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Kapitel 2: Nachmittagsflug

Sophie

Sophie bog im Laufschritt um die Ecke der Lindwurmstraße, wo sie seit einigen Jahren mit ihren Eltern, Oma Aenne und ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Simon wohnte. Sie war fast den ganzen Weg gerannt – so schnell wie schon lange nicht mehr. Sophie hasste rennen. Sie hasste es vor allem, wenn ihr Kopf heiß und rot wurde und sie zu schwitzen begann. Sie hasste es, wenn ihre Haare wirr am Kopf klebten. Sie hasste es, nach Schweiß zu riechen, und sie hasste es, deswegen so oft duschen zu müssen. Am liebsten hätte sie vollständig auf ihren Körper verzichtet. Wieso musste sie so viel Zeit mit duschen, Haare waschen, umziehen, Friseur, Klamotten kaufen und so weiter verplempern, wenn sie mit ihrem Spiegelbild sowieso nie zufrieden war?

Gewöhnlich bewegte sie sich am liebsten überhaupt nicht, sondern zog sich lieber mit einem Buch unter ihre Decke zurück. In Büchern geschah immer etwas. Dort lebten die Menschen, sie erlebten etwas. In der sogenannten realen Welt war man gefangen in einem Körper, der nicht recht passen wollte, in einer Geschichte, die man nicht unbedingt mochte und die meist langweilig dahinplätscherte oder einfach nur nervte. Heute allerdings war in der realen Welt doch etwas geschehen. Sophie warf sich auf ihr Bett. Was war da eben auf dem Schulhof passiert? Was hatte sie getan?

Um nicht mitten in ihren Gedanken gestört zu werden, schob sie die schwere Kommode, die ihr Zimmer zu einem großen Teil ausfüllte, vor die Tür. Im Hause Stifter gab es keine Schlüssel und damit auch keine Privatsphäre. Nachdem sich Simon vor Jahren in seiner Trotzphase (Hatte er sich jemals in einer anderen befunden?) auf der Toilette eingeschlossen hatte und man die Feuerwehr holen musste, um ihn wieder zu befreien, waren die Schlüssel verschwunden. Seit diesem Moment gab es keinen Simon-sicheren Ort mehr. Selbst ins Bad stürmte er ab und zu und erschreckte Sophie beim Duschen. Sobald sie das Haus verließ, waren ihr Zimmer und ihre wenigen persönlichen Schätze schutzlos ausgeliefert.

Immerhin gelang es ihr, die alte, tonnenschwere Kommode zu verrücken, und so für das Rückzugsgebiet zu sorgen, das sie dringend brauchte. Denn im Moment wollte sie nur in Ruhe nachdenken. Alles hatte mit Milan und den beiden anderen Idioten angefangen und mit großer Wut. Das war ein neues und sehr starkes Gefühl gewesen. Dann hatte sich ein rotgoldener Schleier über ihre Augen gelegt und das Blut laut in ihren Adern pulsiert.

Während sie die Situation in ihrem Kopf noch einmal durchspielte, um eine Erklärung für ihr seltsames Verhalten zu finden, spürte sie es wieder. Die rotgoldenen Schlieren kehrten zurück, ebenso wie ihre Wut und der überlaute Herzschlag, der in ihren Ohren dröhnte.

»Mann, das ist doch krank«, sagte sie zu sich selbst und schloss die Augen. In ihrem Kopf brummte es höllisch. Ich habe bestimmt Fieber. Aber für Fieber war ihr eigentlich viel zu kalt. Gerade breitete sich eine hässliche Gänsehaut an ihren Oberarmen aus. Sie zitterte. Und als sie die Augen wieder öffnete, sah sie auch, wieso.

Statt in ihrem Bett zu liegen, schwebte sie in enormer Höhe über dem Haus ihrer Eltern. Sie erkannte es an dem hässlichen grünen Plastiksichtschutz rund um den kleinen Balkon. Schon oft hatte sie sich die Satellitenbilder ihrer Heimatstadt im Netz angeschaut und so lange sie sich erinnern konnte, träumte sie davon, über den Dächern zu schweben und einfach alles hinter sich zu lassen.

