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Thomas West

Todesgrüße aus der Vergangenheit: Thriller

Todesgrüße aus der Vergangenheit

Krimi von Thomas West


Der Umfang dieses Buchs entspricht 131 Taschenbuchseiten.


Die beiden FBI-Agenten Jesse Trevellian und Milo Tucker haben es mit einer ungewöhnlichen Mordserie zu tun: Die Getöteten wurden mit einem Pfeil vergiftet, der Curare enthielt. Dieses Gift lähmt die Atmung, und die Opfer ersticken qualvoll. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass es sich bei den Ermordeten um Vietnamveteranen aus einem Trupp handelte, die seinerzeit ein vietnamesisches Dorfes überfallen und ausgemerzt hatten – allerdings waren nur drei Soldaten verantwortlich gemacht und von einem US-Kriegsgericht verurteilt worden … anscheinend will sich nach fast dreißig Jahren jemand an den übrigen rächen …


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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.

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© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

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1

"Reißt ihnen die Eier ab, verflucht noch mal!" Die Chikago Bulls lagen mit drei Punkten im Rückstand, und Richie brüllte sich die Kehle heiser. In seinem dröhnenden Fernsehapparat brachen die letzten fünf Minuten des Spiels an. Die Zeit arbeitete für die Sacramento Kings. Und gegen Richie, der fünfzig Dollar auf seine Mannschaft, die Bulls, gewettet hatte.

Er stemmte seinen unglaublich fetten Körper aus dem Sessel, und ging zum Kühlschrank. Ohne den Fernsehschirm aus den Augen zu lassen, griff er in seine Bierdosengalerie. Er riss den Verschluss von der Dose und setzte sie an die Lippen. Es sollte das letzte Bier seines vierundfünfzigjährigen Lebens sein.

Die Haustürglocke übertönte den Lärm aus dem Fernsehgerät. Richie schob das Fenster neben der Außentreppe hoch. Ein Fremder stand vor der Haustür und lächelte ihn an. "Meine Kids haben den Ball in Ihren Garten gekickt."

"Holen Sie ihn sich", brummte Richie und wies auf das offen stehende Gatter. Er zog das Fenster wieder herunter und eilte zum Fernseher zurück. Vielleicht hätte er sich gewundert, dass von den Kindern des Mannes weit und breit nichts zu sehen gewesen war, aber die Bulls kämpften knapp zwei Meter vor der gegnerischen Grundlinie. "Gibt's Ihnen, Jungs! Los! Macht sie fertig!"

Einige Sekunden lang sah es verdammt nach einem Ausgleich aus, und Richie hatte absolut nicht den Kopf, über den komischen Vogel nachzudenken, der da eben vor seiner Tür gestanden hatte. Hätte er es getan, wäre er vielleicht nicht an die Terrassentür gegangen, als der Fremde vom Garten aus ans Fenster klopfte.

Fluchend und ächzend erhob er sich ein zweites Mal. Im Zeitlupentempo bewegte er sich rückwärts auf die Terrassentür zu. Die Kings wehrten den Angriff ab. Es war zum Heulen. "Scheiße!", bellte Richie und sah auf die Uhr: Noch drei Minuten. Die fünfzig Dollar konnte er abschreiben. "Scheiße!"

Das Klopfen am Fenster wurde ungeduldiger. "Ich komme ja schon!" Er hasste Leute, die ihn während eines Footballspiels störten. Normalerweise konnte man alles von ihm kriegen. Richie Perlman war die Freundlichkeit in Person, keiner Fliege hatte er je was zuleide getan, sein ganzes Leben lang nicht. Abgesehen von den Jahren in Vietnam. Klar, aber das war schon nicht mehr wahr. Nur, wenn ihm einer in ein Footballspiel platzte, noch dazu wenn die Chikago Bulls ... Er riss die Terrassentür auf. "Was'n los, Mann?!"

"Der Ball liegt in ihrem Spinatbeet, da will ich Ihnen nicht reintreten." Die grauen Augen des Fremden lächelten aus einem braungebrannten, wettergegerbten Gesicht. Sein graues Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und trotz des heißen Sommertages trug er einen langen, hellen Mantel.

