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Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Micha Brumlik, 2000-2013 Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main und bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocausts. Seit 2013 Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg. Veröffentlichungen u.a.: »Aus Katastrophen lernen?«, 2004, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts (2006) »Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot«, 2006 und »Kritik des Zionismus« , 2007 /als eva taschenbuch). »Entstehung des Christentums«, 2010, sowie »Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition« , 2013, »Wann, wenn nicht jetzt – Versuch über die Gegenwart des Judentums« 2015.

 

Rabbiner Walter Homolka (PhD King’s College London; PhD University of Wales Trinity St. David, DHL Hebrew Union College New York), 1964, ist ordentlicher Universitätsprofessor für Jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit - Schwerpunkt Denominationen und interreligiöser Dialog, Rektor des Abraham Geiger Kollegs und Geschäftsführender Direktor der School of Jewish Theology der Universität Potsdam.

 

Margot Käßmann, Prof. Dr. theol., Dr. h. c., geb. 1958, ist evangelisch-lutherische Theologin und Pfarrerin. Sie war von 1999 bis 2010 Bischöfin der größten evangelischen Landeskirche in Hannover und 2009/2010 Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Davor war sie Gemeindepfarrerin, Studienleiterin der Evangelischen Akademie Hofgeismar und Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Seit April 2012 wirkt sie als „Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017“. Margot Käßmann ist Mutter von vier erwachsenen Töchtern. Letzte Veröffentlichungen: Die Welt verändern. Was uns der Glaube heute zu sagen hat (Hg., mit Heinrich Bedford-Strohm), Berlin 2016; Mehr als Ja und Amen. Glaube gehört mitten ins Leben, 2017.

 

Christoph Kasten studierte Jüdische Studien, Religionswissenschaften und Neuere und Neuste Geschichte in Berlin, Potsdam, Jerusalem und Berkeley. Seit 2015 arbeitet er an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a.M. und am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg an einer Dissertation über die Transformation des politisch-theologischen Denkens jüdischer Intellektueller – u.a. Hermann Cohen und Franz Rosenzweig im Kontext der Krise des Ersten Weltkrieges. Veröffentlichungen: Zionism as anti-liberal Liberalism, 2012. The Case of Muscle Judaism within the Context of Anti-Semitism in the Bourgeois German Society, In: Constelaciones. Revista de Teoría Crítica, 4 S. 265-281, 2012/2013. “Ermannt Euch!” – Körperbilder männlicher Juden im rassistischen Antisemitismus und im Zionismus, in: Haustein; Hegener (Hrsg.): Geschlecht und Religion – historisch-ethnografische Erkundungen im urbanen Kontext, Berlin 2010, S. 84-111.

 

Prof. Dr. Elisa Klapheck ist Rabbinerin der liberalen Synagogengemeinschaft „Egalitärer Minjan“ in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt a. M. und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn. Seit den 1990-Jahren engagiert sie sich für eine Erneuerung der jüdisch-religiösen Tradition. So gehörte sie zu den Mitbegründern der liberalen Synagoge Oranienburger Straße in Berlin und der jüdisch-feministischen Initiative Bet Debora – Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen und jüdischer Aktivistinnen, die in Berlin und anderen europäischen Städten Konferenzen veranstaltet. Veröffentlichungen u.a.: Fräulein Rabbiner Jonas – Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?, 1999 und Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie, 2014 . Klapheck tritt für einen neuen Dialog zwischen Religion und Politik ein. In diesem Zusammenhang gibt sie die Schriftenreihe Machloket / Streitschriften heraus. Bisher erschienen die Bände Säkulares Judentum aus religiöser Quelle (Bd. 1) und Bürgerschaftliches politisches Engagement als jüdische Praxis (Bd. 2). In Vorbereitung der Aufsatz Die rabbinische Literatur in dem von Christina von Braun und Micha Brumlik herausgegebenen Handbuch Jüdische Studien.

 

Irmela von der Lühe, Professorin (a.D.) für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und (seit Oktober 2013) Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Forschungsschwerpunkte im Bereich der deutsch-jüdischen Literatur-und Kulturgeschichte, der Literatur des Exils und der Shoah, der Literaturgeschichte weiblicher Autorschaft sowie der Thomas Mann-Familie.