Jetzt gerade träumte sie anscheinend auch. Seltsam, eben in ihrem Bett war sie doch hellwach gewesen und hier oben fühlte sich auch nicht anders. Konnte man im Schlaf überhaupt darüber nachdenken, ob man träumte? Dieser Traum war realistischer als alles, was sie jemals zuvor in Träumen erlebt hatte – und gleichzeitig auch wieder nicht. In früheren Träumen war sie auch schon geflogen. Meistens konnte sie die Welt unter sich ganz genau erkennen wie auf Luftaufnahmen im Internet. Heute jedoch sah sie alles durch eine Art rotgoldene Brille. Die rotgoldenen Schlieren waren einer gleichmäßigen, angenehm sonnigen Tönung gewichen – als hätte sie eine leicht gefärbte Sonnenbrille aufgesetzt. An den Rändern ihres Gesichtsfeldes war das Rot dunkler, wie eine getönte Autoscheibe, und zugleich leicht unscharf. Allerdings war ihr Blickfeld viel größer als sonst. Sophie wusste nicht genau, wie das möglich war, aber sie sah viel mehr von dem, was seitlich hinter ihr lag. Kurz schoss ihr durch den Kopf, was sie in Biologie über das Sehen von Pferden gelernt hatten. Aber Pferde hatten ihre Augen seitlich am Kopf und nicht nach vorn gerichtet wie ein Mensch. Dieser merkwürdige Rundumblick war jedenfalls nicht normal.

Die Rottönung wurde allmählich schwächer und Sophies Blick war so klar, dass sie selbst winzigste Details erkennen konnte, die ihr normalerweise verborgen geblieben wären. Zum Beispiel sah sie die Federn eines Vogels, der weit entfernt an ihr vorbeiflog, gestochen scharf. Nicht einfach schärfer als ein menschliches Auge, sondern sogar noch viel schärfer als auf jedem Super-HD-Fernseher, mit dem die Elektronikmärkte versuchten, ihre Kunden zu beeindrucken. Irritierend war vor allem, dass sie auch auf große Distanzen dreidimensional sehen konnte. Sophie erkannte nicht nur jede feine Einzelheit in der Struktur jener Feder, sondern erfasste auch genau ihre Entfernung zu der benachbarten Feder und zum Körper des Vogels.

Zu ihren verblüffenden optischen Fähigkeiten kamen viele andere erregende Sinneseindrücke. Noch nie hatte Sophie so deutlich die klare Frühlingsbrise auf ihrer Haut gespürt. Jede Luftbewegung schien mit Informationen gespickt zu sein: Aufwinde, Abwinde, Luftlöcher, Gefahrenstellen, drohende Unwetter. Unfähig zu denken oder einen Laut von sich zu geben, ließ Sophie die Wahrnehmungen durch sich hindurchfluten und genoss es, sich von der Woge verschiedenster Empfindungen mitreißen zu lassen. Düfte umschwirrten sie: elegante Düfte von weit entfernten Blüten, leckere Essensgerüche und ekelerregender Gestank von Autos und Schornsteinen.

Trotz der widerlichen Anteile des Geruchcocktails liebte Sophie diesen ungewöhnlichen Traum. Es war wunderbar hier oben. Sonst waren ihre Träume nicht so angenehm. Zwar war Sophie darin schon häufig geflogen, aber soweit sie sich erinnerte, war ihr das Fliegen stets alles andere als schön vorgekommen und oft genug hatte sie verzweifelt versucht, einer Horde dunkler Angreifer zu entkommen. Bewegungsunfähig hing sie dann in der Luft und die Gegner fielen über sie her oder sie stürzte in eine bodenlose Tiefe. Sophies Feinde waren immer dieselben schrecklichen Wesen: schwarze Gestalten mit fiebrig glänzenden Augen, eindeutig einem Horrorfilm entsprungen. Allerdings wusste Sophie nicht, welchem.