"Sieht aus wie ein Apache", dachte Richie und wälzte seine hundertneunzig Pfund über den Rasen dem Spinatbeet entgegen. Unter der gewaltigen Fettschicht seines Bauches zuckte etwas: Seine innere Stimme. Wenn er ihr zugehört hätte, hätte er erfahren, dass er den Mann schon irgendwo gesehen hatte. Doch Richie konzentrierte sich auf die Stimme des Kommentators. Aus der Küche verkündete sie gerade einen Punktgewinn für die Bulls. "Yeah!" Richie schlug mit der Faust in die flache Hand. Dann blieb er wie angewurzelt stehen: Im Spinatbeet entdeckte er einen frischen Maulwurfshügel und doppelt so viel Unkraut wie gestern - aber keinen Ball.

Das Zucken in seinem Bauch schoss ihm heiß durch die Brust bis in die Kehle. Woher kannte er diesen komischen Kerl? Richie schluckte und erschrak, weil er den Kloß im Hals kaum herunterbekam. Er drehte sich um, sehr langsam, als fürchtete er sich vor der Wahrheit. Der Fremde hielt etwas Längliches vor dem Mund, eine Art Stange. Richie hatte keine Zeit mehr, das Gerät zu identifizieren: Ein brennender Stich zwang seine Aufmerksamkeit zu seiner Schulter - knapp unter dem rechten Schlüsselbein hing ein seltsames Ding, gefiedert und bunt.

Der Fremde kam auf Richie zu. Er lächelte nicht mehr. Drei Schritte vor ihm blieb er stehen. Richies Beine gaben so plötzlich nach, dass er erstaunt an sich heruntersah. Er ging in die Knie, einfach so, ohne erkennbaren Anlass und wollte sich noch mit den Armen abstützen, doch seine Knochen gehorchten ihm nicht mehr. Er kippte nach hinten weg.

Der Fremde beugte sich über ihn und zog das bunte Ding aus seinem Körper. Es tat höllisch weh, aber Richie zuckte nicht einmal mit den Nasenflügeln. Jetzt kehrte das Lächeln auf das Gesicht des Mannes zurück, aber diesmal war es ein kaltes, bitteres Lächeln. "Ich freu' mich, dich noch einmal gesehen zu haben, Richie. Ich habe lange darauf gewartet."

Auf einmal war der Name des Mannes da. Richie wollte ihn herausschreien. Mehr als ein verwaschenes Wimmern brachte er nicht zustande. Es klang ziemlich albern, und der Mann grinste breit. Dann wandte er sich ab, seine Schritte entfernten sich, und Richie hörte das Gatter knarren.

Er lag da wie ausgekippt und spürte die feuchte Kühle des Rasens in sein Unterhemd dringen. Über seine Schläfe krabbelte irgendein verdammtes Insekt. Richie hätte es gern verscheucht, aber nicht einmal seine Augenlider gehorchten ihm noch. Eingezwängt in einem Kerker aus Fett und Knochen, so kam er sich vor. Sein Mund stand offen, und obwohl alles in Richie nach Luft schrie, blieb sein Brustkorb regungslos wie ein Stein. Seine Zunge rutschte langsam nach hinten.

Aus der offenen Terrassentür dröhnte die Stimme des Kommentators und das Jubelgeschrei der Fans. Der Fans von den Chikago Bulls. Die Jungens hatten es tatsächlich geschafft, das Spiel noch zu retten. Und Richies fünfzig Dollars. Aber das bekam Richie Perlman schon nicht mehr mit. Er würde nie mehr auch nur einen einzigen Dollar brauchen.



2

Die Wohnung war völlig versifft. Der Teppichboden wies ein fast regelmäßiges Muster von Brandflecken auf, an manchen Stellen hing die Tapete von den Wänden, leere Flaschen und Dosen standen auf dem Schrank und unter dem Tisch, und in den Ecken stapelten sich alte Zeitungen. Die Tür zur Toilette hatte wohl irgendjemand auf einem Flohmarkt verhökert, und ich bekam den Geruch von Pisse nicht mehr aus der Nase, seit wir uns heute Morgen hier einquartiert hatten. Ich konnte mich an Zeiten erinnern, in denen noblere Adressen für unsere Undercover-Agents angemietet worden waren.

Aber gut - wir waren hier schließlich nicht am Central Park West, sondern in einer ziemlich miesen Gegend von Little Italy. Seit Wochen ermittelten wir hier und in China Town, und zumindest den mittleren Chargen des Drogenhandels in diesem Teil New Yorks waren wir ziemlich dicht auf den Fersen. Wenn alles gut ging, würde unser Undercover-Man uns heute die dicken Fische ins Netz treiben.