Jüngste Veröffentlichungen: (mit Dorothee Gelhard): Wer zeugt für den Zeugen? Positionen jüdischen Erinnerns im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern u.a. 2012; (mit Hans-Richard Brittnacher): Kriegstaumel und Pazifismus. Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2016; Ich schäme mich meines Verfahrens. Lessings Lustspiel Die Juden und die Diskussion um Vernunftreligion und religiöse Toleranz. In: Aspekte des Religiösen (2. Jahrbuch Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, hrsg. v. R. Kampling u.a.) Berlin 2015,S. 9–28; Gott will ich verbrennen. Gescheiterte Blasphemie in Joseph Roths Hiob. In: R. Brittnacher/Th. Koebner (Hg.): „Gotteslästerung“ und Glaubenskritik in der Literatur und den Künsten. Marburg 2016, S. 86–96.

 

Dr. phil. Gesine Palmer, seit 2007 als freie Autorin, Publizistin, Rednerin und Beraterin selbständig mit dem Büro für besondere Texte. 1996 Promotion zur Dr. phil. in historischer Theologie mit Ein Freispruch für Paulus. John Tolands Theorie des Judenchristentums. 1995–2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin am Institut Evangelische Theologie mit dem Fachgebiet Religionsgeschichte. 2003-2006 Projektleitung Religion und Normativität an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg. Neueste Veröffentlichungen: Konversionen und andere Gesinnungsstörungen. Zur bleibenden Relevanz des jüdischen Denkens nach Hermann Cohen und Franz Rosenzweig, Bd. I bis Bd. VI, Berlin (epubli) 2016; „Islam“ in: Dictionnaire Franz Rosenzweig. Sous la direction de Salomon Malka, Paris 2016, 184-190; „Drei milde Argumente für eine Verschärfung des Sexualstrafrechts“, Norderstedt 2016 (E-Short); „’Dying for Love’ – Making Sense of an (Unwitting?) Inversion in Franz Rosenzweig’s Star of Redemption’, in: Bamidbar, Issue 4.2, Gender and Jewish Philosophy (to appear in 2017); „Antinomianism Reloaded –Or: The Dialectics of the New Paulinism“, in: Emmanuel Nathan/ Anya Topolski (Ed.): Is There a Judeo-Christian Tradition? Berlin 2016.

Weitere Informationen, Publikationen in Vorbereitung sowie eine größere Publikationsliste: www.gesine-palmer.de

 

Franz Rosenzweig (1886–1929) war ein jüdischer Religionsphilosoph und Pädagoge. Durch sein entschiedenes Bekenntnis zum Judesein, durch seine Glaubensphilosophie und seine Werke, durch seine Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main ist Franz Rosenzweig in mehrfacher Hinsicht zum Vorbild und Lehrer des Judentums in der Diaspora geworden. Während des Ersten Weltkriegs, zu dem er sich freiwillig meldete, führte er von der Balkanfront mit Eugen Rosenstock einen streitbaren jüdisch-christlichen Dialog. Sein großes glaubensphilosophisches Werk Der Stern der Erlösung erschien 1921. In der Zeit seiner schweren Lähmungserkrankung konnte er noch seine Übersetzungen der Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi vollenden und seit 1924 gemeinsam mit seinem engsten Freund Martin Buber (1878 – 1965) die »Verdeutschung der Schrift« (Die fünf Bücher der Weisung, 1925). Buber setzte nach Rosenzweigs Tod die Übersetzungsarbeit fort, bis 1961 die letzten Teile der hebräischen Bibel ins Deutsche übersetzt erscheinen konnten.

Kurz vor seinem 43. Geburtstag ist Rosenzweig 1929 in Frankfurt am Main gestorben.