Bisher hatte sie sich vor den Attacken ihrer Traumgegner nur retten können, indem sie schweißgebadet erwachte und vermied, noch einmal einzuschlafen. Nach solchen Albtraumnächten war sie am Morgen in der Schule zu nichts zu gebrauchen. Als sei all ihre Energie verloren gegangen, schleppte sie sich durch den Tag und war schon froh, wenn sie den richtigen Unterrichtsraum fand und sich an den Namen des jeweiligen Lehrers erinnerte. Auf Albtraumnächte folgten zwangsläufig Albtraumtage.

Heute jedoch war der Traum sonnig und überhaupt nicht furchterregend – vielleicht, weil es Nachmittag war. Sie war nicht auf der Flucht und hatte keine Angst, hing einfach in der Luft und genoss das gute Gefühl, das sich in ihr ausbreitete – fernab von der Schule, ihren Mitschülern und ihrer Familie. Aber der Traum ist tierisch unrealistisch, dachte sie nach einer Weile. Galten hier denn gar keine physikalischen Gesetze? Wieso fiel sie eigentlich nicht runter?

Im selben Moment stürzte Sophie wie ein Stein zu Boden. Im Fall drehte sie sich mehrfach und sah das Dach ihres Elternhauses in rasendem Tempo näherkommen. Die Luftmassen, die sie im Fallen verdrängte, schmerzten auf ihrem Gesicht. Ihre Wangen waren so kalt, dass sie befürchtete, sie wären eingefroren. In Panik schloss sie ihre Augen und riss ihre Kiefer auseinander. Sie schrie aus vollem Hals, als hinge ihr Leben davon ab, und dann: Nichts! Statt des Aufpralls, den sie mithilfe ihrer überragenden neuen Fähigkeiten präzise vorausgesehen hatte, tauchte sie erneut in den rotgoldenen Nebel ein und als sie die Augen schließlich öffnete, befand sie sich sicher auf ihrem Bett – immer noch schreiend und wild um sich fuchtelnd, aber sicher.

Es war Zeit, sich zusammenzureißen. Bald würden ihr Bruder, Oma Aenne und schließlich ihre Eltern nach Hause kommen. In der Regel genoss Sophie die Ruhe an den Dienstagen, wenn Simon länger in der Schule war und Oma sich mit den Damen ihres Kaffeekränzchens traf. Das war die Zeit, in der sie ungestört zu Hause sein konnte. Ansonsten zog sie es vor, sich schnell zu verdrücken, bevor die ganze laute Familie einfiel und ihr kaum eine ruhige Minute, geschweige denn Zeit zum Lesen und Nachdenken blieb.

Heute brachte das Alleinsein keine Erleichterung. Nur einen Albtraum am helllichten Tage. Na ja, keinen richtigen Albtraum, aber zumindest so was Ähnliches. Bei all dem, was heute passierte, bekam sie langsam einen Knoten ins Hirn!

Fast wünschte sich Sophie, dass ihr Bruder heute früher nach Hause käme. Der würde ihr zumindest keine Minute Zeit zum Grübeln lassen. Simon war die Pest. Zwei Jahre jünger als Sophie hatte er schon im Babyalter die Kontrolle über die Familie übernommen. Ihre Eltern hatten von Anfang an sein Schreien nicht ertragen und ihm immer in allem nachgegeben. Als Kleinkind hatte er Sophie regelrecht terrorisiert. Wann immer sie genug davon hatte, mit ihm zu spielen, hatte er seinen Säuglingssound eingesetzt, um seine Mutter oder ein anderes Familienmitglied herbeizuzitieren. Es war immer dasselbe gewesen. Die Eltern schimpften reflexartig mit ihr und drohten gleich mit schlimmen Strafen, wenn sie den Kleinen »nicht in Ruhe ließ«. Dabei war es in der Regel doch genau das, was Sophie wollte: Ihn in Ruhe lassen, ihn weit hinter sich zurücklassen – aber man ließ sie ja nicht. Niemand hatte sich die Mühe gemacht herauszufinden, wer hier wen nicht in Ruhe ließ. Vermutlich hatten sie es viel zu eilig gehabt, selbst der Terrorstimme zu entkommen.

