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ANNA STERN

BEIM
AUFTAUCHEN
DER
HIMMEL

ERZÄHLUNGEN

Anna Stern

lectorbooks, ein Imprint der Torat GmbH, Zürich

Wir danken der Stadt Zürich und dem Kanton St. Gallen für die Unterstützung dieses Buches.

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© 2017, lectorbooks/Torat GmbH

ISBN 978-3-906913-05-6

INHALT

Die Tochter des Botschafters.

Eines Tages oder Le vent nous portera.

Lacertidae.

Beim Auftauchen der Himmel.

Le Fantôme.

The Protector.

Die Geschichte vom Umgedrehten Land.

Das Geheimnis von Wester Ross.

Zwischen zwei Flügen.

Das Lied vom einsamen Mädchen.

Il n’y a ni bonheur ni malheur en ce monde,

il y a la comparaison d’un état à un autre, voilà tout.

Celui-là seul qui a éprouvé l’extrême infortune

est apte à ressentir l’extrême félicité.

Il faut avoir voulu mourir, Maximilien,

pour savoir combien il est bon de vivre.

Alexandre Dumas père

Ours is essentially a tragic age, so we refuse to take it tragically. The cataclysm has happened, we are among the ruins, we start to build up new little habits, to have new little hopes. It is rather hard work: there is now no smooth road into the future: but we go round, or scramble over the obstacles. We’ve got to live, no matter how many skies have fallen.

D. H. Lawrence

Erinnerst du dich ans

Mini-Pünktchen?

War es der Ort,

an dem alles anfängt?

Oder an dem alles

zu Ende geht?

Anna Stern

DIE TOCHTER DES BOTSCHAFTERS.

for Alex and Flora

Beim Aufwachen hat Anthony Garp heute als Erstes an Astrid gedacht, oder vielleicht hat er von ihr geträumt und ihr Bild stand ihm beim Übergang vom Schlaf- in den Wachzustand einfach noch vor Augen. Natürlich weiß er, dass es Astrid nicht gibt, jedenfalls nicht so, wie Alice denkt, dass es sie gibt. Doch auch wenn Anthony Astrid nicht erfunden hat, so gibt er zu, dass man bezüglich der Natur von Astrids Existenz dennoch verschiedener Ansicht sein kann.

Die echte Astrid und die erfundene.

Die echte Astrid ist klein und zierlich, ihr braunes, oft zu einem Zopf geflochtenes Haar reicht ihr bis zu den Schulterblättern, ihre klaren, eisblauen Augen schauen aufgeweckt unter den dichten Brauen hervor, und wenn sie lächelt, wird eine ebenmäßige Reihe Zähne sichtbar, die in ihrem Weiß an den Schnee erinnert, der in ihrer Heimat fast das ganze Jahr über auf Felsen und eigentlich grünen Wiesen liegt.

Die Astrid, die Anthony für Alice erfunden hat, ist klein und zierlich, ihr braunes, oft zu einem Zopf geflochtenes Haar reicht ihr bis zu den Schulterblättern, ihre klaren, eisblauen Augen schauen aufgeweckt unter den dichten Brauen hervor, und wenn sie lächelt, wird eine ebenmäßige Reihe weißer Zähne sichtbar.

Diese Astrid ist Tochter eines Botschafters, der seine nordische Heimat angeblich bereits in Ländern auf allen Kontinenten vertreten hat; jene Astrid ist Evolutionsbiologin, interessiert sich für die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen in ökologisch komplexen Systemen und arbeitet im Labor an der Bank, die neben derjenigen von Anthony steht.

Wie es kam, dass Astrid die Botschaftertochter plötzlich Teil seines Lebens wurde, daran erinnert er sich noch genau, das Warum jedoch – er kann es nicht erklären. Er sollte Alice nicht anlügen, er hat das vorher auch noch nie getan, selbst als kleiner Junge nicht. Für Anthony gab und gibt es seiner Großmutter gegenüber keine Ausreden, keine Notlügen, nur bedingungslose Ehrlichkeit. Vielleicht, weil er fürchtete, dass sie sich, aufgrund von Unehrlichkeiten und selbst kleinen Ausreden, von ihm abwenden, ihn allein lassen könnte, was er nicht ertragen hätte, dessen ist er sich sicher: Nachdem bereits Agatha und Walt verschwunden waren, durfte er Alice nicht auch noch verlieren; er hatte doch nur noch sie.

Es war kurz nach Anthonys siebtem Geburtstag, ein Freitag. Seine Eltern, Agatha und Walt, holten ihn von der Schule ab, und alle zusammen fuhren sie zu Alice, seiner Großmutter, der Mutter seiner Mutter. Anthony sollte bis Sonntag bei ihr bleiben, während sie, seine Eltern, wegfuhren, um das Wochenende zu zweit zu verbringen, ihr zehnter Hochzeitstag. Er mochte Alice, sie war eine liebevolle, eine noch junge Großmutter, die ihm nichts verbat und alles erlaubte, die ihn herzte und verwöhnte, und er freute sich auf die Zeit bei ihr.

Kaum hatte sein Vater den Wagen auf der Straße vor dem kleinen Reihenhaus geparkt, war Anthony auch schon herausgesprungen, hatte sich seinen Rucksack geschnappt und war, an der in der Tür stehenden Alice vorbei, die Treppe hinauf in sein Zimmer gesaust, in das Zimmer, in dem er hier bei Alice immer schlief. Er warf den Rucksack auf das breite Bett, dessen quietschender Metallrahmen ihn manchmal weckte, wenn er unruhig schlief, wickelte das kleine Schokoladenherz, das Alice, wie immer, wenn er herkam, um über Nacht bei ihr zu sein, auf das weiße Kopfkissen gelegt hatte, aus der roten Folie und legte es sich auf die Zunge. Dann machte er es sich, den dicken Lexikonband über die Tierwelt auf den Knien aufgeschlagen, in der mit Kissen ausgelegten Fensternische bequem.

Hätte das Fenster nicht offen gestanden, um die milde Frühlingsluft, das weiche Sonnenlicht des Spätnachmittags ins Zimmer zu lassen, hätte Anthony nicht die Stimmen von Alice und Walt und Agatha hören können, wie sie sich gut gelaunt im Vorgarten unterhielten, wie seine Mutter lachte, dieser fröhliche, unvergleichliche Laut, hätte er seine Eltern in diesem Augenblick bereits vergessen gehabt und erst dann wieder an sie gedacht, wenn sein Vater am Sonntagabend dreimal auf die Hupe des schwarzen 1963er Buick Riviera gedrückt und seine Mutter ihm mit einem Lächeln auf den rot bemalten Lippen aus dem offenen Seitenfenster zugewinkt hätte, beides unmissverständliche Zeichen für seine Rückkehr in den Alltag, dafür, dass die süße Zeit mit Alice schon wieder viel zu schnell vergangen war.