Ich stand neben dem Fenster. Von der Wohnung unseres Undercover-Agenten hatte man einen guten Überblick. Die Kreuzung lag vor mir wie ein Freilufttheater. Milo kam mit einer Kanne Kaffee vom Herd und setzte sich wieder neben das Funkgerät. "Und?", fragte er. "Alles in Ordnung da unten?"

"Kann man so nicht sagen - im Augenblick wird nämlich niemand ermordet, und Drogendealer kann ich auch nirgends entdecken."

"Ist ja alarmierend", Milo reichte mir einen Becher mit dampfendem Kaffee, "womöglich ist das Reich Gottes angebrochen, und wir haben's gar nicht gemerkt."

"Dann bräuchten wir ja keine Sorge zu haben, dass wir unseren Urlaub nächste Woche doch noch stornieren müssen." Der Mann hinter dem Eisstand auf der anderen Straßenseite stieß einen Stapel Eiswaffeln um. Er kam hinter seinem Tresen hervor, um sie einzusammeln. Kurz darauf traten zwei Männer aus einer Bar und stiegen in einen schwarzen Chevy. "Ich glaub', unser Mann ist im Anmarsch", sagte ich zu Milo. Er steckte sich den Kopfhörer ins Ohr.

Ein paar Minuten geschah nichts weiter. Außer, dass der Penner hundert Meter vor dem Eisstand von seinem Pappkarton aufgestanden war, und angefangen hatte, die Passanten anzubetteln. Unsere anderen Leute - die Maler auf dem Hausgerüst, die beiden Straßenmusiker und die Wartenden an der Bushaltestelle - verhielten sich ruhig.

"Und wohin zieht es dich nächste Woche?", wollte Milo wissen. Der Gedanke an den bevorstehenden Urlaub schien ihn zu beflügeln. Kein Wunder, die zurückliegenden Wochen waren ziemlich nervenaufreibend gewesen.

"Florida", sagte ich, "ich hab' mir schon ein paar Kilo Bücher besorgt. Mit denen werde ich am Strand liegen."

Milo brach in schallendes Gelächter aus. "Jesse wird die ganze Zeit mit Büchern am Strand liegen!"

"Was gibt's da zu lachen?" Ich musste unwillkürlich grinsen. Milos Erheiterungen wirken fast immer ansteckend auf mich.

"Wenn ich dich nach dem Urlaub nach den Büchern frage, mit denen du am Strand gelegen hast, wirst du mir wahrscheinlich sagen: >Eins war blond, das andere unglaublich spannend, was seinen Badeanzug betrifft, und das dritte ...<"

Milo unterbrach sich und drückte auf den Stöpsel in seinem Ohr. "Er kommt." Er schaltete die Akustik seines Empfängers ein. Ein schwacher Piepton war zu hören. Unser Mann bei der Mafia hatte einen Sender im Stoff versteckt. Jetzt war er mit ihm unüberhörbar im Anmarsch. Er sollte das Zeug an die Käufer ausliefern und das Geld entgegennehmen.

Ich presste mich an die Wand. "Der Eiswagen fährt vor." Mit dem Feldstecher überzeugte ich mich davon, dass unser Mann am Steuer saß. Milo gab die Informationen weiter an die Jungs auf der Straße. Der Wagen hielt vor dem Eisstand. Der getarnte G-Man packte die Eisboxen neben den Stand. Der Eismann versenkte sie gleich in seiner Theke. Mindestens eine davon enthielt die heiße Ware.

Unser Mann nahm die leeren Boxen entgegen und lud sie in seinen Kühltransporter. Er schloss den Laderaum und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an - das Zeichen. "Das Geld war wie abgemacht in den leeren Boxen", sagte ich zu Milo. Er funkte das vereinbarte Signal. Drei Männer an der Bushaltestelle entfernten sich von den Wartenden und bestiegen einen Ford. Der Eiswagen verschwand in der Seitenstraße, der schwarze Chevy hängte sich an ihn. Und der Ford mit unseren Männern. Sie würden sich direkt zum Händler führen lassen.

"Achtung Milo, unser Part beginnt." Der Eismann packte seinen Stand zusammen. Gleich würde er ihn singend oder pfeifend über den Bürgersteig schieben, wie ein harmloser, freundlicher Familienvater, der sich den ganzen Tag lang für ein paar Dollar abgerackert hat. Keiner der Passanten würde auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen, dass es sich bei dem netten Kerl um einen Kriminellen handelte, auf den in irgendeiner Hofeinfahrt schon ein eiskalter Großdealer wartete.