Später hatte Simon sie mit seinem Geschrei zu langweiligen Playmobil- und Legoszenarien gezwungen oder, noch schlimmer, zu einem Schlagabtausch mit Science-Fiction-Actionfiguren, deren Namen Sophie nicht einmal kannte. Immer ging es ums Kämpfen und Sophie war natürlich die Böse, während Simon alle guten Figuren spielte, die das Böse immer besiegten.

Sophie hatte es gehasst, auf ihren kleinen Bruder aufpassen zu müssen. Mit der Zeit fand sie jedoch Mittel und Wege, dem Schwachsinn ein Ende zu bereiten. Sie verabredete sich mit Freunden zum Lernen. Dagegen konnten nicht einmal die Eltern etwas sagen. Aber Simon warf sich brüllend auf den Boden und musste jedes Mal ausgiebig getröstet werden, wenn seine persönliche Animateurin ging.

Sophie kam es so vor, als habe Baby-Simon damals Rache geschworen, denn nur wenige Jahre später hatte der Zwerg seine Schwester zum Hauptziel seiner Streiche auserkoren – und so war es bis heute geblieben. Am Anfang hatte er sich damit begnügt, ihre Puppen anzumalen oder ihre Zeichnungen zu zerreißen. »Er ist halt ein Junge« oder »Er ist doch noch so klein« nahmen ihre Eltern ihren Jüngsten in Schutz, wenn Sophie sich beklagte. Wieso Jungen allerdings einen Freibrief fürs Kaputtmachen hatten, wollte Sophie schon damals nicht einleuchten.

Im Lauf der Zeit ging Simon diskreter vor, aber nicht weniger verletzend. Dass er Sophies Schulbrot regelmäßig mit Senf, Meerrettich oder sogar Leim bestrich, nahm sie gelassen hin. Sie war sowieso zu dick und daher war es ja sogar von Vorteil, diese Mahlzeiten dem Mülleimer auf dem Schulhof zu überlassen. Andere Streiche waren schwerer zu ertragen. Beispielsweise hatte Simon alles zerstört, was Sophie je gesammelt hatte: Muscheln, Fotos, Postkarten. Er versteckte auch ihre Hausaufgaben. Kein Lehrer glaubte Sophie, wenn sie mit leiser Stimme zu erklären versuchte, warum sie wieder einmal ihr Heft nicht vorzeigen konnte. Kleine Geschwister wurden viel zu oft als Ausrede gebraucht und bei Sophie fehlte ja dauernd irgendetwas.

Nein, vielleicht wäre es doch nicht so toll, wenn ihr Bruder früher nach Hause käme. Oma war die bessere Alternative, aber die hatte sich vermutlich gerade erst warm gespielt und zockte mit den anderen alten Ladys aus der Straße Canasta oder Rommé.

Ihre Eltern halfen Sophie nicht. Herr und Frau Stifter waren voll und ganz von ihrem Baugeschäft beansprucht. In der Regel sah sie die beiden nur zum Abendessen und dann waren sie nicht wirklich ansprechbar. Meistens tauschte das Ehepaar nur die wichtigsten Neuigkeiten aus und reagierte auf jede Unterbrechung durch die Kinder gereizt. Nur Oma Aenne hatte gewissermaßen Narrenfreiheit. Sie nahm rege an der Diskussion teil und warf in jeder Gesprächspause Anekdoten aus ihrer Jugend, Informationen über den Fortgang ihrer Daily Soaps und über den Tod oder schlimme Krankheiten alter Bekannter ein. Wenn Oma Aenne erzählte, dass ein entfernter Verwandter verstorben sei, schenkte die Mutter ihr einen Moment Aufmerksamkeit. Sophie hatte den Eindruck, dass ihre Oma die Sterberate in der Verwandtschaft künstlich hochtrieb. Von den meisten Verblichenen hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört und verstand auch nicht, weswegen sie tot erwähnenswert waren, lebendig aber nicht.