So jedoch hörte er, wie Alice nach ihm rief und ihn bat, nach unten zu kommen, um seinen Eltern Auf Wiedersehen zu sagen, und so ging er nach unten, schlitterte auf Strümpfen die blank polierte Holztreppe hinab und begleitete die Erwachsenen zum Buick, dessen Motorhaube in der Sonne glänzte. Er umarmte Agatha und Walt, die ihm beide einen Kuss auf die Wange drückten und sagten, er solle schön artig sein, und er nahm die Polaroidkamera entgegen, als Agatha ihn darum bat, und machte ein Bild von ihr und Walt, wie sie sich an den Wagen lehnten und er ihr einen Kuss auf die Wange drückte.

Anthony sah ihnen nach und winkte, als sie die schmale Straße entlang davonfuhren, und er spürte Alices Hand auf seiner Schulter, dass ihr Griff ein wenig fester wurde, als Black Beauty, wie sein Vater den Wagen manchmal nannte, um seine schwarzhaarige Mutter, die eigentlich seine Black Beauty war, zu ärgern, um die Ecke bog und damit aus ihrem Blickfeld verschwand. Er erinnert sich heute, wie glücklich und geborgen er sich in diesem Augenblick gefühlt hat, dass er sich, durch Alices spürbare Nähe vor dem Alleinsein geschützt, auf die Zeit ohne Agatha und Walt freute, gleichzeitig jedoch auch schon ihre Rückkehr herbeisehnte, die gemeinsame Fahrt nach Hause, wenn er neben Walt auf dem Beifahrersitz würde sitzen dürfen und die Gelegenheit erhielte, ihnen von den Erlebnissen des Wochenendes zu erzählen.

Ihm entfuhr ein tiefer, fast wehmütiger Seufzer, dann sagte Alice, komm, lass uns hineingehen, der Kuchen dürfte inzwischen fertig sein.

Sie aßen den Kuchen und später auch das Abendessen an dem kleinen Tisch unter dem Apfelbaum im hinteren Teil des Gartens. Es war der erste warme Tag des Jahres, Krokusse zu ihren Füßen, und er erzählte Alice von der Schule und von seinem Freund David und dass er bald einmal mit David und dessen Vater würde angeln gehen dürfen. Wie Davids Vater seinen Vater eigens angerufen hatte, um ihn nach seinem Einverständnis zu fragen, und dass Walt Ja gesagt hatte, natürlich. Und Alice erzählte ihm die Geschichte, wie ihr Mann, Frederick, sein Großvater, den er nie kennengelernt hat, einmal zum Lachsangeln nach Alaska gereist war, und obwohl Anthony die Geschichte bereits kannte, hörte er gespannt zu und ging schnell, als Alice ihn bat, das Fotoalbum aus ihrem Schlafzimmer zu holen. Gemeinsam sahen sie sich die Bilder an von den dick eingepackten Männern in der winterlich weißen Weite, die Alaska sein sollte, das so weit weg war, dass er, der Junge, es sich nicht vorstellen konnte, wie der Mond, dachte er damals.

Alice zeigte ihm, welches sein Großvater war, ich erkenne ihn nur, weil er der Größte ist von allen, sagte sie, und trotz der warmen Winterkleidung der schlankste der Männer, und Anthony wusste es ebenfalls, von früher, von all den anderen Malen, die er das Fotoalbum bereits mit Alice durchgeblättert hatte. Und wie schon so häufig sagte sie auch bei dieser Gelegenheit, du gleichst ihm, Anthony, deine Augen, deine Art, dich zu bewegen, erinnern mich an ihn, und ich glaube, du wirst einmal genauso groß.

Und weil er nur ein Junge war, weil er nicht wusste, was er mit dieser Ähnlichkeit anfangen, wie er damit umgehen sollte, dass er einem Toten glich, Frederick, den er nie gekannt hatte, mit dem er aber wieder und wieder verglichen wurde, blätterte er schnell die Seite um und bat Alice, ihm die Geschichte von dem Bären zu erzählen, der, so heißt es, plötzlich auf der anderen Flussseite, gegenüber der Stelle, an der die Männer angelten, aufgetaucht war und der, zwar nur als schwarzer Schemen und für das unwissende Auge unerkennbar, so doch im kontrastlosen Weiß des letzten Alaska-Fotos für die Ewigkeit festgehalten ist.

Gern, sagte Alice, und sie erzählte die Geschichte so glaubhaft, ließ den Bären und die Männer und die Lachse im Fluss mit solcher Leichtigkeit vor Anthonys innerem Auge zum Leben erwachen, als sei sie selbst dabei gewesen, damals, als der Großvater, den er nie gekannt hat, nach Alaska ging.

Später kam Sarah, die mit ihren Eltern im Haus nebenan wohnte und im gleichen Alter war wie er, und fragte, ob Anthony mit ihr Federball spielen wolle, und weil der Abend so schön war und der nächste Tag ein Samstag und Anthony und Alice keine Pläne hatten, spielte Anthony, bis es dunkel wurde, mit Sarah Federball, und dann noch etwas länger, das Licht der Straßenlaternen reichte gerade aus.

Der Samstag verschwimmt in seiner Erinnerung zu einer ähnlich unfassbaren Wolke aus Glück, Zufrieden- und Geborgenheit. Er durfte Sarah und ihre Eltern in den Zoo begleiten, sie sahen die Pinguine in einer langen Kolonne über das Gelände watscheln, eine Polonaise, erklärte Sarahs Vater, und Sarah und Anthony ritten auf einem Kamel. Am Abend buk Alice Pizza und er durfte Sarah zum Essen einladen, und anschließend spielten sie zu dritt shopping center, bis Sarah nach Hause musste, Anthony gewann zwei Mal. In der Nacht schlief er gut, tief, scheinbar ohne Träume, jedenfalls erinnerte er sich beim Aufwachen nicht daran, und das tat er sonst meist. Er blieb mit geschlossenen Augen liegen und merkte darum lange nicht, dass Alice bei ihm im Zimmer war, dass sie, mit dem Rücken an das Bett gelehnt, an seiner Seite saß, ein zerknülltes Taschentuch in den Fingern und in den grauen Augen Tränen, die sie nicht zu weinen wagte.

So gut er sich noch alle möglichen Einzelheiten der beiden vorangegangenen Tage ins Gedächtnis rufen kann – dass es am Freitag Johannisbeerkuchen gegeben hatte, wovon er drei Stück aß und Alice nur eins, dass Sarah ihm von dem Geschwisterchen erzählt hatte, das im Herbst auf die Welt kommen sollte, und wie er am nächsten Tag im Zoo immer wieder verstohlen Sarahs Mutter beobachtet hatte, auch ihren Vater, und sich fragte, wo das Kind zu dem Zeitpunkt wohl war, ob schon im Bauch oder noch an einem anderen Ort –, so schwer fällt es ihm zu sagen, wie der Sonntagmorgen verlaufen ist, eigentlich der ganze Tag, vielleicht die folgende Woche auch noch.

Alice muss ihm gewiss gesagt haben, dass Agatha und Walt tot waren, doch sosehr er sich auch bemüht, an ihre exakten Worte erinnert er sich nicht, ob sie ihn dabei im Arm hielt, ob sie beide weinten oder nur er. Allzu viel konnte selbst Alice an diesem frühen Morgen noch nicht gewusst haben, Agathas und Walts Leichen waren zwar bereits geborgen, doch die Feuerwehr kämpfte weiterhin mit den letzten Brandherden, in dem Kino und in angrenzenden Gebäuden, sodass eine Ermittlung noch nicht begonnen haben konnte und alle Angaben über den Ursprung des Feuers zu diesem Zeitpunkt nichts als Spekulationen waren.