Der Penner rollte seinen Pappkarton zusammen und torkelte hinter dem Eismann her. Die Straßenmusikanten packten ihre Gitarren und Flöten ein. "O.K., Milo, unsere Leute sind so weit."

"Dann nichts wie los, Partner!" Er warf mir mein Jackett zu und stürmte zur Tür. Ich entsicherte meinen Revolver. Gemeinsam schlenderten wir kurz darauf über die Straße.

Zwei Stunden später war alles vorbei. Es gab eine kleine Schießerei. Aber die Dealer waren so überrascht, dass sie nicht groß dazu kamen, ihre Gegenwehr zu organisieren. Wir verhafteten fünf Männer. Einer davon war ein Großdealer, dem man bisher nichts hatte nachweisen können. Der Händler wurde bei der Geldübergabe gestellt. Ein Chinese.

Zurück in der heruntergekommenen Wohnung gab Milo die Erfolgsmeldung an den Chef durch. "Danke, Sir." Ich räumte unseren Kram zusammen. Auf Milos Stirn gesellte sich eine Falte zur anderen, und er sagte lange kein Wort. Offenbar hatte der Chef ihm allerhand Neuigkeiten zu berichten. "Ist O.K., Sir", sagte Milo schließlich und steckte sein Handy weg.

"Und? Alles in Ordnung?", fragte ich.

"Alles in bester Ordnung, Partner!" Seine spöttischer Tonfall machte mich stutzig, und ich zog fragend die Augenbrauen hoch. "Morgen früh haben wir ein Date beim Chef", grinste Milo.

"Klingt ganz nach einem neuen Fall", sagte ich, "und danach, dass wir unseren Urlaub tatsächlich stornieren müssen."

"Ich sagte doch", Milo setzte seine unschuldigste Miene auf, "es ist alles in bester Ordnung."



3

"Glückwunsch, Gentlemen", Mr. McKee gönnte uns ein anerkennendes Lächeln, "der Chinese, den wir gestern verhaften konnten, scheint der Kopf des Drogenhandels von Chelsea bis zur Lower East Side zu sein." Er nickte befriedigt. "Gute Arbeit."

"Danke,Sir", sagte Milo und grinste mich an wie ein Junge, der gerade sein Weihnachtsgeschenk ausgepackt hatte. Ein zufriedener Chef gleich am frühen Morgen - da hatte auch ich nichts gegen einzuwenden. Ich schlürfte den Kaffee, den Mandy uns hingestellt hatte. Angesichts der heiteren Miene des Chefs schmeckte er noch besser als sonst. Man sollte die Frau für einen Orden vorschlagen.

"Wenn ich recht informiert bin, haben Sie für nächste Woche Urlaub angemeldet", Mr. McKee betrachtete nachdenklich seine Fingernägel. Offenbar suchte er nach passenden Worten, um uns die Kröte schmackhafter zu machen, die wir gleich schlucken sollten. "Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie den noch verschieben könnten, da ist ein Fall reingekommen, für den ich Sie brauche."

Er schaute uns fragend an. Wir nickten fast gleichzeitig. Erstens war uns schon seit gestern Abend klar, dass der Urlaub flachfallen würde, und zweitens hatten wir keine andere Wahl. "Sie wissen ja, dass Ihre Kollegen mit dem Attentat auf Senator Salinger und der Mordserie in Greenwich Village befasst sind. Ich kann niemanden abziehen."

"Ist doch klar, Sir. Worum geht's denn?" Der gute Milo schien jetzt schon ganz heiß auf Arbeit zu sein. Nun - er würde mich schon irgendwann anstecken.

Mr. McKee schob uns einige Computerausdrucke über seinen Schreibtisch. "Da ist vor zwei Tagen ein Mann in Leonia ermordet worden. Richard Perlman hieß er, hat bei der Post gearbeitet. Neunundvierzig Jahre alt."

Ich nahm die Akte und blätterte sie durch. "Und die City Police gibt schon nach zwei Tagen den Fall an uns ab?" Meine Frage war nur schlecht getarnte Neugier. Es war klar, dass unser Chef noch nicht mal die Hälfte der Katze aus dem Sack gelassen hatte. Außerdem sah ich noch einen zweiten Stapel Blätter vor ihm auf dem Schreibtisch liegen.

