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Über das Buch:

 Zwei starke Schwestern kämpfen für ihre Freiheit - und um die Liebe. In Carcassonne, im Süden Frankreichs, entscheidet sich ihr Schicksal ...

Köln 1205. Die Schwestern Adelind und Hildegard müssen Hals über Kopf aus dem Kloster fliehen, in das sie als Kinder gegeben wurden, als Hildegard ungewollt schwanger wird. Bei einer Gauklertruppe finden die Frauen Zuflucht - und Adelind die Liebe. Ihr Schicksal führt sie bis nach Südfrankreich. Als die Mädchen dort in die Obhut von Esclarmonde de Foix kommen, einer Gräfin, die den Lehren der Katharer folgt, finden auch sie neue Kraft im Glauben. Doch der Konflikt mit dem Papst spitzt sich dramatisch zu. Und er gipfelt schließlich in dessen Aufruf zum Kreuzzug, der in einem blutigen Inferno endet ...

Titlepage

An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen

Matthäus 7

1. Kapitel

Der Speisesaal erstreckte sich im Schimmer zahlloser Kerzen vor Adelinds Augen und erinnerte für einen Moment an ein irdisches Paradies. Sie waren nach der Vesper über den Innenhof des Klosters gelaufen, wo Schneewehen wie feine Messerspitzen in ihre Gesichter geschnitten hatten. Mit dem Beginn des Jahres 1205 war der Winter erbarmungslos über das Land hereingebrochen und machte selbst einen kurzen Aufenthalt im Freien zur Qual. Adelind zog ihre wollene Kukulle noch fester um sich, und es widerstrebte ihr, die pelzgefutterten Handschuhe abzulegen, denn ihre Finger darin schienen immer noch so steifgefroren, dass jede Bewegung schmerzen würde. Bereits in der Kirche des Klosters zu den heiligen Makkabäern war es unerträglich kalt gewesen, Adelind hatte das Zittern ihrer Schwester Hildegard deutlich spüren können, als sie so unauffällig wie möglich zusammengerückt waren, um sich gegenseitig zu wärmen. Doch hier im Refektorium prasselte bereits seit längerer Zeit ein Herdfeuer, das gemeinsam mit den Kerzen dazu beigetragen hatte, den großen Raum aufzuwärmen. Adelind zog die pelzverbrämte Kapuze von ihrem Kopf. Ihr Magen knurrte so laut, dass sie fürchtete, jemand könnte es hören und ihr Maßlosigkeit vorwerfen. Bratengeruch kitzelte in ihrer Nase, was den Zustand noch verschlimmerte.

»Hasenbraten«, flüsterte Hildegard und verzog gequält das Gesicht. Adelind staunte wieder einmal über das Talent ihrer Schwester, die jeweilige Fleischsorte auf der Stelle am Geruch zu erkennen, obwohl ihr doch alles Fleischerne zuwider war. Hasenbraten hasste sie ganz besonders.

»Iss wenigstens ein bisschen davon. Es wird dir guttun. Du siehst so blass aus in letzter Zeit«, sagte Adelind, denn sie wusste nur zu gut, wie gereizt die Äbtissin auf Hildegards heikle Essgewohnheiten reagierte.

»Aber es ist nicht recht«, entgegnete Hildegard nun etwas lauter. »Selbst die Regeln des heiligen Benedikt besagen, dass Mönche und Nonnen nicht das Fleisch vierbeiniger Tiere essen sollten. Und die Zisterzienser ...«

»Dies ist ein Benediktinerkloster«, unterbrach Adelind rasch. Warum brachte die sonst so sanftmütige Hildegard sich durch ihre Abneigung gegen den Verzehr von Fleisch stets in Schwierigkeiten? Die Äbtissin begrüßte diese Form der Enthaltsamkeit nicht, da sie wohl erkannt hatte, dass sie in Hildegards Fall keine Entbehrung, sondern einen mehr als freiwilligen Verzicht darstellte. Wem Fleisch zuwider war, der sollte seinen Körper eben dadurch kasteien, dass er es aß. Jedes andere Verhalten stellte eine hochmütige Ablehnung der Gaben Gottes dar.

Der üblichen Ordnung gemäß verteilten sie sich rasch an der Tafel. Mutter Mechtildis, die Äbtissin, speiste manchmal mit den Gästen des Klosters oder gar mit dem Propst des Sankt-Kunibert-Stifts, unter dessen Aufsicht die Nonnen standen, doch heute war sie zugegen, was es Hildegard unmöglich machen würde, den Hasenbraten nicht anzurühren. Dabei hätte es genügend dankbare Abnehmerinnen gegeben. Gerade die Frauen aus dem einfachen Volk, die im Kloster auf Lebenszeit als Konversschwestern beschäftigt wurden, hatten weder das Recht auf Pelz im Winter noch auf regelmäßigen Fleischgenuss. Während sie an ihnen vorbeiging, grübelte Adelind wieder einmal, wie sie es schafften, die kalte Jahreszeit zu überstehen. Die geweihten Schwestern und Novizinnen aus adeligen Familien blieben bei kaltem Wetter meist im Inneren des Klosters, lasen religiöse Texte, kopierten sie, illustrierten Bücher, bestickten Altartücher oder übten sich im Gesang. Sämtliche Arbeiten im Freien waren den Konversschwestern überlassen, denen man hierfür nur ein paar zerschlissene Wollkutten überwarf.

Adelind und Hildegard fanden ihren Platz in der Mitte der Tafel, denn sie hatten erst vor drei Jahren das Gelübde abgelegt und standen daher rangmäßig unter den älteren Schwestern. Nach ihnen kamen die Novizinnen und schließlich die Konversen. Schwester Juliana, ein Liebling der Äbtissin, hatte die Aufgabe, aus der Bibel vorzulesen, während die anderen Nonnen speisten. Gespräche waren streng verboten.

Erleichtert beobachtete Adelind, wie Hildegard ein Stück von dem Braten abriss und auf den Brotfladen vor ihr legte. Dann nippte sie an ihrem Becher mit verdünntem Wein. Ihr Blick war starr auf das Fleisch gerichtet. Einst hatte sie Adelind beschrieben, was sie in solchen Momenten sah. Blutüberströmte Tierleiber und zuckende Muskeln, von denen das Fell heruntergerissen wurde. Allmählich kamen auch Knochen zum Vorschein. Sobald der Leichnam auf dem Bratspieß steckte, triefte Fett wie Eiter aus ihm heraus. Bald schon bohrten gierige Zähne sich hinein, Knorpel knirschten, Sehnen platzten, und der Gestank des Todes lag in der Luft.

Obwohl Adelind diesen Ekel gegen einen köstlich duftenden Braten nicht nachzuvollziehen vermochte, stand jene Schwester, die nur wenige Momente nach ihr das Licht der Welt erblickt hatte, ihr so nahe, dass sie ihn einen Wimpernschlag lang ebenfalls empfand.

Sie wandte kurz den Kopf. Alle Nonnen waren damit beschäftigt, ihre Mägen zu füllen, und gaben dabei vor, dem Bibeltext zu lauschen. Niemand sah in ihre Richtung.