Und selbst wenn, wie hätte das Wissen darum ihn trösten sollen, oder Alice, es gab ihnen die Mutter nicht zurück, die Tochter, nicht den Vater, den Schwiegersohn, nicht Agatha und Walt. Und vom Tagebuch seiner Mutter, das ihnen, Anthony und Alice, einige Tage später zusammen mit dem Buick und dem Gepäck seiner Eltern übergeben wurde, von Agathas Aufzeichnungen, die zu den wenigen Dingen gehören, die Anthony von seiner Mutter behalten hat, weiß die Polizei bis heute nichts. Die Eintragungen darin, selbst jene vom Unglückstag, sind für sie nicht von Belang, nur für Anthony, für Alice auch.

Es handelt sich um ein schmales schwarzes Wachstuchheft, das Anthony seither unzählige Male durchgeblättert hat, auf der Suche nach Hinweisen, Erklärungen, das pergamentfarbene Papier fein liniert, Agathas Gedanken darauf festgehalten mit feinem Druckbleistift. Kurze Ausdrücke manchmal, eine Abfolge von rätselhaften Zeichen und singulären Buchstaben jedoch meist nur, Splitter ihrer Ideenwelt, Schleier von Gefühlen, um die zu deuten Anthony sie nie gut genug gekannt hat.

Die letzte Eintragung, die letzte Doppelseite, er kann sie vor sich sehen, wenn er die Augen schließt: Die Fotografie auf der linken Seite, Walt, der die strahlende Agatha auf die linke Wange küsst, beide an den glänzenden Buick gelehnt, und er selbst, Anthony, auf eine Art mit ihnen im Bild, ihr kleiner Junge, der die Sofortbildkamera in den Händen hält und den Auslöser drückt, für eine letzte Erinnerung. Auf der gegenüberliegenden Seite oben das Datum jenes Samstags, darunter in der, wie er sich vorstellt, für Architektinnen typischen klaren, filigranen Schrift:

Walt – Quentin Tarantinos Pulp Fiction;

Agatha – Hugh Grant in Vier Hochzeiten und ein

Todesfall;

Walt gibt nach;

Er liebt seine Agatha, sagt er;

Und obwohl Anthony weiß, dass jede Schuldzuweisung müßig, ja geradezu ungerecht ist, dass er, wenn, dann dem Kinobesitzer Vorhaltungen machen müsste – wobei sich dies mit dessen späterer Verurteilung erübrigt hat –, fragt er sich zwischendurch, wer von beiden nun die Verantwortung trägt dafür, dass er ohne Mutter aufgewachsen ist, ohne Vater, ohne Agatha und Walt.

Ist es Agatha, die unbedingt Hugh Grant sehen wollte, oder ist es Walt, der dem Wunsch seiner Frau nachgegeben hat.

Zwar sind sie beide weder für den Kabelbrand, wie er an jedem anderen Tag und in jedem anderen Kino auch hätte ausbrechen können, noch für die zum Schutz vor sich ohne Eintrittskarte hereinschleichenden Nachbarschaftskindern verriegelten Notausgänge verantwortlich. Doch ihre Diskussion, ihre Entscheidungen gingen dem Unglück voraus, und der Kinomanager wusste nicht, dass er, Anthony, zur Waise würde, würde an genau diesem Abend in genau diesem Kino ein Unglück geschehen, denn falls er es gewusst hätte, vielleicht hätte er dann … Und so fragt sich Anthony manchmal, was wäre wenn, for want of a nail.

Er hat das schmale Bändchen in der Zwischenzeit schon so oft durchgeblättert, dass sich einige Seiten zu lösen drohen, auch heute Morgen hat er es zur Hand genommen, in Gedanken bei Astrid, bei Alice, bei Agatha und Walt.

Als Junge sah er sich in erster Linie die Fotografien an, Aufnahmen von sich selbst, von seinen Eltern, von ihnen zu dritt. Mehrmals täglich nahm er das Tagebuch zur Hand, so sehr fürchtete er, ihre Gesichter zu vergessen, die Farbe von Agathas Augen oder den Ausdruck in denen Walts, wenn er lächelte. Als er älter wurde und jede Fotografie mühelos vor seinem inneren Auge hervorrufen konnte, wenn ihm danach war, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Aufzeichnungen seiner Mutter. Er versuchte, ihre, wie er mittlerweile überzeugt ist, allein ihr bekannte Kurzschrift zu entschlüsseln, die scheinbar sinnlose Abfolge von Buchstaben und Zeichen und Zahlen, getrennt oder verbunden durch Satzzeichen und mathematische Symbole, bis das Semikolon am Ende ihn beinahe in den Wahnsinn trieb.

Sie war noch nicht fertig, Alice, ich weiß einfach, sagte der Teenager Anthony zu seiner Großmutter, ich weiß, dass Agatha noch etwas hat hinzufügen wollen, und jetzt, jetzt werde ich nie erfahren, was es war. Und als sich ihm Agathas geheime Botschaft auch weiterhin entzog, vertiefte er sich endlich in ihre Skizzen, Strichfolgen von Häusern und Landschaften, Gesichter von Menschen, die er nicht kannte. Nur von einer Seite blickte ihm Walt entgegen, daneben dann er selbst.

Von jenem Sonntag jedoch bleibt nichts zurück außer einem großen Gefühl der Leere und, im Nachhinein, die Erkenntnis, dass die süße Zeit mit Alice dieses Mal endlos sein würde. Denn er blieb bei ihr, in ihrem Reihenhaus, zog für immer in das Zimmer mit dem quietschenden Bett und der Fensternische ein, stellte seine Abenteuerbücher neben das Tierlexikon ins Regal und hängte, mit Alices Hilfe, eine vergrößerte Kopie jener letzten Fotografie an die Wand, die er selbst von Agatha und Walt gemacht hatte. Er half Alice, im Herbst die Äpfel desjenigen Baums einzusammeln, in dessen Schatten sie sich an jenem Freitag das Album mit den Alaska-Bildern angesehen hatten, und er begleitete Sarah ins Krankenhaus, als ihr Bruder schließlich tatsächlich auf die Welt kam.

Immer wieder nahm er Agathas Tagebuch zur Hand, auch die Uhr, die er so viele Jahre zu früh von Walt geerbt hatte, und er bat Alice, ihm von ihnen zu erzählen, alle Geschichten, an die sie sich erinnerte und er nicht. Und weil der Schmerz über den Verlust ihn jedes Mal von Neuem überwältigte, war er froh, dankbar, dass es Alice gab, sie kannte den Schmerz, die Angst, sie wusste, wovon er sprach.