"Vor einer Woche wurde ein Mann in Massachusetts ermordet, ein Universitätsprofessor aus Boston, vierundundfünfzig Jahre alt." Mr. McKee nahm die vor ihm liegenden Papiere und reichte sie Milo. "Beide Leichen wiesen eigenartige Einstichstellen auf: Zu groß für eine Injektionsnadel und zu klein für eine Stichwaffe. Die Untersuchungsberichte gehen von kleinen Pfeilen aus, wie man sie mit Blasrohren verschießt. Auch die Todesursache stimmt in beiden Fällen überein: Erstickung durch komplette Muskellähmung infolge einer Vergiftung mit Curare."

Milo und ich sahen uns an. Die linke Augenbraue meines Partners zuckte, und ich kannte ihn lange genug, um das richtig deuten zu können: Milo war, gelinde gesagt, überrascht. Und mir ging es genauso. Die Vorstellung, dass da jemand frei herumlief und seine Mitbürger mit dem Pfeilgift der südamerikanischen Indianer ins Jenseits beförderte, verursachte mir sogar einen leichten Schauder. Ein durchschnittlich fantasiebegabter Mensch wird aus dem Stand schätzungsweise hundertzwanzig Todesarten aufzählen können. Bei klarem Bewusstsein zu ersticken, weil einem die Atemmuskulatur nicht mehr gehorcht, gehört sicher zu den unangenehmsten. Der Kaffee schmeckte mir plötzlich nur noch halb so gut.

Milo sah es mehr von der praktischen Seite. "In jedem zweiten Haushalt gibt es mindestens eine Waffe. Und notfalls genügt ein kleiner Stadtbummel und man hat eine brauchbares Schießeisen gekauft - und hier benutzt einer ein vorsintflutliches Blasrohr!" Er schüttelte den Kopf. "Unglaublich! Was für ein Kerl mag das sein?!"

Mr. McKee deutete ein Schulterzucken an und erhob sich. "Sie werden es herausfinden, wie ich Sie kenne." Die Sitzung schien beendet. Ich leerte schnell meine Tasse. Der Chef verabschiedete uns. "Jesse, Milo - ich bin gespannt auf Ihren Bericht, viel Erfolg."



4

Der Mann pfiff einen alten Dylan-Song vor sich hin, als er die Toilette der Bar betrat. Er war klein und drahtig, und trotz seiner knapp fünfzig Jahre bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Dreißigjährigen. Er warf einen flüchtigen Blick auf die drei anderen Männer vor den Pissoirs, stellte sich dann an das freie Becken links in der Ecke und pinkelte hingebungsvoll.

Er pinkelte lange. So lange, bis zwei der Männer die Toilette verlassen hatten. Dann erst drückte er die Spüle und wandte sich dem großen Grauhaarigen in der rechten Ecke zu. "Glückwunsch, Al, ich hab's in der Zeitung gelesen - hat Richie einen Gruß an mich ausrichten lassen?"

"Ihm fehlten die Worte, er konnte nur noch gucken wie eine Kröte, die einen Truck auf sich zufahren sieht." Der Große knöpfte seinen Hosenschlitz zu und strich eine Strähne seines langen Haares aus dem braungebrannten Gesicht. Seine Stimme klang ruhig, fast kalt, und er verzog keine Miene. "Hast du den Bericht, Gino?"

Der andere zog ein Kuvert aus der Innentasche seines schwarzen Jacketts und reichte es dem Grauhaarigen. "Lies es dir durch, ich habe Russel zwei Wochen lang beobachtet, doch das Wesentliche kann ich dir in drei Sätzen sagen." Sie standen jetzt am Waschbecken. Der Graue ließ das Kuvert unter seinem hellen Sommermantel verschwinden und zog fragend die Augenbrauen hoch. "Er hat am Wochenende frei und wird zum Angeln fahren. Irgendwo in den Catskill Mountains, nicht weit von Kingston. Ich habe dir den Ort genau skizziert. Das einzige Problem - sein Hund."

"Ein Hund? Gino, du Witzbold! Hast du schon mal einem Jaguar gegenübergestanden?" Der Große lächelte kalt. "Warum hast du gerade diese Bar ausgesucht? Du hast doch früher keine Vorliebe für solche Spelunken gehabt. Bringt das die Schriftstellerei mit sich?"