Adelind bewegte die Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie wusste, dass Hildegard dennoch verstehen würde.

»Mach die Augen zu und schluck es schnell. Versuch, dabei an etwas Angenehmes zu denken. Das Stück ist nicht groß, und bald schon ist nichts mehr von dem Braten übrig. Spül es mit dem Wein hinunter!«

Hildegard biss tapfer zu und begann zu kauen, während ihr Tränen in die Augen schössen. Adelind entspannte sich ein wenig. Der Tag versprach friedlich auszuklingen, doch da presste Hildegard plötzlich eine Hand vor den Mund, als wolle sie ihren Körper daran hindern, die unerwünschte Nahrung wieder auszuspucken.

»Lass das! Mutter Mechtildis sieht zu uns herüber!«, gab Adelind ihr rasch zu verstehen. Es war ihr in der Aufregung nicht ganz gelungen, auf ein paar Laute zu verzichten, und sie spürte den Blick der Äbtissin vorwurfsvoll auf sich ruhen. Rasch senkte sie den Kopf. Eine Weile blieb es still. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie die Äbtissin sich wieder Schwester Juliana zuwandte, und atmete erleichtert auf. Wenn Hildegard nur endlich den Braten herunterwürgen würde, konnte der Rest des Abends durchaus angenehm verlaufen, denn es war ihnen aufgrund der Eiseskälte gestattet worden, die Gebete für das Komplet als auch für die Nokturn in ihrem Schlafsaal zu sprechen.

Hildegard ließ ihre Hand sinken, tat ein paar tiefe Atemzüge und führte nochmals ein Stück Braten zum Mund. Ihre Augen waren diesmal fest geschlossen, wie Adelind ihr geraten hatte. Sie biss ein Stück ab und presste ihre Lippen aufeinander. Adelind konnte an ihrer Kehle die Schluckbewegung erkennen. Sie schöpfte Hoffnung. Wenn der harte Winter lang andauerte, würde an den Fleisch Vorräten ohnehin bald gespart werden, was in Hildegards Augen zu den Vorteilen dieser Jahreszeit gehörte. Adelind hatte gerade nach dem Weinkrug gegriffen, um sich nochmals einzuschenken, als sie eine Bewegung an ihrer Seite wahrnahm. Hildegards Kopf hing nun so dicht über dem Teigfladen, dass sie ihn fast mit der Stirn berührte. Die Hand klebte wie festgewachsen vor ihrem Mund.

»Sag, dass du zu den Latrinen musst, wenn dir übel ist. Schnell!«

Hildegard gehorchte, indem sie sich erhob und mit der freien Hand schnell das übliche Zeichen machte. Noch bevor Mutter Mechtildis ihre Zustimmung gegeben hatte, war sie schon aus dem Refektorium verschwunden. Adelind nahm ein unheilverkündendes Stirnrunzeln auf dem Gesicht der Äbtissin wahr und begann im Geiste zu beten, dass Hildegard für ihr Verhalten nicht durch langes Liegen auf kalten Steinfliesen bestraft würde. Sie schien in den letzten Wochen zunehmend blass und mager. Auch hatte sie sich noch nie zuvor nach dem Essen von Fleisch übergeben müssen. Nur einmal, als Mutter Mechtildis sie gezwungen hatte, eine ganze Schüssel voll fetter Krusten hinunterzuwürgen, war Hildegard anschließend fast bis zum Abendmahl auf der Latrine gesessen, obwohl am Ende nur noch Galle aus ihrem Magen quoll. Schwester Brigitta, die für die Krankenpflege zuständig war, hatte anschließend gemeint, dass fettes Fleisch Hildegard wohl wirklich nicht gut tat. Deshalb blieb ihr seitdem wenigstens diese Tortur erspart.

Schwester Juliana hatte das Lesen beendet und beeilte sich, schnell noch ein paar Speisereste zu ergattern. Von dem Braten war nichts mehr übrig. Adelind erhob sich, neigte respektvoll den Kopf, um dann Hildegards Fleischstück mitsamt dem Fladen in Julianas Richtung zu schieben. Sie vermutete, dass die Äbtissin durchaus froh wäre, wenn ihr Liebling nicht völlig leer ausging, und behielt recht. Mutter Mechtildis protestierte nicht. Nachdem Schwester Juliana sämtliche Knochen abgenagt und selbst das Mark aus ihnen gesaugt hatte, leckte sie sich genüsslich die Finger. Die Äbtissin stand auf, um das Ende des abendlichen Mahls zu verkünden.

»Geht jetzt in euren Schlafsaal. Nach dem Komplet könnt ihr euch niederlegen.«

Die kurze Unterbrechung der Schweigepflicht mündete in munterem Geschnatter. Füße huschten über die hölzernen Bohlen des Bodens. Nur Adelind saß immer noch da und starrte unruhig zu der Tür, durch die Hildegard vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war. Wartete ihre Schwester schon im Schlafsaal? So dumm konnte sie nicht sein, denn sie musste doch wissen, dass die Äbtissin derart eigenwillige Verstöße gegen die Ordnung in ihrer Gemeinschaft nicht mochte. Adelind bemühte sich, aus allen Fasern ihres Körpers ein wenig Mut zu ziehen, als sie sich an Mutter Mechtildis wandte.

»Ehrwürdige Mutter, ich werde nach Hildegard sehen. Sie ist schon sehr lange fort, und in den letzten Wochen schien sie mir sehr schwächlich«, sagte sie so beiläufig wie möglich.

Erwartungsgemäß verzog die Äbtissin das Gesicht.

»Gut, dann geh. Aber Hildegard schwelgt zu sehr in ihrem Leid, will sich ständig mit irgendwelchen Wehwehchen entschuldigen. Mach ihr klar, dass ich nicht bereit bin, es zu dulden.«

Adelind biss sich auf die Lippen, um eine zornige Antwort zu unterdrücken. Wäre es Schwester Juliana, die auf den Latrinen verschollen war, hätte Mutter Mechtildis schon längst selbst jemanden losgeschickt. Allerdings beschränkten die Krankheiten der Favoritin sich auf ein oder zwei böse Erkältungen im Jahr. Hildegard hatte schon als Kleinkind häufig gehustet und viel zu wenig gegessen. Während sie den kräftigen, mit einer schützenden Fettschicht ausgestatteten Leib der Äbtissin musterte, wurde ihr klar, dass ein mit derart robustem Naturell gesegneter Mensch wohl kein Verständnis für zartfühlende Wesen aufbringen konnte.

Im Eilschritt lief sie die Stufen hinab. Es war kalt im Treppenflur, und sie bereute es, die Handschuhe auf dem Tisch des Speisesaals liegen gelassen zu haben. Auch die Latrinen waren nicht beheizt. Was machte Hildegard dort nur so lange? Sie konnte sich den Tod holen.

Adelind atmete fast erleichtert auf, als ihr der gewohnte Gestank in die Nase stieg, denn nun war sie am Ziel. Da sie vergessen hatte, eine Kerze mitzunehmen, musste sie sich am kalten Gemäuer entlangtasten.