All die Jahre, in denen er älter wurde, größer auch – so groß wie Frederick –, in denen er wuchs und lernte und Alice zur Hand ging, während er Bücher las und Dinge erlebte, über die Agatha und Walt nie Bescheid wissen würden, fragte er sich, was sie von ihm, ihrem Sohn, wohl halten würden, ob sie ihn mögen würden, ob sie stolz wären auf ihn. Alice stellte er diese Frage nie, er kannte ihre Antwort bereits, sie wären es, hätte sie gesagt, sie würden dich lieben. Ich liebe dich, sagte sie manchmal.

Und in all den Jahren, in denen es ihm, außer an einer Mutter, an einem Vater, an nichts fehlte, war er immer ehrlich zu Alice, war überzeugt, dass sie es verdiente, dass er ihr das schuldig war. Und er hoffte, dass seine Ehrlichkeit verhinderte, dass Alice sich ungenügend fühlte, wenn es wieder einmal diese Zeit des Jahres war etwa, Frühling, der Jahrestag, und sie gemeinsam über den Friedhof gingen, das noch schwerelose Sonnenlicht der frühen Monate glitzernd auf den taufeuchten Wiesen, Schatten werfend durch die lichten Kronen der mächtigen Eichen, und sie nebeneinander vor dem Grab stehen blieben:

Walter Garp 1962 – 1995

Agatha Garp 1963 – 1995

Wenn Anthony nichts zu sagen brauchte, Alice es schon seiner Haltung, dem Ausdruck in seinen Augen entnehmen konnte, wie sehr er Agatha und Walt trotz allem vermisste.

Eine frühe Erinnerung an sein Leben mit Alice kommt ohne Bilder aus, auch die genauen Umstände sind nicht in seinem Gedächtnis haften geblieben. Er glaubt jedoch nicht, dass er etwas angestellt hat, es muss einen anderen Grund gegeben haben, dass Alice sagte, was sie sagte. Bestimmt hat sie ihn, womöglich am Esstisch, einfach nur lange angesehen, nach Spuren ihrer Tochter in seinem Gesicht gesucht, denn er hört Alices Stimme in seinem Kopf, die sagt, deine Ohrläppchen werden rot, Anthony, wenn du lügst, und deine Nasenflügel zittern, das hast du von Agatha, darum versuch es gar nicht erst, wir werden auskommen miteinander, ich verspreche es dir, wir werden ein Team.

Und ein Team wurden sie, Anthony war nie versucht, etwas vor ihr zu verheimlichen. Selbst dann, als seine Haare lang genug waren, um die verräterischen Ohrläppchen zu bedecken, und er seine Gesichtsmuskulatur so gut unter Kontrolle hatte, dass kein Lehrer je seine Aussagen infrage stellte, konnte er mit Alice über alles sprechen, nie bedrängte sie ihn, ließ ihm den Raum, den er benötigte, kam auf ihn zu, wenn er hilfesuchend die Hand ausstreckte, respektierte die geschlossene Zimmertür, auch wenn sie dahinter sein Weinen vernahm. Sie half ihm über den ersten Liebeskummer hinweg, stand ihm in den Auseinandersetzungen mit David bei, der mit Sarah zusammen war und diese, das war Anthonys Meinung, nicht annähernd so gut behandelte, wie sie es verdiente. Alice ertrug kommentarlos seine fruchtlosen Entschlüsselungsversuche von Agathas Tagebuch und begleitete ihn, wann immer er sie darum bat, in die Unglücksstadt, in das Hotel, zu dem Kino, bei dessen Brand nicht nur Anthony geliebte Menschen verloren hatte, sondern auch sie, Alice.

Der Verlust nage auch an ihr, sagte sie, dass Agatha und Walt sie zuweilen in ihren Träumen besuchten, was sie in den ersten Monaten den Schlaf fürchten ließ. Doch inzwischen freue sie sich auf diese Wiedersehen, vielleicht falle es ihr leichter als ihm, Anthony, nicht an all das zu denken, was noch hätte sein können, da sie die beiden länger gekannt habe, ihr Vorrat an glücklichen Erinnerungen und Bildern größer sei. Sie erzählte ihm davon, von den Erinnerungen und Bildern, antwortete auf alle seine Fragen, und Anthony versuchte, wo immer möglich, ihr diese Hingabe zurückzugeben, indem er ihr zur Hand ging, indem er ihre Regeln akzeptierte, ihre Grenzen, stets offen war und ehrlich, mit all der Liebe, die ein Enkel für seine Großmutter empfinden kann.

Stets offen und immer ehrlich, denkt er, bis Astrid kam.

Das Klingeln des Weckers auf seinem Tisch reißt Anthony aus seinen Gedanken, er weiß für einen Augenblick nicht, wo er ist. Er reibt sich die Augen, ein Pochen in den Schläfen, drückt auf den Aus-Knopf und der Wecker verstummt. Er steht auf und spritzt sich am Waschbecken etwas Wasser ins Gesicht, stellt sich ans Fenster.

Studenten eilen über den Platz, stehen in Gruppen von zwei oder drei, manche noch in Daunenjacken, während andere bereits jetzt, am Vormittag, kurzärmelig sind, die Pullover unter dem Arm, milde Frühlingssonne auf bleicher, wächserner Haut, dahinter die Straße, Autos, stehend im Morgenverkehr, Busse, Fußgänger, die dazwischen über die Fahrbahnen eilen, ein Fahrradfahrer, der nur knapp der Kollision mit einem Lieferwagen entkommt, der gerade in die Auffahrt zum Lieferanteneingang einbiegen will.

Anthony müsste ins Labor zurück, müsste mit dem Experiment weitermachen, die acht Mikroplatten inokulieren. Müsste. Er hat heute früh damit angefangen, hat die verschiedenen Nährmedien nach dem vorgesehenen Schema in die über siebenhundertfünfzig kleinen Vertiefungen verteilt und eine große Flasche mit Agar vorbereitet, die gerade im Autoklav sterilisiert wird. So früh am Morgen, wenn das Gerät über Nacht abgekühlt ist und zuerst aufheizen muss, dauert ein Flüssigkeitszyklus gut zwei Stunden, und so ist Anthony in sein Büro zurück, hat den Wecker gestellt und sich darangemacht, endlich die Bewerbung für das Forschungsstipendium vollständig auszufüllen, die Frist läuft morgen ab. Dann hat Astrid die Mikrobiologin an seine Tür geklopft und ihn gefragt, ob sie das Blatt mit dem Rezept für künstliches Seewasser, das sie für ihre Experimente benötigt, gestern, als sie ihn nach der wöchentlichen Laborsitzung in sein Büro zurückbegleitet hat, bei ihm liegen lassen habe. Was sie nicht hat, er konnte es nicht finden und sagte ihr dies, einmal mehr über den Widerspruch nachsinnend, dass sie, in einem Land, das von einem Meer umgeben und so reich an kleinen, idyllischen Seen ist, das zudem mit Niederschlägen nicht geizt, ihr Seewasser künstlich herstellen muss.

The experiments have to be reproducible, hat sie ihm lachend geantwortet, als er sie in der morgendlichen Kaffeerunde einmal darauf hingewiesen hat, alles auf Englisch, damit auch die anderen verstehen.

