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Über den Autor:

Heinz Löbel, Jahrgang 1962, lebt und schreibt am östlichen Ausläufer des Wienerwaldes und am südlichen Berghang des Göllers.

Der Roman »Herbstfarben« ist nach »Atlantis I« und »Atlantis II« seine dritte Veröffentlichung.

HEINZ LÖBEL

HERBSTFARBEN

© 2017 Heinz Löbel

Autor: Heinz Löbel

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99057-696-0 (Paperback)
978-3-99057-697-7 (Hardcover)
978-3-99057-698-4 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Ich ziehe deshalb den Herbst dem Frühjahr vor,
weil das Auge im Herbst den Himmel,
im Frühjahr aber die Erde sucht.

Søren Aabye Kierkegaard

»Jetzt erst fiel ihm auf, dass es draußen dunkel geworden war, und man die Bläue des Herbstes gar nicht mehr fest… …Bläue des Herbstes gar nicht mehr fest… …Bläue des He…«

Meinhard sprang auf und schob den Hebel des Plattenspielers, der daraufhin die Vinyloberfläche vom stolpernden Tonabnehmer befreite, mit einem Ruck nach hinten. Als ob die Mechanik seinem Befehl nur zögerlich gehorchen wollte, hob sich die Nadel mittels pneumatischer Unterstützung äußerst langsam und stoppte die Wiederholung. Der an seine Stütze zurückgeführte Tonarm verursachte ein leises Knacken, das den Motor anhielt und den Plattenteller schwerfällig auslaufen ließ. Meinhard nahm die Oberfläche der schwarzen Scheibe genau in Augenschein. Ganz tief bückte er sich hinunter, um im schräg einfallenden Licht der Stehlampe die möglichen Verursacher der hängengebliebenen Abspielung zu finden. Doch kein Kratzer, kein Fussel, ja nicht einmal ein Staubkorn war auf den Rillen zu entdecken. Verwundert stellte er die Auflagekrafteinstellung des Tonarms ein wenig höher und führte diesen mit ruhiger Hand etwa zur Mitte der Langspielplatte. Die Scheibe begann, sich zu drehen, und als er den kleinen Hebel wieder in die vordere Position brachte, senkte sich die Abtastnadel gemächlich zu den Rillen hinab.

Meinhard setzte sich und lauschte. Es funktionierte. Klaviertöne hoben an und verklangen wieder, dann folgte Applaus. Es war echter Beifall – die Honorierung des Publikums für eine gelungene Darbietung – nicht so, wie in den modernen Sitcoms, bei denen, obwohl es sich nicht um Live-Übertragungen handelt, Gelächter und Applaus eingespielt werden. Vermutlich geschah dies, um dem Fernsehpublikum anzudeuten, dass die vergangene Szene hätte lustig sein sollen.

Zur Zeit dieser Plattenaufnahme André Hellers – es musste Mitte der Siebziger gewesen sein – da gab es noch echtes Publikum und echten Applaus. Das Klatschen erstarb, und der Künstler kündigte eine Geschichte an, wie er sagte, »als Beitrag zu einer Zeit, die es langsam wieder lernt, Zwischentöne zu hören«.

Die es langsam wieder lernt… – dachte Meinhard. Seit diesen Worten waren vierzig Jahre vergangen, und die Zeit hatte nichts gelernt, die Zeit nicht und die Menschen nicht.

Die Geschichte begann, und Meinhard hörte genau hin und achtete darauf, die Stelle nicht zu versäumen, bei der die Abspielung sich dauernd wiederholt hatte.

»Jetzt erst fiel ihm auf, dass es draußen dunkel geworden war, und man die Bläue des Herbstes gar nicht mehr feststellen konnte.«

Geschafft! Der Schaden war behoben!

»Es ist dunkel geworden, und man kann die Bläue des Herbstes gar nicht mehr feststellen – sagte er«, sagte André Heller, und Meinhard fürchtete, dass abermals die Diamantnadel ihre Spur verlassen hatte, bis er begriff, dass jene Wiederholung gewollt war.

Meinhard folgte der Erzählung. Es ging um einen gewissen Paul und seine Mutter sowie deren beider tollpatschigen philosophischen Betrachtungen, die zum Nachdenken, zum Grübeln und zum Depressivsein anregten. Meinhard musste dazu nicht animiert werden.

Bald nahm er nur mehr bruchstückhaft und wie aus weiter Ferne die Stimme des Künstlers wahr, der sich nun einem Chanson widmete, das vom Klavier begleitet wurde. Seine Gedanken drehten sich um das eben Gehörte: Mutter, Traurigkeit, fehlendes Glücklichsein, Verzweiflung. Er dachte an seine Mutter, die er vor ein paar Jahren begraben hatte. 89 Jahre alt war sie gewesen – 89 Jahre voller Fürsorge und Liebe, voller Traurigkeit und Verzweiflung.

Was würde die Mutter tun? Was würde sie sagen, wenn sie ihren einzigen Sohn so sähe? Würde sie bestärkt sein in ihrer Liebe oder würde sie bestärkt sein in ihrer Verzweiflung? Würde sie sich selbst verantwortlich machen oder die Umstände?

Oder ihn? Meinhard?

Mit einem tiefen Seufzer, den er machte, um sich selbst seine Resignation darzustellen, der ihn jedoch wider sein Erwarten entspannte und seltsam beruhigte, lehnte er sich zurück in seinen Lieblingsstuhl. Seine linke Hand entsperrte die Arretierung an der Armlehne des Sessels, um den Rückenteil schräg, ja fast in Liegeposition zu bringen. Die Rechte umschloss weiterhin den kalten Stahl der Waffe.