»Hildegard! Bist du hier?«

Sie vernahm, wie die leise Stimme ihrer Schwester das Paternoster murmelte, und lief zu ihr hin. Hildegard betete an den merkwürdigsten Orten. Durch kleine Öffnungen in der Mauer drang ein wenig Licht an diesen Ort, den man gewöhnlich nicht genauer sehen wollte. Hildegard kauerte ein Stück neben einem der Löcher, über denen die Notdurft verrichtet wurde. Ihr Gewand war bis zu den Knien hochgezogen, die Wollstrümpfe hatte sie an die Knöchel heruntergerollt. Adelind spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, denn etwas stimmte nicht. War Hildegard nicht in der Lage gewesen, sich wieder aufzurichten? Sie saß völlig starr, ganz in ihr Gebet vertieft, und wandte nicht einmal den Kopf, als ihre Schwester sich näherte. Da Adelinds Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie dunkle Schmutzstreifen auf Hildegards Beinen und auch auf ihrem Gesicht.

»Was hast du getan? Bist du völlig von Sinnen? Wenn Mutter Mechtildis dich so sieht!«, rief sie. Hildegards Kopf drehte sich endlich in ihre Richtung. Die Augen wirkten milchig wie Glas, und Speichel tropfte von ihrem rechten Mundwinkel. Adelind erschauerte, denn für einen Moment meinte sie, einen bleichen Geist vor sich zu sehen.

»Ich bin eine Sünderin, ich bin schmutzig ...«, murmelte Hildegard. Die vertraute Stimme holte Adelind in die Wirklichkeit zurück. Ihre Schwester war wie ein scheues, nervöses Reh und neigte zu übertriebenen Gemütszuständen.

»Ja, schmutzig bist du allerdings, aber nicht von der Sünde, sondern von ... hast du in die Latrine gefasst? Was ist nur in dich gefahren?«, begann sie und fragte sich, wie sie Hildegard möglichst schnell in einen präsentablen Zustand bringen konnte. Erleichtert entdeckte sie einen Eimer mit Wasser, den die Konversschwestern für die nächste Reinigung der Latrinen bereitgestellt haben mussten. Trotz der eisigen Kälte griff sie mit bloßen Händen hinein und durchstieß die dünne Eisschicht, zu der die Oberfläche bereits erstarrt war. Rasch wischte sie über Hildegards schmales Gesicht. Die Beine konnten erst einmal unter der Kukulle verborgen werden. Zwar glänzten die Augen ihrer Schwester fiebrig, aber ihre Stirn fühlte sich kühl an. Eine Krankheit konnte es also nicht sein.

»Ich bin so schlecht, so voller Sünde«, murmelte Hildegard weiter, als nehme sie die Berührung nicht einmal wahr. »Du weißt nicht, was ich getan habe.«

»Was sollst du schon getan haben? Du bist doch viel frommer als ich«, scherzte Adelind krampfhaft und versuchte dann, rasch noch den gröbsten Schmutz von Hildegards Beinen zu entfernen. Während sie in das vor Entsetzen verzerrte Gesicht ihrer Schwester blickte, überkam sie plötzlich eine Ahnung. Sie setzte sich an Hildegards Seite, obwohl sie dadurch vermutlich auch ihre eigene Kukulle verschmutzte. An dem dunklen Wollstoff sah man es kaum. Dann legte sie ihren Arm um die nervös zuckenden Schultern der Schwester. Selbst wenn sie nun zu spät zum Komplet kämen, musste sie die seltene Gelegenheit nutzen, unbeobachtet mit Hildegard zu reden.

»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, begann sie leise. »Aber glaube mir, mir geht es ebenso. Es begann ungefähr zwei Jahre nach der Weihe. Wir wurden nach dem Tod unserer Mutter als kleine Kinder in dieses Kloster gegeben. Unser Vater hat niemals auch nur nach uns gefragt. Wir legten das Gelübde ab, weil uns nichts anderes übrig blieb. Wie sollten wir denn einen Ehemann finden?«

Hildegard starrte sie mit großen, verwirrten Augen an. Wenigstens hörte sie zu, schien empfänglich für diese Worte. Entschlossen redete Adelind weiter.

»In den letzten Jahren, da ... da hatte ich manchmal seltsame Sehnsüchte. Ich wusste, sie waren schlecht, aber ich kam nicht gegen sie an. Da ist ein junger Kanoniker mit strahlend blauen Augen aus dem Sankt-Kunibert-Stift, der gern unauffällig in meine Richtung blickt, wenn an den hohen Feiertagen die Messe gemeinsam zelebriert wird. Nachts musste ich oft an ihn denken. Ich stellte mir vor, dass ich ihm ein Zeichen geben könnte, damit wir uns irgendwo heimlich treffen, und dann ... dann wüsste ich, wie es ist. Wenigstens ein einziges Mal.«

»Tu es nicht!«

Hildegards Schrei hallte durch den dunklen Raum. Sie packte Adelinds Handgelenke und drückte sie mit erstaunlicher Kraft zusammen.

»Aber natürlich tue ich es nicht«, wehrte Adelind den Angriff ab. »Ich bin nicht verrückt. Es wäre viel zu gefährlich. Aber manchmal, da tut man Dinge in Gedanken, und das allein mag eine Art Sünde sein.«

Tief in ihrem Inneren glaubte sie nicht daran, dass Gott sie für Gedanken allein würde strafen wollen, aber sie wusste, dass Hildegard wohl so dachte, und wollte sie daher durch dieses Geständnis trösten. Doch das Gesicht der Schwester zeigte keine Erleichterung. Die großen graublauen Augen drückten nur stummes Entsetzen aus, der eiserne Griff marterte Adelinds Handgelenke weiter.

»Du weißt nicht, wie es ist«, flüsterte Hildegard. »Widerwärtig, abscheulich. Du kannst den Schmutz nicht von deinem Körper waschen, ganz gleich, wie du dich bemühst.«

»Na, na.« Adelind schaffte es endlich, ihre Hände frei zu bekommen. »Nicht alle Frauen, die es erfahren haben, machen einen derart gepeinigten Eindruck auf mich. Aber wir sind eben Nonnen. Und jetzt lass uns ins Dormitorium gehen, wo wir hingehören.«

Sie packte Hildegard an den Schultern und versuchte, gemeinsam mit ihr aufzustehen. Die Schwester hing wie ein lebloser Sack in ihrem Griff, was sie trotz ihres mageren Körpers erstaunlich schwer machte. Kurz schlug sie mit dem Hinterkopf gegen das Gemäuer.

»Jetzt lass den Unsinn! Du verletzt dich noch. Wir müssen zurück, verstehst du nicht?«

Adelinds Sorge begann sich allmählich in Zorn zu verwandeln. Es konnte so anstrengend sein, ständig auf Hildegard aufzupassen.

»Du weißt nicht, was ich getan habe«, flüsterte die Schwester. »Ich bin so abgrundtief schlecht.«

Adelind schüttelte sie kurz.