 

Klaus Wengst, geboren 1942 in Remsfeld (Bezirk Kassel); 1961–1967 Studium der evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen, Heidelberg und Bonn; 1967 Promotion in Bonn; 1970 Habilitation in Bonn; 1981 Professor für Neues Testament in Bochum; infolge der Studentenbewegung und daraus resultierender politischer Betätigung sozialgeschichtlich orientierte Exegese; seit Ende der 80er Jahre Begegnung mit dem Judentum; 1991 Studienaufenthalt an der Hebräischen Universität in Jerusalem; seit 2007 pensioniert.

Letzte Buchveröffentlichungen: Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem historischen Jesus, Stuttgart 2013; Christsein mit Tora und Evangelium. Beiträge zum Umbau christlicher Theologie im Angesicht Israels, Stuttgart 2014; Mirjams Sohn – Gottes Gesalbter. Mit den vier Evangelisten Jesus entdecken. Gütersloh 2016.

 

Christian Wiese ist seit 2010 Inhaber der Martin Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie und geschäftsführender Direktor des Instituts für Religionsphilosophische Forschung an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Zuvor war er Direktor des Centre for German-Jewish Studies an der University of Sussex. Seine Forschungsgebiete liegen im Bereich der modernen jüdischen Geistes- und Kulturgeschichte, der jüdischen Religionsphilosophie und der Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen. Zu seinen Publikationen zählen die beiden Monographien Challenging Colonial Discourse: Jewish Studies and Protestant Theology in Wilhelmine Germany (2005) und The Life and Thought of Hans Jonas: Jewish Dimensions (2007). Er ist zudem Herausgeber oder Mitherausgeber zahlreicher Sammelbände, darunter Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums (2013), Re-Defining Judaism in an Age of Emancipation: Comparative Perspectives on Samuel Holdheim (1806–60) (2007) oder Modern Judaism and Historical Consciousness: Identities – Encounters – Perspectives (2007).

Wie viele seiner Freunde und Verwandten spielte Franz Rosenzweig – 1886 in Kassel als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren – lange mit dem Gedanken, zum protestantischen Christentum überzutreten, um sich dann 1913 doch dafür zu entscheiden, Jude zu bleiben. Mit seinem 1926, drei Jahre vor seinem Tod, verfassten Aufsatz „Die Schrift und Luther“ steht er beispielhaft für eine Kultur, die das deutsche Judentum dem Protestantismus zu schulden meinte.

Es war kein geringerer als Gershom Scholem, der mit Blick auf diese Beziehung die von Martin Buber und Franz Rosenzweig vorgelegte Bibelübersetzung ein „Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“ nannte.

 

Der vorliegende Band mit Aufsätzen namhafter Autorinnen und Autoren beleuchtet diese „Beziehung“ aus unterschiedlichen, einander jeweils ergänzenden Perspektiven.

 

Herausgeber des Buches ist Micha Brumlik, dem 2016 die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen wurde und der zurzeit die Rosenzweig-Professur in Kassel innehat.

LUTHER, ROSENZWEIG UND DIE SCHRIFT

Ein DEUTSCH-JÜDISCHER DIALOG

 

 

Essays

Herausgegeben von Micha Brumlik

Mit einem Geleitwort von Margot Käßmann

CEP Europäische Verlagsanstalt

© ebook-Ausgabe dieses Bandes 2017 CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg Erstausgabe des Essays von Franz Rosenzweig »Die Schrift und Luther«: Lambert Schneider/ Berlin, 1926
Cover: Susanne Schmidt, Leipzig
Satz und ePub-Erstellung: Datagrafix GmbH, Berlin
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa«, 1945
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

ISBN 978-3-86393-544-3

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Geleitwort
von Margot Käßmann

Vorwort
von Micha Brumlik

Franz Rosenzweig
Die Schrift und Luther

Walter Homolka
Martin Luther als Symbol geistiger Freiheit?
Der Reformator und seine Rezeption im Judentum

Micha Brumlik
Dialog zwischen Übersetzern:
Franz Rosenzweigs Aufsatz „Die Schrift und Luther“

Irmela von der Lühe
Franz Rosenzweig: „Die Schrift und Luther“.
Grenzgänge zwischen Philologie und Religion