Die Mechanik des Sessels war ausgeleiert. Die Bolzen fanden nicht gleich die von Meinhard vorgesehenen Widerstände, und trotz erfolgter Feststellung gab die Rückenlehne noch ein, vielleicht zwei Zentimeter nach, bevor sie sich stabilisierte. Der kurze Moment genügte, um Meinhards Gleichgewicht heftig zu irritieren. Ruckartig musste er seine Bauchmuskeln anspannen, um den vermeintlichen Fall ins bodenlose Nichts zu vermeiden. Es tat weh! Und wie! Der Schmerz bohrte sich von seinem Nabel ausgehend tief ins Innere seiner Eingeweide. Wie fortwährend wiederkommende Wellen brandete das quälende Gefühl an seinen Gedärmen und verlor sich erst nach endlos scheinenden Sekunden irgendwo in der Nierengegend. Meinhard wollte abermals seufzen, um die eben verspürte Entspannung erneut herbeizuführen, doch stattdessen drückte der tiefe Atemzug das Zwerchfell nach unten und verursachte eine weitere Schmerzattacke. Flach und schnell atmend wie eine Gebärende, wartete er auf das Abflauen der Qual und hatte sich nach wenigen Atemzügen, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, wieder unter Kontrolle. Zumindest körperlich. Seine Gedanken jedoch entzogen sich jeglicher einengender Zensur.

Wo war er stehen geblieben? Ach ja, bei seiner Mutter! Vermutlich wäre sie der einzige Mensch, der ihm in dieser Situation die Waffe aus der Hand genommen hätte.

Liebevoll.

Fürsorglich.

Traurig.

Und verzweifelt.

Kein anderer Mensch fiel ihm ein, kein Verwandter, kein Freund, kein flüchtiger Bekannter, den sein Vorhaben nicht herzlich gleichgültig gelassen hätte. Kurz huschten seine Frau und die drei bis vier Kinder durch seine Gedanken.

Maria, seine Frau, hatte ihn verlassen. Tot.

Andreas sein Sohn war weg. Tot.

Karoline, seine jüngere Tochter, ermordet. Tot.

Khalid, sein früherer Sohn, im Gefängnis.

Manuela, die ältere Tochter, ja, sie lebte irgendwo, irgendwie, vielleicht auch mit irgendwem. Nur vage erinnerte er sich an ihr Aussehen.

Er blendete sie alle wieder aus. Sie hatten ihn verlassen, ihn allein gelassen in seinem Schmerz, in seinem aussichtslosen Kampf mit dem Tod.

»Soll er sich doch umbringen der alte Trottel!«, würden sie sagen.

Mitleidlos.

Gefühllos.

Teilnahmslos.

Brieflos.

»Brieflos«, dachte Meinhard belustigt, und ein kleines Lächeln huschte über seine Wangen.

Brieflose, das waren diese kleinen Lotteriegewinnzetteln, die man in der Trafik um einen Euro kaufen konnte. Der Staat hatte dadurch eine attraktive Einnahmequelle. Pro Auflage wurden in Summe über drei Millionen Euro als Gewinne ausgeschüttet, Meinhard hatte es vor einiger Zeit ausgerechnet. Eine Serie bestand allerdings aus über sechs Millionen Losen, das ergab einen Umsatz von sechs Millionen Euro. Unterm Strich blieb dem Vater Staat, der das Monopol auf jegliches Glücksspiel rechtskräftig gepachtet hatte, ein satter Gewinn. Deppensteuer nannte man daher die hochprozentig unsinnige Geldverschwendung für den Kauf von solchen Losen. Riss man zu beiden Seiten des gefalteten Briefchens die Randstreifen entlang der Perforierung ab, klopfte das Herz ein bisschen schneller. Ein wenig Aufregung war stets dabei, ein winziger Funken Hoffnung, dass diesmal vielleicht doch …

Die Ernüchterung kam, sobald man das vierteilige Zettelchen auseinanderfaltete. Mit einer fünfzigprozentigen Chance las man: »XXX=LEIDER-KEIN-GEWINN!=XXX«. Jedoch in einem Drittel der Fälle stand zu lesen: »XXX==1,-EURO==XXX«. Sollte einem derartiges Glück ereilen, dann tauschte man diesen Gewinn gegen ein weiteres Los, um dann schlussendlich ein »XXX=LEIDER-KEIN-GEWINN!=XXX« zu öffnen. Das große Geld auf diese Weise machen zu wollen war hoffnungslos.

Zwecklos.

Brieflos.

Meinhards sonst verbissene und auf Grund seiner regelmäßigen Koliken oft schmerzhaft verzerrte Miene war plötzlich entspannt, als er amüsiert über die Doppeldeutigkeit dieses Wortes nachdachte.

Nein, nein, brieflos, also ohne Brief, ohne Abschiedsbrief, so wollte er aus dieser Welt scheiden.

Die alte Pendeluhr, die schon Meinhards Großmutter die Zeit angesagt hatte, zeigte wenige Minuten nach 9 Uhr. Wann ist denn der beste Zeitpunkt, die beste Tageszeit, um sich das Leben zu nehmen? 9 Uhr 30? 12 Uhr mittags? High noon? Oder ist es letztendlich vollkommen egal? Die Blase meldete einen Füllungszustand, der zur Entleerung drängte. Diesem Umstand wollte er wenigstens noch nachgeben, bevor er weiter überlegte oder gar zur Tat schritt. Keinesfalls wollte er als Leiche mit nasser Hose gefunden werden.