Am liebsten hätte Sophie ihr Abendessen allein auf ihrem Zimmer zu sich genommen und dabei ein spannendes Buch gelesen. Aber ihre Mutter hatte irgendwo gelesen, dass es für eine Familie wichtig sei, gemeinsame Mahlzeiten einzunehmen, und so gab es kein Entrinnen. Leider konnte Sophie sich auch nicht einfach davonträumen, denn gerade beim Essen war es essenziell, ihren Bruder im Auge zu behalten. Mittlerweile hatte er besonderen Gefallen daran gefunden, ihr sogar in Anwesenheit der Eltern Streiche zu spielen. Wahrscheinlich erhöhte das für ihn den Nervenkitzel. Mit unglaublicher Geschwindigkeit und Finesse platzierte er Ungeziefer in Sophies Essen. Auf Raupen, Käfer und Würmer reagierte sie mittlerweile recht locker und sortierte sie aus, ohne sich groß aufzuregen. Ihre Mutter wunderte sich gelegentlich über die ungewollte Fleischbeilage und beschloss dann, kein Ökogemüse mehr zu kaufen oder die Oma vom Küchendienst zu befreien. Sophies Vater grinste meistens nur schief und versuchte zu scherzen: »Wenn man mit dir ausgeht, braucht man sich wirklich keine Sorgen zu machen. Du ziehst alle Kirschkerne und Insekten dieser Welt an.«

Wenn der wüsste …, dachte Sophie dann, sagte aber nichts. Früher hatte sie versucht, ihre Eltern auf die Übergriffe ihres Bruders hinzuweisen, aber Simon war schlau und sein Lächeln so gewinnend, dass sie kaum eine Chance hatte. »Bitte erfinde keine Geschichten«, hatte es dann geheißen. »Wie soll Simon das denn gemacht haben? Wir sitzen schließlich alle um denselben Tisch.«

Allerdings hätte zwischen ihren Eltern ein rosa Zebra am Esstisch sitzen können, ohne dass sie es bemerkt hätten. Ihre Gedanken drehten sich um abblätternden Putz, Lieferschwierigkeiten und säumige Kunden. Simon zeigte in solchen Momenten sein schönstes Lächeln. Sophie hätte ihm auch geglaubt, wenn sie an der Stelle ihrer Eltern gewesen wäre. Irgendwann gönnte sie Simon diesen zusätzlichen Triumph nicht mehr und vermied einfach jede Reaktion. Vielleicht würde ihm die ganze Sache ja irgendwann langweilig.

Aber wie sollte sie heute still sitzen können? Und wie sollte sie sich auf ihren wahnsinnigen Bruder konzentrieren? Sie musste denken, richtig nachdenken. Na ja, eigentlich musste sie erst einmal dringend aufs Klo. Kaum hatte sie die schwere Kommode von der Tür weggeschoben, drehte sich unten der Schlüssel im Schloss. Mist, wieso war sie nicht früher gegangen? Sophie beeilte sich im Bad und wollte gerade wieder in ihrem Zimmer verschwinden, als Simon im Flur erschien.

»Ich hab mir diesmal was ganz Besonderes ausgedacht, wird echt spektakulär!«, flötete er und grinste.

Für Angelika Lauer.
Meine Schwester in Herz und Geist.

Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe

© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017

Covergestaltung: Christian Eickmanns

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN: 978-3-401-84008-6

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Kapitel 1: Der Schrei

Sophie

Wie Tentakel eines außerirdischen Lebewesens glitten grüne, glibberige Finger von der Lampe herunter. Genau dort stand Frau Lautenschläger, die Sophie gerade nach einer Vokabel gefragt hatte. Doch Sophie gelang es einfach nicht, ihren Blick von den faszinierenden Schlieren abzuwenden und die Frage der Englischlehrerin zu erfassen.