Und von Astrid der Mikrobiologin war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu Astrid der Botschaftertochter zu Alice und Agatha und Walt – vergessen damit das Forschungsgeld. Vergessen bis eben, der Wecker, das Labor ruft. Anthony wendet sich vom Fenster ab, verlässt das Büro und schließt hinter sich ab.

Während er die Mikroplatten mit den zwei Bakterienstämmen inokuliert, einem Wildtyp und einem Mutatorstamm, schweifen seine Gedanken immer wieder ab. Er denkt an Alice und dass er sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen hat. Dass er nun über Ostern nicht wie geplant nach Hause fahren kann, sondern zu dieser Konferenz nach Cork reisen muss, weiß sie bereits, das macht nichts, hat sie gesagt, doch sosehr sie sich auch bemüht hat, ganz ist es ihr nicht gelungen, ihre Enttäuschung vor ihm zu verbergen. Spätestens zu Early May Bank Holiday, nimmt er sich vor und denkt im letzten Augenblick noch daran, die Pipettenspitze zu wechseln, vielleicht kann ich freinehmen und für zehn Tage fahren.

Als er die acht Platten fertig hat, misst er die optische Dichte, eine Angabe, anhand derer er später die Größe der Populationen berechnen kann, legt sie dann für die Wachstumsphase in den Inkubator, vierundzwanzig Stunden bei siebenunddreißig Grad, und holt die Agarflasche vom heizbaren Magnetrührer aus dem angrenzenden Raum. Mit einem Blick auf das heutige Protokoll versichert er sich, dass er die richtige Menge Rifampicin auf die Pipette aufgezogen hat, und hält die linke Hand, die wie die rechte in einem engen blauen Latexhandschuh steckt, prüfend an die große Flasche mit dem warmen, noch flüssigen Agar, die vor ihm auf der Laborbank steht: Das Agar darf nicht zu heiß sein, wenn er das Antibiotikum zugibt. Er schraubt den Deckel von der Flasche und schaut zu, wie sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam rot färbt, als sich das Rifampicin schwebend, wolkengleich, darin verteilt, schraubt dann den Deckel zurück auf die Flasche und betätigt gleichzeitig mit dem Fuß den Hebel des Bunsenbrenners, um das Gerät, das sich eben automatisch ausgeschaltet hat, erneut zum Brennen zu bringen.

Er schüttelt die Flasche, bis sich das Antibiotikum verteilt hat und das Agar gleichmäßig rot leuchtet. Dann nimmt er zwei Packungen der großen Petrischalen unter Astrids Laborbank hervor, schneidet die durchsichtigen Beutel auf und platziert die quadratischen Behälter in zwei Stapeln auf seiner eigenen Bank.

Er ist gerade dabei, das noch warme Agar nach Augenmaß so in die Schalen zu gießen, dass der Boden mit vier bis fünf Millimetern der sich beim Trocknen erhärtenden Flüssigkeit bedeckt ist, als die Tür aufgeht und Arden das Labor betritt.

Hi, Arden, sagt er.

Hi, Anthony, sagt Arden und erkundigt sich, wie es Anthony geht. Dann will er wissen, ob Anthony heute Abend auch ins Pub komme, wie immer dienstags, doch Anthony sagt Nein, er habe bereits andere Pläne. Was nicht stimmt, doch nach all den Gedanken an Alice und Agatha und Walt – er kann einfach nicht.

Arden, der in der Nähe von Aberdeen aufgewachsen ist, hat in Edinburgh studiert, arbeitet seither hier im Labor und findet sich daher in der Stadt viel besser zurecht als Anthony, der, außer von der Arbeit her, noch kaum Leute kennt oder Orte, und so ist er eigentlich froh, dass sie manchmal zusammen auf ein Konzert gehen oder eben dienstags ins Pub. Nur heute nicht.

Während Arden auf dem Laborcomputer Musik laufen lässt, Metamorphosis von Philip Glass, und dann an seiner Bank mit der eigenen Arbeit beginnt, stellt Anthony die leere Flasche ab und trägt die Petrischalen, in denen das Agar noch hin- und herschwappt, wenn er nicht vorsichtig ist, zur Abzugshaube auf der gegenüberliegenden Seite des Labors. Nachdem er das Gerät auf half-speed gestellt und die Deckel von den Petrischalen gehoben hat, um das Trocknen zu beschleunigen, verräumt er die Flasche, an deren Boden noch rote Agarreste kleben, schaltet den Bunsenbrenner aus und desinfiziert seine Bank mit achtzigprozentigem Ethanol. Das Protokoll legt er in das Laborbuch; bevor er dieses zuklappt, geht er jedoch noch einmal kurz die letzten und nächsten Schritte durch.

Die Agar-Rifampicin-Platten wird er erst morgen benötigen, um die Bakterienkulturen in den Mikroplatten auf ihre Resistenz gegen das Medikament zu testen. Er hofft, mit diesem Experiment herauszufinden, ob die Mutationen, die in den Bakterien zu Antibiotikaresistenz führen, bereits vorhanden sind, bevor die Organismen dem Medikament ausgesetzt sind, oder ob erst der Kontakt damit notwendig ist, um die Resistenzmutation herbeizuführen. Abgesehen davon, dass Mechanismen, die Bakterienpopulationen Resistenz gegen Parasiten und Antibiotika verleihen, für Evolutionsbiologen – damit also auch für ihn – an sich interessant sind, ist ein breiteres Wissen darüber auch wichtig für die Behandlung von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Lungenentzündungen und verschiedenen sexuell übertragbaren Krankheiten und Grundlage für die Suche nach Lösungen für das Resistenzproblem. Morgen dann beginnt Phase 2 des Experiments, wofür er die Kulturen mit dem pin replicator in neue Platten mit anderen Medien überträgt, um so gegen Ende Woche sowohl über Pre- als auch über Post-exposure-Daten zu verfügen.

Alice hat seine Faszination für diese winzigen Lebewesen nie wirklich verstanden. Du kannst sie ja gar nicht sehen, hat sie einmal gesagt, wie kannst du da hoffen, sie je zu verstehen. Doch sie hat ihm nie Steine in den Weg gelegt. Als er sich mit der Entscheidung für ein Studium schwertat, zwischen Literaturwissenschaften – wie Walt – und Architektur – wie Agatha – schwankte, sagte sie ihm, du musst ihnen nichts beweisen, Anthony, du musst deine Wahl nicht dadurch absegnen, dass du den gleichen Weg einschlägst wie sie. Du hast ja auch nie daran gedacht, Krankenschwester zu werden, nur weil ich eine war. Und als er ihr schließlich eröffnete, er wolle es lieber in einem naturwissenschaftlichen Fach versuchen, nickte sie nur und sagte, wie dein Großvater, wie Frederick.