Klaus Wengst
„Ehrfurcht vor dem Wort“, das nicht Besitz wird.
Warum „die Schrift“ anders gelesen werden sollte,
als Luther sie gelesen hat

Elisa Klapheck
Luther als Targum. Rosenzweig,
Luther und die rabbinische Übersetzungskunst

Gesine Palmer
„Wenn erst einmal die Regel gesichert ist…“ –
Rosenzweigs Luther-Rezeption jenseits von
„Buchvergötzung“ und „Wortverwaltung“

Christoph Kasten
Mit Luther gegen Luther. Franz Rosenzweig,
Siegfried Kracauer und die Bibel auf Deutsch

Christian Wiese
Franz Rosenzweigs und Martin Bubers Kritik des
protestantischen Neo-Marcionismus im Kontext
der Zeit

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Margot Käßmann

Geleitwort

„Meister der Verdeutschung der Bibel“, so wird Franz Rosenzweig auf einer Gedenktafel an seinem ehemaligem Wohnhaus in Frankfurt (Main) bezeichnet. Die Ehrung bezieht sich auf die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche. Als Franz Rosenzweig in den 1920er Jahren gemeinsam mit Martin Buber an der „Verdeutschung der Schrift“ arbeitete, war er bereits schwer erkrankt und konnte aufgrund einer Lähmung nicht mehr sprechen. Die Schrift aber brachte er mit seiner Übersetzung, die Martin Buber nach Rosenzweigs Tod fertig stellte, neu zum Klingen. Dass ihre Stimme nicht verstummt oder aber vor lauter Vertrautheit überhört wird, war Rosenzweig wichtig: „Die Stimme dieses Buches darf sich in keinem Raum einschließen lassen, nicht in den geheiligten Innenraum einer Kirche, nicht in das Sprachheiligtum eines Volkes“, betonte er einmal. Und: „Wenn sie irgendwo vertraut, gewohnt, Besitz geworden ist, dann muss sie immer wieder aufs Neue als fremder, unvertrauter Laut von draußen die zufriedene Gesättigtheit des vermeintlichen Besitzers aufstören.“ Das war vor 500 Jahren auch ein Anliegen der Reformation: Die Bibel allen Menschen zugänglich zu machen. Unabdingbare Voraussetzung dafür war die Übersetzung. Martin Luther war nicht der erste, der sie ins Deutsche übertrug. Doch er hat die sprachlich eindrücklichste und prägendste Übersetzung geschaffen, die bis heute Menschen auf der ganzen Welt fasziniert.

 

1522 erschien das Neue Testament, 1534 die gesamte Bibel in deutscher Sprache.

Mit seiner Übersetzung wollte Martin Luther möglichst vielen Menschen die Lektüre der Heiligen Schrift ermöglichen, die für ihn die wesentliche Grundlage seines Glaubens darstellte. Mit sprachlichem Feingefühl und Wortschöpfungskraft übertrug er die alten Texte in ein Deutsch, das „die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, der gemeine Mann auf dem Markt“ verstehen konnten. Das kam einer Revolution der Bibelrezeption gleich, denn dadurch wurde jeder Einzelne in die Lage versetzt, einen eigenen Zugang zu Gottes Wort zu finden.

Die Bibel in der Sprache des Volkes wurde zu einem wesentlichen Impuls der Reformation. In vielen Ländern machten sich Übersetzer ans Werk, damit die Geschichte Gottes mit den Menschen in ihrer jeweiligen Landessprache lesen und sich eine eigene Meinung bilden konnten.

 

Die Übersetzung Franz Rosenzweigs und Martin Bubers ist wortmächtig in einer anderen Art und fasziniert mich ebenfalls. „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz“ (1 Mose 1f.) – was für ein beeindruckender Einstieg in das erste Buch der Schrift. Oder aber Habakuk 2,4, ein Satz, den Paulus in seinem Brief an die Römer (1,17) zitierte und der Martin Luther einst zu seiner reformatorischen Erkenntnis führte: „Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“, übersetzte Luther. In der Buber-Rosenzweig-Übersetzung heißt es kraftvoll und poetisch: „… dieweil der Bewährte leben wird durch sein Vertrauen“. Nur zwei von unzähligen faszinierenden Beispielen. Quasi als Vorarbeit dazu lässt sich Franz Rosenzweigs Aufsatz „Die Schrift und Luther“ lesen, in der er sich tiefgründige Gedanken über das Übersetzen macht und Luthers Übersetzungsarbeit kritisch würdigt.