»Wenn wir deinetwegen Ärger mit Mutter Mechtildis bekommen, dann bist du wirklich abgrundtief schlecht«, meinte sie mit einer Mischung aus Spott und Unmut. Dann lief sie los. Zu ihrer Erleichterung leistete Hildegard keinerlei Widerstand, als sie hinterhergezerrt wurde.

2. Kapitel

Nachdem der Abend ohne weitere beunruhigende Vorfälle verlaufen war, begann Adelind den nächsten Tag in der Hoffnung, dass Hildegards seltsames Benehmen nur eine einmalige Gemütsverirrung gewesen war. Sie überstanden schlaftrunken und vor Kälte schlotternd die Nokturn, schlüpften dann rasch zurück in ihre Betten, um in der Zeit bis zur Laudes noch ein wenig zu schlafen. Danach begann die übliche Abfolge von Gebeten, gemeinsamen Arbeiten und Mahlzeiten, die seit zwölf Jahren das Leben von Adelind und Hildegard bestimmte. Adelind fiel vor der Prim meist die Aufgabe zu, mit den übrigen Schwestern das Singen von Hymnen zu üben, da Mutter Mechtildis ihre Stimme schätzte. Diese Momente brachten etwas Licht und Reiz in die ansonsten träge dahinplätschernden, unabänderlich gleichen Tage, denn Adelind fühlte sich erstaunlich lebendig, wenn sie sang. Nun hatte die Äbtissin sie aufgefordert, einige lateinische Marienlieder vorzutragen, wobei sie von einer anderen Schwester auf der Harfe begleitet wurde. Adelind genoss es, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, und wusste, dass die Äbtissin ihr diese Sünde des Hochmuts vergeben würde, denn sie schätzte es, wenn ihre Nonnen besondere Talente aufwiesen.

Auf die Prim folgte wie üblich eine leichte Mahlzeit aus Brot und Bier. Für Hildegard gehörte dies zu den Lichtblicken des Tages, da sie sich in Ruhe satt essen konnte, ohne zum Verzehr von Fleisch gedrängt zu werden. Danach sollte das gemeinsame Lesen von Heiligenlegenden im Kapitelsaal folgen, doch der bisher so angenehme Tag nahm eine unerwartete Wendung, als Mutter Mechtildis verkündete, dass Vater Severinus nun bereit sei, den Nonnen die Beichte abzunehmen. Juliana sprang sogleich auf, um als Erste in den kleinen Nebenraum zu laufen. Die Äbtissin lächelte ihr zufrieden hinterher. Adelind vernahm hauchzartes Geflüster im Hintergrund und stellte erleichtert fest, dass sie mit ihrem Ärger über diese nach dem Lob ihrer Gönnerin heischende Schwester nicht allein war. Dann bemühte sie sich, eine gleichmütige Miene zu wahren. Sie hatte bereits vor Weihnachten ausführlich gebeichtet und sah keinen Grund, Vater Severinus gleich wieder aufzusuchen. Welche Möglichkeit zur Sünde gab es denn in diesem Leben, das nach strengen Regeln ablief und ihr kaum einen Moment gönnte, da sie allein mit ihren Gedanken und Wünschen war?

Juliana kam mit vor Frömmigkeit strahlender Miene zurück. Eine weitere Schwester folgte bereitwillig, die anderen hatten inzwischen die bereitliegenden Bücher ergriffen, um sich mit erbaulicher Lektüre zu beschäftigen. Adelind beschloss, gemeinsam mit Hildegard eine Heiligenlegende zu studieren, damit sie der Äbtissin nicht als Müßiggängerinnen ins Auge stachen. Sie mochte Vater Severinus nicht. Kaum hatte sie das Buch aufgeschlagen und einen ersten Blick auf die Farbenpracht der Bilder geworfen, da ertönte Mutter Mechtildis’ Stimme: »Hildegard, du hast gestern die Gaben des Herrn verschmäht, indem du dich vorzeitig vom abendlichen Mahl entfernt hast. Adelind unterstützte dich dabei, wie es leider ihre Art ist. Danach seid ihr beide zu spät zum Komplet erschienen. Wollt ihr euch nicht von der Last dieser Sünden befreien?«

»Den Teufel will ich«, schoss es Adelind durch den Kopf, doch dann erschrak sie. Nun hatte sie in der Tat etwas zu beichten, aber ein Teil ihrer selbst vermochte sich dieses Gedankens nicht zu schämen. An ihrer Seite hörte sie Hildegard leise wimmern. Adelind hob kurz die Handfläche, um sie zu beruhigen. In den Jahren im Kloster hatten sie zahlreiche Gesten erfunden, die eine Art geheimer Sprache darstellten.

»Nun gut, ich gehe zuerst«, meinte sie zu der Äbtissin und stand auf. Im Hinausgehen gelang es ihr, Hildegard einen aufmunternden Blick zuzuwerfen. Es wäre alles nicht so schlimm, würde nicht zu lange dauern. Zwar reichte es für gewöhnlich, einmal im Jahr zu beichten, und zudem sollte es auf eigenen Wunsch hin geschehen, aber Mutter Mechtildis mochte Vater Severinus, und der hörte offenbar gern die Beichten von Nonnen.

Sie betrat einen kleinen, mit zwei Kerzen erleuchteten Raum, wo der Priester auf sie wartete. An seinem Gesicht fielen zunächst die sehr breiten Kieferknochen auf, die seinem Kopf die Form von einem ungleichmäßigen Trapez verliehen, denn die Schläfen lagen nahe beieinander. Das Fleisch an seinen Wangen war schwammig. Er hatte sehr kleine, häufig gerötete Augen.

Adelind ermahnte sich, dass es nicht recht war, einen Menschen nach seinem Äußeren zu beurteilen. Sie kniete vor seinem Stuhl nieder, wie es die Regeln der Beichte erforderten.

»Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt«, begann sie mechanisch. Dann wollte ihr zunächst nichts einfallen, und sie griff daher auf die Sünden der letzten Beichte zurück: Hochmut und Ungehorsam gehörten zu ihren bevorzugten Schwächen. Sie fügte noch rasch Neid hinzu, obwohl sie sich dessen nicht schuldig fühlte. Um Völlerei zu nennen, war sie nicht rundlich genug. Gab es nicht weitere Sünden? Habsucht fiel ihr ein, doch wie sollte jemand, der nur zwei Gewänder aus grober Wolle und eine Kukulle besaß, mit diesen geizen? Sie rutschte nervös auf dem blanken Boden. Ihre Knie begannen allmählich zu schmerzen, und sie hätte dieses Schauspiel gern hinter sich gebracht, aber wenn sie nicht genügend Sünden aufzählte, wäre der Priester unzufrieden und würde versuchen, sie in ein persönliches Gespräch zu verwickeln, was ihr gar nicht behagte.

