen Häkel- und Stickarbeiten.

Die großbürgerlich noble Kaufmannsfamilie, der sie diente, ging ungewöhnlich anständig mit ihrem Personal um. Auch die Kinder wurden dazu angehalten. Weil Dienstboten nicht gestattet war sich zu wehren, durften sie nicht in eine kränkende Lage gebracht werden. Man ließ das Personal großzügig teilhaben an den Vorteilen des Lebens in der Stadt. Für Marte zählten vor allem die modernen Hygiene-Einrichtungen dazu, die auch dem Personal regelmäßige Bäder in warmem Wasser gestatteten. Sie genoss das Großstadtleben im kultivierten Großbürgertum. Es verschaffte ihr in ihrer knappen Freizeit Zugang zu Kultur und Bildung. In der feinen schwarzen Kleidung, den gestärkten weißen Schürzen und dem Häubchen auf den hochgesteckten, braunen Haaren fühlte sie sich sehr wohl. Ihr Verlobter wurde in der Zeit in Potsdam zum Tambour ausgebildet. Ein Besuch bei ihm, verbunden mit einem Ausflug nach Berlin, war Martes weiteste Reise gewesen. Noch bevor sie die geplante Rückkehr in ihr Heimatdorf antreten konnte um zu heiraten, brach der Krieg aus, ruinierte die Kaufmannsfamilie, riss sie auseinander und zwang Marte, vorzeitig in ihr Dorf zurückzukehren. Ihr Verlobter lag bereits vor Verdun.

Den Lohn ihrer Bremer Jahre, ihrem Vater zu treuen Händen geschickt, hatte er seiner Geliebten geschenkt, die ganz genau wusste, wessen Geld sie für Kinkerlitzchen ausgab. Trotz ihres leidenschaftlichen Temperaments hatte sich Marte nur stumm von ihrem Vater abgewandt, als er diese Veruntreuung zugab. Die schönsten Stücke ihrer Wäsche fehlten in ihrer Truhe, und das, was übrig geblieben war, schaffte sie in das noch nicht vollständig fertiggestellte Haus ihres Verlobten, dessen Mutter kurz zuvor gestorben war. Marte hatte dafür noch keinen Schrank fertigen lassen können, als befohlen wurde, alles Leinen als Verbandsmaterial für Kriegsverletzte abzugeben.

In einem kurzen Fronturlaub heirateten Wilhelm und Marte. Schwer verwundet und nach einer Verschüttung wundersam gerettet, kam Wilhelm nach dem Krieg nach Hause zurück. Im Jahr darauf wurde dann meine Mutter in eine entbehrungsreiche Zeit hineingeboren. Großvaters Enttäuschung über ein Mädchen war so groß, dass er sich weigerte, über einen Namen nachzudenken. Außer Minchen oder Mariechen, behauptete er, würde ihm ohnehin nichts einfallen. Durch einen geschickten Hinweis setzte Großmutter den Namen Fanny durch, indem sie Großvater auf den von ihm sehr verehrten Wilhelm Busch hinwies, den er als Schuljunge bei einem Klassenausflug in dessen nahegelegenem Heimatort noch persönlich kennengelernt hatte, wo dieser im Haushalt seiner Schwester Fanny bis zu seinem Tod versorgt worden war.

In den schweren Zeiten hielt Großmutter zäh daran fest, es in ihrem Leben doch noch zu gottgefälligem Wohlstand bringen zu können, als sichtbares Zeichen für Fleiß, Ordnungsliebe und Ehrlichkeit. Während der Kriegsjahre und danach sicherte ein Garten, wunderschön am Fluss vor dem Dorf gelegen, an zwei Seiten begrenzt von Fliederhecken, der Familie das Überleben. Großvater Wilhelm hatte ihn, 18-jährig, günstig von einer auswandernden Familie erworben und mit dem Lohn der Hand- und Spanndienste bezahlt, die er mit den zwei Ochsen seines Vaters für das Gut im Dorf verrichtete.

Äußerlich hatte sich Großvater von seinen Kriegsverletzungen schnell erholt. Er ließ sich als engagierter Bürger von der jungen SPD in den Kreistag wählen. Inzwischen hatte er die begehrte Arbeitsstelle eines Glasbläsers in der nahen Hütte erhalten. Bevor das Geld für ein Fahrrad zusammengespart war, brauchte er eine Stunde Gehzeit für den Hinweg und eine für den Rückweg. Er war wie alle anderen Arbeiter auch an sechs Tagen in der Woche zwölf Stunden unterwegs. Der regelmäßige Lohn wurde für notwendige Anschaffungen und zum Sparen verwendet.

Bald ersetzte ein Pferd das Ochsengespann. Eine Kutsche kam dazu, wobei Bedenken überwunden werden mussten, weil zu dem Stand, dem man angehörte, eigentlich keine Kutsche passte. Durch Personenbeförderung, hauptsächlich zum entfernt gelegenen Bahnhof, hatte sie sich bald bezahlt gemacht. Großmutter beackerte neben ihrer Arbeit im Haushalt freudig und klaglos die kleine Landwirtschaft, die ihre Familie mit dem Lebensnotwendigen versorgte und durch Zukauf von billigem Grund vor dem Dorf wuchs. Ihre Arbeit war nicht mehr und nicht weniger als das Tagwerk der anderen Frauen im Dorf. Mit nur einem wohlgeratenen Kind im Haus waren Sauberkeit und Ordnung, die sie so schätzte, vorbildlich.