Er hat ihr hin und wieder erzählt, was sie in den praktischen Kursen machten, und als er sich einmal auf eine Prüfung in Mikrobiologie vorbereiten musste, hat sie ihn abgefragt und ihm mit ihrem medizinischen Wissen zuweilen sogar helfen können. Mit ihrem Hintergrund weiß sie auch über das Antibiotika- beziehungsweise Resistenzproblem Bescheid – über die Gefahren, die vom ungebremst ansteigenden Antibiotika-Verbrauch und der immer größeren Anzahl resistenter Bakterienstämme ausgehen – und kann die Bedeutung seiner Arbeit einschätzen, dass es wichtig ist, den Stoffwechsel der Bakterien selbst und ihre Resistenzmechanismen zu verstehen. Doch Alices Leidenschaft als Krankenschwester galt nie den Keimen, sondern den Patienten.

Sie brauchen meine Pflege, sagte sie immer, die Erreger gedeihen auch ohne mein Zutun.

Diese Erinnerung lässt Anthony schmunzeln, er klappt das Laborbuch zu und legt es in die oberste Schublade zurück. Es ist beinahe Mittag, und nach kurzem Abwägen entscheidet er, das Vorbereiten der Mikroplatten, die er für Phase 2 des Experiments benötigt, auf den nächsten Tag zu verschieben. Er lässt sich heute so leicht ablenken und es würde ihn ärgern, wenn er das ganze Experiment wiederholen müsste, nur weil er sich nicht konzentrieren kann.

I’m off, sagt er zu Arden, der sich über eine Reihe von kleinen Eppendorf tubes und die zur DNA-Extraktion benötigten Hilfsmittel beugt und gar nicht reagiert, als Anthony das Labor verlässt. Er geht in sein Büro zurück, um die Brieftasche zu holen, und kauft sich in der Cafeteria einen Salat, den er an einem sonnigen Platz auf der auch bei den Studenten beliebten Dachterrasse isst. Die Gespräche um ihn herum, die Unterhaltungen in den verschiedenen Sprachen vermischen sich bald mit dem Verkehrslärm zu einer unverständlichen, sinnentleerten Hintergrundmelodie, auf deren Hebungen und Senkungen Anthonys Gedanken unweigerlich zu Alice zurückgetrieben werden.

Für ihn fühlte es sich wie eine Beichte an, als er ihr im vergangenen Sommer mitteilte, er würde sein Doktorstudium gern im Ausland machen, habe bereits ein interessantes Angebot und müsse nur noch zusagen.

Massiven Widerstand hatte er nicht erwartet, doch als sie, ohne vom Gartenweg, den sie gerade jätete, aufzublicken, sagte, gut, worauf wartest du dann noch, blieb ihm dennoch für einen Augenblick die Sprache weg, es war nicht leicht zu akzeptieren, dass sie ihn so einfach ziehen ließ.

Du hast nichts dagegen, fragte er deshalb zurück, hoffte, dass sie aufblickte, ihn ansah, damit er in ihrem Gesicht hätte lesen können, ihre Züge deuten. Doch Alice hielt ihre schiefergrauen Augen fest auf den Boden gerichtet, fuhr mit dem Fugenkratzer die längst unkrautfreien Ritzen zwischen den Steinplatten des Gartenwegs entlang und sagte, als sie mit dem Kratzer an Anthonys braune Lederschuhe stieß, ist noch etwas, wenn nicht, könntest du bitte die Weidenbündel zur Straße tragen, morgen ist Grüngutabfuhr.

Einige Stunden später, als sie nach dem Abendessen auf der alten Bank unter dem Apfelbaum saßen, er den Laptop auf den Knien, sie eine neue Gartenzeitschrift, kam sie doch noch einmal darauf zurück.

Wohin willst du, fragte sie ihn.

Nach Schottland, sagte er, klappte das Gerät zu und legte es neben sich auf die Bank, nach Edinburgh.

Und als Alice darauf lakonisch erwiderte, sure, I see, fühlte er sich zu einer Erklärung genötigt. Ich weiß, dass Walt ein Waisenkind war, Einzelkind dazu – wie Agatha –, dass es also kaum noch lebende Garps geben dürfte, die dort auf mich warten, aber verstehst du denn nicht, erklärte er ungefragt, dass es mich dorthin zieht, dass ich das Land kennenlernen und sehen will, das er gesehen hat, wenigstens für einige Zeit so tun, als könnte er es mir zeigen, als erlebte ich das zusammen mit ihm, ich in seiner Haut, seinen Fußstapfen, mein Blick durch seine Augen, das ist es, was ich suche, Alice, das ist es, was ich will.

Du musst dich nicht rechtfertigen, Anthony, ich verstehe dich sehr gut, doch ich weiß auch, was ein Doktorat bedeutet, ich habe das mit Frederick schon einmal durchgemacht, mit ihm und seinen Insekten, und ich kann dir versichern, dass es nicht einfach ist, nicht einfacher wird, wenn du so weit von zu Hause weg bist, gerade für dich, du musst bereit sein, einen Teil von dir aufzugeben, du lässt Freunde hier zurück, David, Sarah, andere, und man wird Hingabe von dir erwarten, ich fürchte, dir wird kaum Zeit bleiben und Raum, dich um deine, um Walter Garps Vergangenheit zu kümmern. Sie seufzte und fügte hinzu, das ist es, Anthony, was mir Sorgen macht.

Anthony ließ die Luft entweichen, die er während ihrer Rede angehalten hatte, jetzt war er es, der sagte, I see.

Im schwindenden Licht des Sommerabends suchte er Alices Blick, der hart war und ungewöhnlich kalt, er zog die Kerze auf dem Tisch zu sich heran und spielte mit dem warmen Wachs.

Er ging trotzdem, natürlich, und rechtfertigte die Entscheidung sich selbst gegenüber nicht mit jugendlichem Ungehorsam, sondern bezeichnete sie als weisen, reifen Schritt in eine Zukunft, die er selbst für sich gewählt hat, Forschung findet nicht daheim im Garten statt.

Dass Alice ein Stück weit recht behielt, wissen sie beide, dass er noch nicht angekommen ist hier in Edinburgh, dass er Sarah und David vermisst, auch Alice, ihre stundenlangen Gespräche, ihr Schweigen beim Gang über den Friedhof zum Grab. Es fällt ihm schwerer als angenommen, neue Leute kennenzulernen, an der Sprache liegt es nicht, eher schon an einer angeborenen Zurückhaltung, seiner Scheu, auf Unbekannte zuzugehen. Das war zu Hause einfacher, wo er oft in Sarahs und Davids Windschatten segelte, sich an ihren Rockzipfel hängte, wie Alice manchmal zynisch bemerkte, doch wenigstens war immer jemand da, wenigstens hat er sich nie einsam gefühlt.

Es ist eine feine Linie, die die Einsamkeit vom Alleinsein trennt, doch Anthony zieht sie, verteidigt sie, fühlt sich zu Hause auf dieser Seite, verloren, haltlos auf jener. Und jetzt, hier, befindet er sich allzu häufig auf der Seite der Einsamkeit, allzu oft erstrecken sich die Abende leer vor ihm, die Tage, Wochen, kein Ende in Sicht, wenn er nach der Arbeit im Labor über das Universitätsgelände schlendert, auf dem Heimweg im Bus, zurück zu den Zimmern, die er von Mrs Blaylock immer nur für einen weiteren Monat mietet, da er sich nicht entscheiden kann, wo und wie er hier eigentlich wohnen will.