Vater Oldrich, dem Vorgänger von Severinus, hätte sie bereitwillig erzählt, was ihr wirklich auf der Seele lag. Die Träume über den Priester mit seinen leuchtend blauen Augen, die an Teiche in der Sommersonne erinnerten. Ihr stilles Hadern mit einem Schicksal, das sie dazu verdammte, die bescheidenen Reize ihres jungen Körpers mit groben Stoffen verhüllen zu müssen, um geduldig abzuwarten, bis er verfiel und das Haar ergraute. Manchmal fühlte sie sich wie ein im Käfig gefangener Vogel, der fleißig sang, während vor dem Fenster seine Artgenossen durch die Weite des Himmels segelten und ihm ein Leben zeigten, das er niemals kennenlernen würde.

Vater Oldrich war wegen seiner Trunksucht in ein kleineres, abgelegenes Kloster geschickt worden, nachdem er bei der Christmette nicht mehr aufrecht hatte stehen können und nur noch unverständlich gelallt hatte. Außerdem machte man ihn für den ständigen Mangel an Messwein verantwortlich, der fast jede Woche neu geliefert werden musste, ganz gleich, wie groß der Vorrat gewesen war. Doch Adelind hatte ihn eben wegen seiner Schwäche gemocht, der Unfähigkeit, sich tadellos in das ihm bestimmte Leben zu fügen. Sie wusste, dass er sie nach ihren Geständnissen nicht verdammt hätte, obwohl natürlich die üblichen Ermahnungen gekommen wären. Sein Nachfolger hingegen wirkte so makellos glatt, dass Adelind fürchtete auszurutschen, wenn er ihr zu nahe kam.

»Bist du dir sonst keiner Vergehen bewusst?«, erklang auch schon seine Stimme. Adelind schüttelte den Kopf. Ihr Blick war auf die Lippen des Priesters geheftet, die farblos vor Feuchtigkeit glänzten. Aus unerklärlichen Gründen fand sie diesen Anblick abstoßend.

»Ein junges Mädchen wie du, mit Reizen gesegnet, die Männer auf den Pfad der Sünde führen können. Spürst du nicht manchmal die Versuchung in dir, der schwachen Natur deines Geschlechts zu folgen?«, erklang seine Stimme weich und übertrieben süß. »Hast du niemals einen der Brüder länger als notwendig angesehen, um ihn auf dich aufmerksam zu machen? Willst du nicht spüren, welche Macht dein sündiger Leib dir über ihn verleiht?«

Adelind fühlte sich ertappt, doch gleichzeitig war sie verwirrt. Sie hätte den blauäugigen Kanoniker nicht einmal bemerkt, wenn er nicht ständig in ihre Richtung gestarrt hätte. Warum sollte sie nun die Schuldige sein?

Sie stemmte ihre Handflächen in den Boden.

»Ich bin eine Braut Christi. Die Reize meines Körpers kenne ich nicht.«

Vater Severinus runzelte die Stirn.

»Nun, Adelind, sei ehrlich zu mir. Ein junges Mädchen ist sich seines Körpers bewusst, und die Macht zur Verführung hat Satan jeder Frau geschenkt. Du bist nicht so schön wie deine Schwester. Grämt es dich? Wünschst du dir manchmal, über Hildegards Reize zu verfügen, um Männer rascher umgarnen zu können?«

Er lächelte in einer Art, die Ekel in ihr weckte. Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte, dass ein Priester kein Recht hatte, auf diese Weise mit ihr zu reden. Etwas an diesem Mann stank wie faules Fleisch.

Sie streckte den Rücken, obwohl der Schmerz in ihren Knien dadurch zunahm, da all ihr Körpergewicht auf ihnen lag. Plötzlich schien ihr Vater Severinus ein Gegner, den sie bekämpfen musste.

»Ich liebe meine Schwester. Ich empfinde keinerlei Neid. Wenn ich die Kanoniker des Stiftes von Sankt Kunibert treffe, so sind sie nichts weiter als Brüder für mich. Während der gemeinsamen Messe denke ich an unseren himmlischen Vater und seinen Sohn, unseren Erlöser. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Sie merkte, wie die Augen von Vater Severinus schnell hinter zugeschlagenen Lidern verschwanden, als sei der Priester auf einmal verunsichert.

»Du neigst in der Tat zu Hochmut, Adelind«, meinte er leise. »Du sollst drei Paternoster und fünf Ave Maria beten. Und in dich gehen. Du bist nur ein schwaches Weib. Vertraue nicht zu sehr auf dein eigenes Urteil.«

Schnell erteilte er ihr die Absolution, dann verließ sie erleichtert das kleine Zimmer und gesellte sich zu den übrigen Nonnen. Hildegard begrüßte sie mit einem verängstigten Blick. »Alles nicht so schlimm, nur meine Knie tun höllisch weh«, teilte Adelind ihr durch stumme Lippenbewegungen mit. Das blasse Gesicht der Schwester bekam ein wenig Farbe.

»Nun solltest auch du beichten, Hildegard«, meinte Mutter Mechtildis. Die Schwester erstarrte und begann, an ihrer Unterlippe zu nagen. Ihre Füße rutschten ruhelos hin und her, doch ansonsten rührte sie sich nicht.

»Na los, geh schon, sonst wird sie wütend«, deutete Adelind unauffällig. Doch Hildegard blieb stur sitzen. Adelind stupste sie an.

»Du musst. Es geht nicht anders. Mach schon!«

Ganz langsam stand Hildegard auf. Der Blick ihrer großen graublauen Augen war wie ein Hilferuf, als sie in dem Beichtzimmer verschwand.

Beim Mittagsmahl erbrach Hildegard sich erneut. Sie schaffte es diesmal nicht, rechtzeitig zu den Latrinen zu laufen, sondern besudelte den Tisch mit einem gelblichen, übel riechenden Brei. Adelind nahm Mutter Mechtildis’ angewidertes Gesicht zur Kenntnis und schoss in die Höhe.

»Meine Schwester ist krank«, unterbrach sie die Schweigepflicht. »Schwester Brigitta, die Infirmaria, sollte sich um sie kümmern.«

Unter dem Tisch drückte sie Hildegards Hand. Wahrscheinlich war der Hasenbraten von gestern Abend ihr nicht bekommen. Zum Mittagsmahl hatte es nur eine Gemüsebrühe gegeben, die sie allgemein gut vertrug.

Obwohl die Äbtissin verärgert aussah, führte Brigitta Hildegard hinaus. Adelind atmete erleichtert auf. Wenn ihre Schwester die Gelegenheit bekam, sich eine Weile auszuruhen, und kein Fleisch mehr essen musste, würde sie bald schon wieder genesen. So war es bisher immer gewesen. Sie genoss die Mittagsruhe, da sie für eine Weile in die friedliche Wärme ihres Bettes kriechen konnte. Dann verbrachte sie den Rest des Tages mit den üblichen Gebeten, sang noch ein paar Hymnen, womit es ihr stets gelang, wieder das Wohlwollen der Äbtissin zu gewinnen. Kurz vor der Vesper tauchte Schwester Brigitta erneut im Kapitelsaal auf und setzte sich unauffällig neben Adelind, die ein Altartuch mit Stickereien verzierte. Sie legte eine Hand auf das feine Leinen und brachte durch ihr Lächeln Bewunderung zum Ausdruck. Adelind wandte ihr so unauffällig wie möglich den Blick zu. Wie alle Nonnen, die schon lange im Kloster lebten, konnte auch Brigitta Worte durch stumme Lippenbewegungen mitteilen.