Ihrem 64 Jahre alten Schwiegervater war, zwei Jahre nach Fannys Geburt, von einer 49-jährigen Witwe ein Sohn geboren worden. Die alten Eltern heirateten erst am Tauftag des Kindes. Danach verließ Martes Schwiegervater das Haus, um den Hof seiner Frau zu bewirtschaften, auf dem sie mit ihrem kleinen Sohn aus erster Ehe und ihren Eltern lebte, die sich wohl einen jüngeren Schwiegersohn erhofft hatten, denn es ging die Rede von üblem Streit unter den drei Alten.

Großvaters kränkelnder Bruder hatte auch geheiratet und bewohnte mit seiner schlichten, gütigen Frau Line und dem bald darauf geborenen Sohn den vorderen Teil des neuen Hauses. Wegen des unglaublich verwöhnten Söhnchens war es oft zu Spannungen zwischen den beiden jungen Familien gekommen, die sich aber nach späterem Auszug der Familie des Bruders in das eigene Heim lösten.

Damit begannen die schönsten, erquicklichsten Jahre in Großmutters Leben. All ihr Wirken war segensreich. Während der Erntezeit packten hilfreiche Hände mit an. In Haus und Hof ging es fröhlich zu, denn Großmutter pflegte die Gastfreundschaft. Sie beherrschte die Kunst des Kochens und bot aus Küche und Keller rechtschaffen hungrigen Mäulern großzügig an.

In diesen Jahren stiftete in der nahen Kreisstadt eine Dame eine Badeanstalt, in der jedermann für wenig Geld ein Wannenbad nehmen konnte. Einmal wöchentlich fuhr die ganze Familie in der Kutsche dorthin. In das große Haus ein Bad einzubauen, was sich für den Kleinbauernstand nicht schickte, wagte man wohl wegen der Lästereien und des Neides der Dorfbewohner nicht. Nur auf großen Bauernhöfen war mitunter schon eine Badewanne in einer Ecke der Waschküche zu finden. So blieb das auswärtige Badevergnügen den scheinbar etwas besser gestellten Kleinfamilien vorbehalten und denen, die es gern hatten, nicht ärger zu stinken als ihr Kleinvieh.

Fanny wuchs heran und bereitete ihren Eltern weder Kummer noch Sorgen. In der Schule saß sie als eine der Klassenbesten immer mit in der ersten Bank. Neun Jahre war sie alt, als sie halbtot mit einem Blinddarmdurchbruch in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Arzt machte den Eltern nicht die geringsten Hoffnungen, aber sie überlebte und war nach langer Genesungspause bald wieder die Klassenbeste.

Der Lehrer und Kantor, brutal, ungerecht und entnervt von vielen eigenen Kindern, nannte sie Fräulein Vertog (Hochdeutsch: verzogen), weil sie jeden Montag mit einer reinen Schürze in die Schule kam. Dennoch: Er überwand seine Vorurteile gegen Einzelkinder und Mädchen im Besonderen, und empfahl den Eltern, Fanny auf die höhere Schule in die Kreisstadt zu schicken. Großvater lehnte das strikt ab. Die Bitterkeit, mit der er sein Nichteinverständnis begründete, ließ den Schluss zu, dass noch immer Kummer über einen nicht geborenen Sohn an seinem Herzen nagte. Großmutter hätte gern anders entschieden, beugte sich aber dem Willen ihres Mannes. Sie wunderte sich weiterhin über die fortschrittliche Denkweise des Kantors und Lehrers. Einerseits stellte er Martes Reinlichkeit - aufrechterhalten durch mehr am Waschbrett verbrachte Stunden als andere Frauen - als etwas Entartetes statt etwas Nachahmenswertes dar, andererseits machte er keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Und sie wunderte sich über ihren klugen, auch in Frauenfragen fortschrittlich denkenden Mann, der entgegen seiner Einstellung bei seiner Tochter besonders strenge Maßstäbe anlegte und ihr nur zubilligte, was an Ausbildung nötig war, um eine gute Hausfrau zu werden. Von einer Tagung in der Großstadt brachte er ihr einmal ein kleines Akkordeon mit, das sie sofort, ohne Noten lesen zu können, zu spielen verstand.

Nach der Konfirmation begann Fanny an ihrer Aussteuer zu arbeiten, und an Wochentagen besuchte sie die Haushaltungsschule in der Kreisstadt. An alle Aufgaben ging sie trotz ihrer Enttäuschung, sich nicht geistig bilden zu dürfen, mit großer Freude und bewies ihre Begabung und ihr Geschick bei besonders schönen und feinen Arbeiten, die im Wäscheschrank verwahrt wurden und die schön mit Weintrauben beschnitzten Möbel in unserer Stube zierten.