Mrs Blaylock ist eine ältere Dame, die seit dem Tod ihres Mannes – Mr T. W. D. Blaylock, wie sie ihm bei ihrer ersten Begegnung stolz verkündet hat, ganz offensichtlich in der Erwartung, Anthony werde angesichts dieses Namens Ehrfurcht empfinden – in einem Flügel ihres weitläufigen Apartments in der New Town verantwortungsbewusste, ruhebedürftige und nicht zuletzt zahlungswillige Mieter aufnimmt.

Catherine Blaylock erwies sich, sofern sie überhaupt in der Stadt war, als angenehme Mitbewohnerin, womit gemeint ist, dass sie ihn in Ruhe lässt; was allerdings auch bedeutet, dass sie erwartet, selbst ebenfalls in Ruhe gelassen zu werden. Und so fragt Anthony niemand nach seinem Befinden, wenn er abends nach Hause kommt, hin und wieder erwartet ihn eine Notiz von Mrs Blaylock – baked fresh scones today, serve yourself oder I will be absent next week, please collect my mail – oder sie lädt dazu ein, sich mit ihr ihre allabendliche Serie anzusehen, ein Ritual, während dessen absolutes Redeverbot herrscht. Doch darüber hinaus ist er in den Stunden, die er in der Wohnung verbringt, meist auf sich allein gestellt.

Die wöchentlichen Telefongespräche mit Alice werden zur Qual, da Anthony fürchtet, sie höre es seinem Tonfall an, das Heimweh, und gleichzeitig sehnt er ihre Anrufe herbei, freut sich, ihre Stimme zu hören, was sie zu erzählen hat. Sie fragt immer viel, erkundigt sich nach seinem Arbeitsplatz, ob die Kollegen nett seien, sie will wissen, wie er mit dem Linksverkehr klarkommt und ob es Neuigkeiten von seinen Nachforschungen zu Walts Vergangenheit gibt und auch, ob er schon neue Freunde gefunden hat.

Das nun ist der Zeitpunkt, wo alles schwierig wird, es heißt Auftritt Astrid, Tochter des Botschafters.

Dich stört nicht, wenn ich mich sitze hier, sagt Don in gebrochenem Deutsch, schiebt die leere Verpackung von Anthonys Salat beiseite und legt ein dickes, in Alufolie eingeschlagenes Paket auf den Tisch. Don ist klein und dick und ein Amerikaner, der sich auf sein eines Semester Highschool-Deutsch zu viel einbildet und glaubt, Anthony schätze es, sich mit ihm in seiner Muttersprache zu unterhalten. Anthony tut dies nicht, es gibt Astrid, mit der er Deutsch sprechen kann, Schweizerdeutsch sogar, und er hat es sich darum zur festen Gewohnheit gemacht, in gemeinsamen Gesprächen mit Don, sofern sich diese nicht vermeiden lassen, konsequent Englisch zu sprechen. Doch im Allgemeinen versucht er, wo immer möglich, dem aufdringlichen, ungepflegten Mann aus dem Weg zu gehen; auf Dons Gesellschaft legte er selbst dann keinen Wert, wenn er dadurch seiner Einsamkeit entkäme, und er ist mit dieser Haltung nicht allein.

Was Don hier zu suchen hat, in ihrem Labor, an der Hochschule allgemein, ist ein bis dato ungelöstes Rätsel, da er, um es in Ardens Worten auszudrücken, nicht ein Reiskorn an Intelligenz besitzt und niemand so recht glauben will, dass an den Gerüchten, er sei der uneheliche Sohn des Fakultätsvorstehers und nur dank des Verhandlungsgeschicks seiner Mutter in seine aktuelle Position gelangt, tatsächlich etwas dran ist.

Don muss nicht erst auf Anthonys Zustimmung warten, sein Selbstbild und sein Verstand lassen Nein als mögliche Antwort nicht zu. Er zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor und setzt sich Anthony gegenüber hin, lässt währenddessen den Blick aus seinen rattenhaften, gelben Augen unstet über Anthony, die Studenten im Hintergrund und schließlich das Alufolienpaket vor sich gleiten, als versuche er, die Wahrscheinlichkeit eines Überfalls auf seine mittägliche Ration an gesättigten Fettsäuren und Cholesterin abzuschätzen.

Don’t worry, denkt Anthony, von mir droht keine Gefahr, als Don, mit dem Kiefer bereits Kaubewegungen ausführend, als seien aufgewärmte Gelenke Voraussetzung für das Mahl, mit ungeahnter Sorgfalt sein Lunchpaket von der Alufolie befreit: Mehrere Scheiben dick mit Käse überbackener Schinkentoast kommen zum Vorschein. Fasziniert sieht Anthony zu, wie ein Toast nach dem anderen in Dons Mund verschwindet, der Amerikaner scheint gar nicht kauen zu müssen, Anthony kommt es vor, als atme er auch nicht, als habe er willentlich alle anderen Körperfunktionen ausgeschaltet und sei nun nur noch Maul, nur noch Kauapparat, der Schluckvorgang ein notwendiges Übel, um erneut Platz zu schaffen für einen Toast; Anthony wird schlecht.

I’m sorry, sagt er zu Don, I have to go, und er steht auf und eilt über die Terrasse und durch die Korridore in sein Büro zurück.

Das blinkende Telefondisplay signalisiert, dass drei unbeantwortete Anrufe eingegangen sind, er erkennt die Nummer, es war Alice – die darauf besteht, auf das Festnetztelefon anzurufen, während der Arbeit ebenso wie bei Mrs Blaylock, und das Gleiche von ihm verlangt.

Ich weiß gern, wo du bist, wenn ich dich erreiche, ich möchte es mir vorstellen, sagt sie.

Ruft er von seinem Mobiltelefon an und sie erkennt die Nummer auf dem Display, reagiert sie nicht, er hat es versucht. Anthony macht sich jedes Mal Sorgen, wenn er ihre Anrufe verpasst, das geschieht nur, wenn sie ihn außerhalb der vereinbarten Zeiten oder, wie eben, auf der Arbeit anruft, was sie gewöhnlich nicht tut.

Dass sie ebenfalls nicht ans Telefon geht, als er sie jetzt zurückruft, verstärkt seine Unruhe nur. Sie ist womöglich im Garten, beruhigt er sich, sie hört einfach das Klingeln nicht. Doch die Sorge, es sei ihr etwas passiert, sie sei die Treppe hinuntergefallen vielleicht, habe sich den Kopf gestoßen und liege nun bewusstlos und allein an deren Fuß, bleibt, ein Knoten in seiner Brust, der gut geschützt irgendwo hinter dem Brustbein sitzt und ihm die Atmung abschnürt.

Kurz nach Weihnachten nahm Alice plötzlich eine unangenehme Gewohnheit an. Sie führte eine neue Art ein, ihre Telefongespräche, nachdem er ihre Fragen zu Arbeit und Freunden, zu Linksverkehr und Walts Vergangenheit mit den knappen, wahrscheinlich enttäuschenden, jedoch einzigen möglichen ehrlichen Entgegnungen beantwortet und auch sie ihm erzählt hatte, was es zu erzählen gab, noch einmal neu zu beleben.