»Ich muss mit dir reden. Wegen Hildegard.«

Adelind verspürte Angst, in die sich auch ein wenig Ärger mischte. Ihr Leben wäre weitaus einfacher ohne die ständigen Sorgen um ihre zerbrechliche, schwierige Schwester. Sie hob die Hand zu dem Zeichen, das einen Besuch der Latrine ankündigte, und entfernte sich aus dem Saal. Mit unruhig klopfendem Herzen durchquerte sie einen Gang, der zur Treppe in die Kellerräume führte. Kurz vor den Latrinen drängte sie sich in eine Ecke. Wenn eine der Konversschwestern sie hier herumstehen sah, konnte sie es der Äbtissin melden, und Adelind würde des Müßiggangs bezichtigt werden. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie schlurfende Schritte wahrnahm. Brigitta hatte beide Hände in der Kukulle verborgen und lief leicht gekrümmt. Es war kalt hier.

»Wir haben nicht viel Zeit«, flüsterte sie Adelind zu. »Mutter Mechtildis ist bereits aufgefallen, dass du sehr lange weg bist. Ich sollte nach dir sehen.«

Adelind nickte.

»Was ist mit Hildegard? Ist sie schwer krank?«

Als Brigitta den Kopf schüttelte, seufzte sie vor Erleichterung.

»Krank würde ich es nicht nennen«, meinte die Infirmaria ausweichend. »Es geht ihr jetzt recht gut. Sie hat fast einen ganzen Topf Brühe gegessen. Aber sie redet so seltsame Dinge, wie schmutzig und schuldig sie ist. Sie hat sich sogar das Gesicht blutig gekratzt.«

Adelind stieß einen ungeduldigen Seufzer aus.

»Leider neigt Hildegard zu solchem Verhalten. Sie hat ein sehr reizbares Naturell. Kannst du ihr nicht irgendwelche Kräuter geben, die sie beruhigen? Du weißt, Mutter Mechtildis mag sie nicht und findet, dass sie sich stets wichtigmachen will. Aber das stimmt nicht, sie kann nicht anders.«

»In diesem Fall«, murmelte Brigitta sehr leise, »kann sie wohl wirklich nicht anders.«

Die Ahnung von etwas Unangenehmem kroch eiskalt durch Adelinds Körper.

»Was meinst du damit?«

Brigitta lehnte sich gegen das Gemäuer. Sie gehörte zu den älteren Schwestern und war erst als Witwe ins Kloster gekommen. Adelind musterte ungeduldig das eingefallene, faltige Gesicht, die braunen, von herabhängenden Lidern zur Hälfte verhüllten Augen.

»Mir sind einige Veränderungen an Hildegards Körper aufgefallen«, begann sie nun sehr, sehr vorsichtig. »Du weißt, ich war einst vermählt und habe Kinder geboren.«

»Was wurde aus diesen Kindern?«, unterbrach Adelind sogleich. Eine unerklärliche Sehnsucht erwachte in den verbotenen Tiefen ihres Körpers. Es gab so viele Erfahrungen im menschlichen Leben, die ihr als Nonne für immer unbekannt bleiben mussten.

»Sie starben«, erwiderte Brigitta. »Es war Gottes Wille. Aber sage mir Adelind, bitte ohne jetzt laut zu werden, ist es möglich, dass deine Schwester schwanger ist?«

Adelinds Kopf schlug kurz gegen das Gemäuer, denn diese Frage war so ungeheuerlich wie eine heftige Ohrfeige. Dann presste sie eine Hand vor den Mund, um ein wildes Kichern zu unterdrücken.

»Hildegard?«, rief sie nach Luft schnappend. »Das ist doch ein Scherz! Ich meine, sie weiß gar nicht, dass sie einen Körper hat, und wenn es ihr einmal einfällt, dann findet sie ihn abstoßend schmutzig. Wie sollte sie ... ich meine, ich war doch ständig an ihrer Seite.«

»Nein, Adelind, ein Scherz ist es leider nicht«, entgegnete die Infirmaria erschöpft. »Und wie es geschehen ist, vermag ich mir auch nicht zu erklären, aber ich bin mir fast sicher.«

Adelind musste sich nun an der Mauer abstützen, denn die Welt drehte sich im Kreis.

»Bitte, du musst mit ihr reden«, fuhr Brigitta fort. »Ich werde Mutter Mechtildis sagen, dass du Hildegard nach der Vesper dringend besuchen solltest. Sie vertraut meinen Fähigkeiten und wird es erlauben. Versuche, aus ihr herauszubekommen, was wirklich geschehen ist. Ich bete zu Gott, dass er Erbarmen mit deiner Schwester haben möge.«

Dann wandte die Infirmaria sich um und huschte davon. Adelind folgte, denn ihre täglich gleichen Aufgaben waren mit den Jahren zu einem Mechanismus geworden, der ihren Körper dirigierte wie Fäden eine Marionette. Sie sprach die Gebete der Vesper, obwohl sie ihre Umwelt kaum noch wahrzunehmen vermochte, denn im Geiste saß sie bereits bei Hildegard. Es konnte nicht sein, die Infirmaria musste sich irren, doch leider passte es ganz und gar nicht zu der vernünftigen Schwester Brigitta, in phantastischen, aufregenden Spekulationen zu schwelgen. Trotzdem, es gab gewiss eine andere Erklärung für Hildegards Zustand, versuchte Adelind sich zu beruhigen. Bereits auf dem Weg zum Refektorium wurde sie von Mutter Mechtildis aufgefordert, sich mit Brigitta in die Krankenstube zu begeben, da ihre Schwester wieder einmal besondere Behandlung brauchte. Erleichtert lief Adelind los, obwohl dies einen Verzicht aufs abendliche Mahl bedeutete. Sie hätte ohnehin keinen Bissen heruntergebracht.

»Was ich mir überlegt habe«, teilte sie der Infirmaria unterwegs durch Lippenbewegungen mit, »es gibt doch Geschichten über Schwestern, die alle Anzeichen einer Schwangerschaft aufwiesen, doch in Wahrheit hatten sie völlig keusch gelebt, und Kinder brachten sie schließlich auch keine zur Welt.«

Brigitta neigte kurz den Kopf, als sie gemeinsam den Hof überquerten.

»Ich weiß«, sprach sie, denn im Freien wagte sie ihre Stimme zu heben. »Meines Erachtens handelte es sich dabei um arme Frauen, die sich nach Mutterschaft sehnten, obwohl Gott der Herr ihnen ein anderes Los bestimmt hatte. Quält deine Schwester eine solche Sehnsucht?«

Adelind konnte die Augen nicht vor dem Umstand verschließen, dass Hildegard sich ihres eigenen Körpers viel zu wenig bewusst war, um Verlangen nach einer Leibesfrucht zu verspüren. Ihre Stimmung verdüsterte sich, als sie mit der Infirmaria das kleine Gebäude gleich neben den Wohnräumen für Gäste betrat, wo die Kranken untergebracht waren. Brigitta blieb vor einer hölzernen Tür stehen.