 

Micha Brumlik ist zu verdanken, dass diese Überlegungen Franz Rosenzweigs wieder ins Interesse der Öffentlichkeit rücken. Die klugen Beiträge im vorliegenden Buch werden die Diskussion im 500sten Gedenkjahr der Reformation und den christlich-jüdischen Dialog befruchten. Dass sich Micha Brumlik dem Thema widmet, verspricht einen originellen und kreativen Zugang. Brumlik ist ein Querdenker mit Sinn für die Wurzeln, das gefällt mir. Wir brauchen Querdenker in einer Zeit, die zu Anpassung und Mainstream neigt, in der es so viel einfacher ist, stromlinienförmig zu sein als anzuecken. Mir imponiert, dass er es sich nicht leicht gemacht hat, gerade auch in den Fragen der Religion. In gewisser Weise ist er ein Seismograf für die Suche nach jüdischer Identität in Deutschland nach der Shoah. Und dabei war – und ist! – er streitbar. Als lutherische Theologin teile ich diese Leidenschaft für das Ringen um Position, die kritische Auseinandersetzung mit Religion, den Streit um die Wahrheit. Es gibt eine kreative Kraft der Differenz, die Menschen aufschreckt und anregt, neu zu denken.

Der zweite Punkt, der mir imponiert, ist eine Leistung, für die Christinnen und Christen in Deutschland dankbar sein können. Micha Brumlik hat jüdische Theologie und Praxis für uns zugänglich gemacht. Er war ein Brückenbauer zu den jüdischen Gemeinden und für die jüdischen Gemeinden, ohne je selbst in ihnen besonders aktiv zu sein, stets eher Ideengeber als Institutionenmensch. Der Philosoph Brumlik war und ist einer der wichtigsten Meinungsführer jüdischer Intellektueller im Nachkriegsdeutschland sozusagen zwischen Michael Wolffsohn und Henryk M. Broder.

 

Wenn Christinnen und Christen in Deutschland gelernt haben, mit großem Respekt die jüdische Glaubenstradition zu sehen und das eigene Versagen gegenüber dem Judentum zu begreifen, ja die Scham zu ertragen, dass wir Jüdinnen und Juden schutzlos dem Terror und Morden der Nationalsozialisten auslieferten, dann haben wir das auch Micha Brumlik zu verdanken. Es hat im Nachkriegsdeutschland noch lange gedauert, bis die Erkenntnis der eigenen Schuld zu einem unbefangenen Verhältnis von Christen und Juden führte – und der Prozess dauert noch immer an. Luthers verheerende Hetzschriften gegen die Juden sind endlich aufgearbeitet, die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich von ihnen offiziell distanziert.

 

Ja, Luther war Antijudaist, wohl gar Antisemit. Genau das aber sind die Lutheraner mit Blick auf 2017 nun endlich in der Lage zu thematisieren. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich 2015 klar von Luthers „Judenschriften“ distanziert. Das Jubiläumsjahr wird eben nicht als Heldengedenkfest geplant, sondern als eines, das sich wertschätzend, aber auch kritisch mit dem Reformator Luther und der Reformation als Bewegung insgesamt auseinandersetzt. Und eines, das fragt, wo Reform und Reformation heute angesagt sind. Die gemeinsame Rückbesinnung auf die Bibel dürfte dafür wie vor 500 Jahren eine gute Grundlage sein.