Das natürliche Schweigen, das an dieser Stelle in einer Unterhaltung entsteht, hätte Anthony nicht aus der Ruhe gebracht, wenn er nicht mit der Zeit gewusst hätte, welche Frage Alice danach noch stellen würde. Ob Alice in den zehn, manchmal zwanzig Sekunden, die jeweils vergingen, bis sie wieder zu sprechen begann, das Für und Wider des Stellens dieser Frage abwog, ob sie ahnte, wie unwohl es ihm dabei war, weiß Anthony nicht, doch die neue Gewohnheit einmal angenommen, ließ sie nicht wieder davon ab, bis –

Bis sie die Frage ein letztes Mal stellte, danach bestand dafür keine Notwendigkeit mehr; es gab jetzt ja schließlich Astrid.

Es war Anfang Februar und sie hatten ihr wöchentliches Telefongespräch ausnahmsweise auf den Mittwochmittag verlegt, statt, wie üblich, abends zu telefonieren, da Alice für eine Woche in den Süden fahren wollte; um kurz nach zwei ging ihr Zug.

Anthony saß in seinem Büro auf dem Fenstersims, Schneefall draußen, stockender Verkehr, vereinzelt Fußgänger, die sich still ihren Weg durch das sanfte Weiß bahnten. Das einzige Geräusch fremde Schritte auf dem Korridor, durch die angelehnte Tür.

Er hörte Alice nur mit halbem Ohr zu, abgelenkt von den Gedanken an das Referat, das er in kaum einer Stunde vor der versammelten Laborgruppe über seine Arbeit würde halten müssen. Ihm entgingen so die zehn, vielleicht zwanzig Sekunden des Schweigens, in denen er sich sonst jeweils eine ausweichende Antwort zurechtlegte. Dann, gleichzeitig mit Alices Frage, ein Klopfen, der Kopf von Astrid der Mikrobiologin erschien zwischen Rahmen und Tür, und sie fragte – auf Deutsch, da sie allein waren, niemand außer ihnen musste verstehen –, ob sie ihn nachher abholen solle, damit sie zusammen zu der Sitzung gehen könnten.

Anthony deutete auf den Telefonhörer an seinem Ohr und antwortete mit einem knappen Jaja.

Astrid die Mikrobiologin verschwand wieder, und Alice sagte in freudigem Ton, jetzt tu doch nicht so, das ist doch schön, Anthony, wie heißt sie denn.

Es war nur ein Laut, den Anthony von sich gab, ein lang gezogenes Aaah… Doch war es zuerst ein Aaah… des Nichtverstehens, wandelte es seine Natur in Sekundenschnelle über ein Aaah… der Erkenntnis in eines der verzweifelten Machtlosigkeit.

Aaah…, sagte er, als ihm klar wurde, dass er mit seinem an Astrid die Mikrobiologin gerichteten Jaja zugleich auch die ungeliebte Frage beantwortet hatte, von der Alice nicht mehr abließ, hast du eine Freundin, hast du jemanden kennengelernt, bedrängte sie ihn. Und weil das Ja ausgesprochen, weil die Freude in Alices Stimme so deutlich zu vernehmen war, weil er es nicht übers Herz brachte, ihr diese Freude so kurz vor der Reise gleich wieder zu nehmen, und ihm dazu auch kaum mehr die Zeit geblieben wäre – das Taxi muss jeden Moment hier sein, hatte Alice vor den zehn, vielleicht zwanzig Sekunden des Schweigens noch gesagt –, ließ er das mittlerweile gequälte Aaah… im vollen Bewusstsein, dass er damit den feigen Ausweg wählte und dass damit sein Grundsatz der bedingungslosen Ehrlichkeit Alice gegenüber nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden würde in …strid münden, Astrid heißt sie, sagte er.

Wie schön, Anthony, ich freue mich ja so, Alices Entzückung bereitete Anthony beinahe körperliche Schmerzen, ich muss jetzt los, fuhr sie fort, doch sobald ich wieder zurück bin, musst du mir alles erzählen.

Sein Vortrag wurde zum Desaster, er vergaß seinen Text, hielt den Blick starr auf einen Punkt über den Köpfen seiner Zuhörer gerichtet, mit den Gedanken bei Alice, im Zug nach Süden, und als ihn Sebastian, ihr Chef, am Ende der Sitzung zurückbehielt und ihn fragte, was los sei, wich er aus und sagte, er habe Kopfschmerzen, I feel feverish, maybe I get the flu.

Und er fühlte sich tatsächlich nicht gut, blieb die darauffolgenden Tage zu Hause, das Schuldgefühl nagte an ihm. Er begann, Briefe an Alice zu schreiben, ich habe keine Freundin, Astrid hat nie existiert, jedenfalls nicht so, wie du denkst – hoffst –, ich habe nicht gelogen, doch …, es tut mir leid, nur um sie ausnahmslos nach ein paar Zeilen zerknüllt in den Papierkorb zu werfen, er schaffte es nicht.

Das Telefon, das Anthony immer noch in der Hand hält, klingelt. In der festen Überzeugung, es sei Alice, nimmt er ab, hallo, sagt er, ist etwas passiert.

Is that you, Anthony, sagt Arden, is something wrong.

Nein, es sei alles in Ordnung, versichert Anthony, jedenfalls fast, und so fragt Arden weiter, did you lately use the chloroform, it is not where it should be.

Da könne er ihm nicht helfen, antwortet er, er wisse nicht, wo das Chloroform sei, maybe Christine does.

Arden bedankt sich und legt auf, Anthony drückt die Taste der Wahlwiederholung, Alice nimmt immer noch nicht ab. Viertel nach drei schon, liest er von Walts Uhr an seinem Handgelenk ab, und ich habe heute erst so wenig getan, wegen Alice, wegen Astrid, wegen Agatha und Walt, das Dossier für die Bewerbung ist noch immer nicht fertig zusammengestellt. Er setzt sich vor den Computer – ein neuer Versuch –, nur um sogleich von dem kleinen Kasten des Mailprogramms abgelenkt zu werden, der ihn informiert, New mail has arrived, worauf er auf die Schaltfläche klickt, sodass sein Posteingang auf dem Bildschirm auftaucht, er sieht, es sind dreiundzwanzig neue Nachrichten.

Eine weitergeleitete Stellenausschreibung von Sebastian, Fwd: A job for super souls; er drückt Delete. Róberta informiert über die Details der Lab Easter Party, wer Salate bringt und wer Desserts und dass the meat comes from very happy animals from around where I grew up; er drückt Delete.

Die Ankündigung Today lab K17 closed from 2 – 4:30 pm folgt den vorigen Nachrichten ebenso wie die Mail von Konrad, cake attack! No 2, und achtzehn andere, es geht ihn alles nichts an.

Die einzige Nachricht, die Anthony behält, ist der negative Bescheid eines weiteren Waisenhauses, sorry, we do not have any records relating to one Walter Garp born 1962, good luck with your further inquiries, kind regards, es ist die sechste Rückmeldung dieser Art, es ist, als hätte sein Vater nie existiert.