»Hör zu, Adelind«, flüsterte sie rasch. »Ich kann deiner Schwester Kräuter geben, die ihre Schwangerschaft beenden. Wichtig ist nur, dass sie sich möglichst unauffällig benimmt. Versuche sie zu beruhigen.«

»Aber wäre es denn nicht eine schwere Sünde, ein ungeborenes Kind zu töten?«, fragte Adelind, deren Verstand immer noch gegen die Möglichkeit aufbegehrte, dass ihre Schwester tatsächlich schwanger sein könnte. Brigittas Hand blieb auf dem Türgriff liegen.

»Es heißt, in den ersten achtzig Tagen ist es nur eine leichte Sünde, weil das Kind noch keine Seele hat«, erklärte sie. »Und ich glaube nicht, dass Gott der Herr eine Frau in einer so verzweifelten Lage wirklich dafür verdammen könnte.«

Dann schob sie Adelind in das Zimmer und schloss die Tür hinter ihr.

Zwei kleine Talglichter flackerten neben Hildegards Bettstatt, warfen tanzende Schatten auf ihr blasses, eingefallenes Gesicht. Adelind erschrak, als sie tatsächlich rote Striemen an den Wangen entdeckte. Was trieb ihre Schwester immer wieder zu solch unsinnigem Verhalten?

»Ach, du bist es«, stellte Hildegard fest, richtete sich auf und zog die Decke um ihre Schultern. Sie sah tatsächlich nicht mehr krank aus, doch beruhigte das Adelind kaum. Sie trat langsam heran und setzte sich auf die Strohmatte. Sie wusste nicht, wie sie dieses Gespräch beginnen sollte, denn die Ungeheuerlichkeit war unaussprechlich.

»Sie hat es dir gesagt, nicht wahr?«, flüsterte Hildegard. Ihre großen Augen waren völlig klar. »Sie hat gleich gemerkt, wie schlecht ich bin. Wie sehr ich gesündigt habe.«

Ein Zucken fuhr durch ihren Körper. Ihre Finger formten sich zu Krallen, um die malträtierten Wangen erneut aufzukratzen.

»Lass das!«, zischte Adelind und packte Hildegards Handgelenke. Hildegards Arme fielen auf die Matte. Sie atmete ruhig und schwieg. Adelind scharrte mit dem Fuß auf dem Boden. Es war kalt hier, denn es gab keinen Kamin in diesem winzigen Zimmer. Brigitta hatte Hildegard aus gutem Grund nicht dort unterbringen können, wo die anderen Kranken lagen. Sie sah sich ratlos um und entdeckte zu ihrer Erleichterung eine weitere Decke auf einem kleinen Tisch neben dem Bett. Bald schon lag der dicke Wollstoff auf ihren Schultern, wärmte gemeinsam mit dem Kittel und der Kukulle. Adelind wurde ein klein wenig wohler.

»Wie ist es geschehen?«, fragte sie, ohne ihre Schwester anzusehen. Hildegard holte Luft, dann stieß sie ein Wimmern aus.

»Ich kann es nicht sagen«, flüsterte sie.

»Warum nicht? Du musst nur den Mund aufmachen! Hier hört keiner zu«, erwiderte Adelind. Sie unterdrückte den Wunsch, schreiend durch das Zimmer zu laufen. All das konnte einfach nicht wahr sein.

»Du bist wütend, nicht wahr?«, sagte Hildegard mit einem feinen Lächeln. »Immer mache ich Schwierigkeiten. Es tut mir so schrecklich leid.«

»Aber dadurch wird nichts besser, nur weil es dir leidtut!«

Adelind wurde bewusst, dass sie tatsächlich geschrien hatte. Das war unklug, denn man konnte sie vielleicht im angrenzenden Raum hören, wo die anderen Kranken lagen. Sie holte tief Luft.

»Nun, sag mir bitte einfach, wer es war. Und wann es geschah, denn ich weiß wirklich nicht, wo du diese Gelegenheit zur ... zur Sünde gefunden hast.«

Sie stand auf und blickte mit vor der Brust verschränkten Armen abwartend auf Hildegard hinab. Wie unschuldig ihre graublauen Augen waren! Die Schwester nagte an ihrer Unterlippe, die bereits blutig gebissen war.

»Es geschah während der Beichte«, sagte sie nach langem Schweigen. Dann zuckte ihr Körper erneut, als litte sie an Krämpfen. Adelind konnte nur fassungslos zusehen, während die Worte langsam in ihr Bewusstsein drangen.

»Du meinst ... es war ...«, stammelte sie. Sie wagte den Namen nicht auszusprechen, so völlig abwegig schien ihr die Vorstellung, dieser Mann und ihre liebreizende Schwester hätten gemeinsam das Keuschheitsgebot gebrochen. Es war, als würde ein Schwan mit einer hässlichen Kröte ... Als Hildegard sie weiter stumm anstarrte, wurde ihr klar, dass es eben so gewesen sein musste.

»Er kann dir doch nicht gefallen haben! Mein Gott, Hildegard, warst du denn so verzweifelt, dass du selbst diesen ... diesen«, hörte sie sich wieder schreien.

»Nein, er gefiel mir nicht«, unterbrach Hildegard nun erstaunlich ruhig, als wolle sie ihr ein Beispiel der Selbstbeherrschung setzen. »Ich habe niemals auf diese Weise über einen Mann nachgedacht, ob er mir gefällt. Doch als er mit mir redete, da sagte er, dass ich sündhaft sei, weil Gott der Herr mir teuflische Schönheit geschenkt hätte. Er wollte meine geheimen Gedanken und Wünsche wissen.«

Adelind musste ungewollt lachen.

»Bei dir also auch! Ich glaube, dem heiligen Mann gefällt es, solche Geständnisse zu hören. Warum hast du es mir niemals erzählt?«

»Weil ... weil ... er sagte doch, ich sei schlecht. Und da dachte ich, er müsse recht haben, weil er ein Mann Gottes ist.«

Adelind seufzte leise.

»Gut, du hast ihm also geglaubt.« Leider glaubte Hildegard vielen Menschen. »Aber wie konnte er dich dann dazu bringen ... ich meine ... ich verstehe nicht ...«

»Es geschah einfach.« Hildegard hatte ihr Gesicht hinter den Handflächen verborgen. »Er fasste mich an und wollte wissen, ob es mir gefiel. Es gefiel mir nicht, aber er kümmerte sich nicht darum. Er sagte, es sei besser, ich würde es mit ihm tun, anstatt einen jungen, ahnungslosen Mann mit meinen teuflischen Reizen zu umgarnen. Es sei Gottes Wille, meinte er, dass er mir gab, wonach es mich verlangte. Als ich beteuerte, kein solches Verlangen zu haben, bezichtigte er mich der Lüge.«

Sie wälzte sich auf dem Bett herum und vergrub ihr Gesicht in dem Laken. Adelind schien ihr eigener Herzschlag so laut wie ein Trommelwirbel.