 

Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017

Micha Brumlik

Vorwort

Die jüdischen Wege ins deutsche Bürgertum waren – wie die Historikerin Simone Lässig gezeigt hat – nicht zuletzt durch die Aneignung kulturellen Kapitals gekennzeichnet: die Übernahme eines bestimmten Habitus, den Erwerb kultureller Kenntnisse sowie die Aneignung institutioneller, etwa akademischer Titel. Kulturell gesehen, war das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich protestantisch geprägt: die an den Universitäten gelehrte Philosophie stand in der Schuld von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, das Musikleben im Zeichen der Klassik von Bach und Beethoven, der Protestantismus selbst stand allemal und immer wieder im Banne Martin Luthers, seiner stets politischen Theologie und – nicht zuletzt – seiner Bibelübersetzung.

Franz Rosenzweig, 1886 in Kassel als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren, spielte lange mit dem Gedanken, ebenso wie viele seiner Freunde und Verwandten zum protestantischen Christentum überzutreten, um sich dann 1913 doch dafür zu entscheiden, Jude zu bleiben. Sein 1926, drei Jahre vor seinem Tod verfasster Aufsatz „Die Schrift und Luther“ ist eines der deutlichsten, wenn nicht das deutlichste Zeugnis jener Kultur, die das deutsche Judentum wähnte, dem Protestantismus zu schulden.

Das ist Grund genug, im fünfhundertsten Jahr von Luthers Bekanntgabe seiner Thesen jener beispielhaften Aneignung protestantischer Kultur durch einen deutschen Juden zu gedenken. Der vorliegende Band beleuchtet dies aus unterschiedlichsten, einander allemal ergänzenden Perspektiven.

Den Anfang macht Walter Homolkas luzide Übersicht der jüdischen Rezeption Luthers vom 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahre des Dritten Reiches. Dem folgt mein eigener Versuch, in Rosenzweigs Text sein Oszillieren zwischen jüdischem Universalismus und nie gekündigtem deutschen Nationalismus zu verdeutlichen. Der allemal auch philosophisch bedeutsamen Problematik der Kunst des Übersetzens gelten die Beiträge von Irmela von der Lühe und Elisa Klapheck. Während Irmela von der Lühe am Text Rosenzweigs die grundsätzliche Spannung zwischen Philologie und Religion untersucht, betrachtet Elisa Klapheck als jüdische Theologin beide, Rosenzweig und Luther vor der Tradition der rabbinischen Übersetzungkunst, des „Targums“. Demgegenüber geht Klaus Wengst aus der Perspektive des evangelischen Theologen dem Problem nach, ob und wie Luther mit Rosenzweig auch gegen dessen Antijudaismus gelesen werden könnte. Gesine Palmer, die sich schon früher kritisch mit Rosenzweigs negativer Haltung zum Islam auseinandergesetzt hat, erwägt in ihrem Beitrag, ob aus Rosenzweigs Theorie der Übersetzung, also der „Vermählung zweier Sprachgeister“, Anhaltspunkte für eine neue, deutsche Übersetzung des Korans zu gewinnen wären. Christoph Kastens Beitrag erinnert an ein zu Unrecht vergessenes Kapitel deutsch-jüdischer Intellektualgeschichte. Indem sich Kasten der Kritik von Siegfried Kracauer – eines Mitstreiters und Freundes von Adorno – an Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung widmet, wird deutlich, wie und warum etwa Adorno in seinem „Jargon der Eigentlicheit“ den in den 1950er Jahren so hochgeschätzten Martin Buber in Grund und Boden kritisieren konnte. Beiden, den nicht nur von Kracauer, sondern auch von protestantischen Theologen kritisierten Autoren, Buber und Rosenzweig gilt der abschließende Beitrag Christian Wieses, der mit Leo Baeck auf die bleibende Bedeutung der Hebräischen Bibel für das Christentum und damit auf die theologische und auch politische Bedeutung von beider Bibelübersetzung hinweist.

Es war kein geringerer als Gershom Scholem, der im Jahr 1961 Bubers und Rosenzweigs Übersetzung als „Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“, nämlich von Juden und Deutschen würdigte. Franz Rosenzweigs Versuch über Luthers Bibelübersetzung ging diesem Grauen voraus – ob aus ihr nach dem Holocaust mehr als nur Resignation folgt, wollen wir in diesem vorliegenden Band erkunden.

 

Berlin, im Januar 2017