»Warum hast du es geschehen lassen?«, sagte sie und schaffte es diesmal, ihre Stimme zu bändigen, obwohl sie vor Wut um sich hätte schlagen können. »Wir alle saßen doch gleich hinter der Tür. Du hättest nur um Hilfe rufen müssen!«

Hildegard wandte ihr den Kopf zu. Aus unerfindlichen Gründen lächelte sie.

»Ich wusste nicht, dass du so dumm sein kannst, Adelind«, sagte sie leise. »Meinst du denn, Mutter Mechtildis hätte mir geglaubt? Er hätte alle Schuld auf mich geschoben, mich der Verführung bezichtigt, und ich wäre bestraft worden, weil sie ihn für einen heiligen Mann hält und mich nicht leiden kann.«

Die Worte waren wie ein Tritt in Adelinds Magen. Kurz raubten sie ihr die Luft zum Atmen, denn sie wusste, dass ihre Schwester die Wahrheit sprach. Mit zu Fäusten geballten Händen setzte sie sich wieder zu Hildegard auf das Bett.

»Jetzt müssen wir aber reden«, zischte sie. »Er kann doch nicht so einfach davonkommen, nach alldem, was er dir angetan hat.«

Sie legte ihre Hand auf Hildegards Finger und war froh, deren Druck zu spüren.

»Ich werde dir helfen«, versprach sie. »Mutter Mechtildis wird mich ernst nehmen, überlass es mir. Vater Severinus muss aus dem Kloster verschwinden, bevor er noch andere Mädchen ...«

»Erinnerst du dich an Schwester Fronicka?«, unterbrach Hildegard sie erneut. Adelind dachte angestrengt nach. Eine blasse, verhuschte Novizin, die irgendwann aus dem Kloster verschwunden war, stieg in ihrer Erinnerung auf.

»Sie war immer sehr lange bei der Beichte«, erzählte Hildegard. »Ich weiß jetzt, warum. Ich glaube, sie hat darüber gesprochen. Jetzt ist sie fort.«

Adelind bohrte die Fersen in den Boden.

»Das kann tausend andere Gründe haben.«

»Ich glaube, es war dieser Grund.«

Hildegard richtete sich erneut auf. Ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen, Röte schimmerte unter den blutigen Kratzern auf ihren Wangen.

»Schwester Brigitta sagt, sie kann mir Kräuter geben, damit das Kind stirbt«, meinte sie völlig ruhig. »Glaubst du, ich habe keine andere Wahl? Ich werde mich schuldig fühlen bis an mein Lebensende. Bitte, Adelind, sag mir, was ich tun soll.«

Der Druck ihrer Finger wurde stärker. Adelind zog ihre Hand spontan zurück, auch wenn sie es sogleich bereute. Es gab jetzt andere Dinge zu besprechen.

»Wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass Vater Severinus seine verdiente Strafe erhält«, beharrte sie. »Dann sehen wir weiter. Vielleicht kannst du das Kind heimlich zur Welt bringen und dann zur Pflege geben.«

Hildegards Augen hingen an Adelinds Gesicht, vertrauensselig, aber auch dunkel vor Trauer.

»Kannst du dich an die alte Geschichte von der Nonne und dem Ritter erinnern?«, bohrte sie weiter nach. »Du weißt doch noch, unsere Amme hat sie uns erzählt, als wir noch bei unserem Vater lebten.«

Ratlos, warum Hildegard ihr nun mit solchen Nichtigkeiten kam, begann Adelind zu grübeln. Sie konnte sich nur noch unklar an die heimatliche Burg erinnern, hatte ihren Vater als lauten, furchteinflößenden, gesichtslosen Riesen im Gedächtnis, doch die faltigen Züge ihrer Amme begannen sich nach einer Weile deutlich abzuzeichnen. Die alte Frau hatte gern Geschichten erzählt. Welche davon konnte Hildegard jetzt meinen?

Als sie ihr wieder einfiel, zuckte sie entsetzt zusammen.

»Warum quälst du dich mit diesen Schauermärchen?«, fragte sie Hildegard, die nur stumm zur Decke starrte. Adelind setzte die Teile dieser Erzählung in ihrem Kopf allmählich zusammen. Sie war selbst manchmal Tagträumen nachgehangen, in denen ein strahlender Ritter sie aus den Klostermauern in ein Leben voller Licht und Liebe lockte.

»Die Nonne wollte das Kloster verlassen, weil sie schwanger war«, erzählte Hildegard das Ende der Sage. »Doch man erlaubte es ihr nicht. Der Ritter starb bei dem Versuch, sie gewaltsam zu befreien. Sie durfte ihr Kind noch gebären, dann wurde das Urteil vollzogen.«

Adelind wehrte das Grauen mit einem energischen Kopfschütteln ab.

»Das ist eine uralte Geschichte, und wer weiß, ob auch nur ein Funken von Wahrheit in ihr steckt! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mutter Mechtildis jemanden bei lebendigem Leibe einmauern lässt«, versuchte sie Hildegard zu beruhigen, die nochmals ihr Handgelenk packte.

»Trotzdem, ich habe so schreckliche Angst«, flüsterte sie. »Vielleicht sollte ich doch diese Kräuter nehmen und so tun, als wäre nichts geschehen.«

Adelind fuhr in die Höhe. Eine unbändige Wut erfasste sie, drängte sie, lauter als jemals zuvor zu schreien und gegen die Wände des Zimmers zu treten.

»Wenn du schweigst, wird sich nichts ändern«, sagte sie nach ein paar beruhigenden Atemzügen. »Er wird dich nicht in Ruhe lassen.«

Hildegard schloss für einen kurzen Moment die Augen.

»Mit der Zeit verliert er das Interesse an mir.«

»Und bis dahin willst du stillhalten und warten?«

Adelind packte die Schwester an den Schultern und erschrak, wie knochig sie waren. Hildegard aß seit Monaten viel zu wenig, und die Wirkung der Kräuter würde ihrem geschwächten Körper noch weiter zusetzen.

»Lass mich es regeln«, erklärte sie nach kurzem Überlegen. »Ich rede morgen mit Mutter Mechtildis. Ruhe dich jetzt einfach nur aus. Schwester Brigitta wird dir einen Trank zur Beruhigung geben.«

Sie strich sanft über Hildegards Gesicht, spürte den fast kindlich hoffnungsvollen Blick der graublauen Augen auf sich ruhen. Obwohl sie nur wenige Minuten älter war, hatte sie stets die Rolle der Vernünftigen, Erfahrenen übernommen. Jetzt klammerte Hildegard sich regelrecht an sie.

Sie straffte die Schultern, als sie hinausging, um sich das Gefühl zu geben, dass sie der Aufgabe gewachsen sein würde.

3. Kapitel

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