»Aha – schon wieder keine Vokabeln gelernt!«, quittierte diese die dritte unbeantwortete Frage und spitzte missmutig die Lippen. »Ich möchte dringend mit deiner Mutter sprechen. Sag ihr das«, ergänzte sie schrill und schrieb eine ihrer berüchtigten Hieroglyphen in das rote Notizbuch.

Heute ist echt nicht mein bester Tag, dachte Sophie. Fünfzehn Jahre war sie alt und sie hatte gefühlt schon eine Ewigkeit keinen wirklich guten Tag mehr erlebt, aber heute ging wirklich alles schief! Schon gleich am Morgen hatte Milan ihr das Physikheft abgenommen, sodass sie wieder mal ohne Hausaufgaben dastand. Und auch die verpatzte Vokabelabfrage gerade ging auf sein Konto. Milan hatte die Deckenlampe über dem Lehrerpult mit einem Klumpen Slime präpariert. Die giftgrüne, gallertartige Masse folgte nun langsam den physikalischen Gesetzen der Erdanziehung, dehnte sich aus und zog sich in langen Fäden nach unten.

Sophie war wie versteinert. Wenn Frau Lautenschläger nicht aufpasste, würden die grünen Glibberfinger ihr demnächst über den modisch fragwürdigen Pony kriechen. Kriegte die denn gar nichts mit? Sophie öffnete verzweifelt den Mund. Natürlich hatte sie gestern Vokabeln gelernt und die drei hätte sie sicher gewusst, wenn nur …

In diesem Moment erreichte der Slime das Gesichtsfeld von Frau Lautenschläger. Sie schrie auf, machte einen Satz rückwärts, bei dem sie den Lehrerstuhl umriss und die rechte Klapptafel mit dem Ellbogen anstieß. Die Tafel, ein noch immer nicht entsorgtes Relikt aus den Siebzigerjahren, schnellte hoch und erwischte den Kartenständer. Dieser wiederum geriet ins Wanken und verfing sich in dem Seil, das an drei Wänden des Klassenzimmers entlangführte und an dem die Ergebnisse des letzten Kunstprojektes – aus Müll gefertigte Fantasiewesen aus fremden Welten – aufgehängt waren. Mit gewaltigem Scheppern ging der Ständer zu Boden und die »Kunstwerke« folgten mit lautem Getöse.

Nach einer ersten Schrecksekunde brandete eine Lachwelle durch den Raum. Vor allem Milan und seine Freunde konnten sich kaum auf den Stühlen halten. Ihr Streich hatte besser funktioniert als gedacht. Klickgeräusche aus allen Richtungen waren zu hören, als einige Mitschüler das Spektakel mit dem Handy fotografierten. Wahrscheinlich war die Szene bereits im Netz.

Frau Lautenschlägers Gesicht hatte einen ungesunden Rotton angenommen. Erschrocken sah Sophie sich um und hielt eine Hand vor den Mund, während alle um sie herum lachten. In dem Moment heftete sich Frau Lautenschlägers Blick auf ihr Gesicht und bohrte sich förmlich in ihren Schädel – als könnte sie dort den finsteren Plan hinter diesem Streich aufspießen und ans Tageslicht befördern. »Melde dich sofort beim Direktor«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Sofort!«

Sophies halbherziger Versuch, den Verdacht zu entkräften, wurde im Keim erstickt. Wieso eigentlich immer ich?, dachte sie auf dem Weg zum Zimmer des Direktors. Habe ich ein Schild an der Stirn: Schuldig an Katastrophen jeder Art? Schülerstreiche, schlechtes Wetter, Alienalarm – machen Sie Sophie verantwortlich.

Die Standpauke des Direktors blieb jedoch zunächst aus, denn der kam – wie so oft – etwas später. Dafür verbreitete er bei seinem Eintreffen sofort eine Atmosphäre der Rastlosigkeit, die bei den Mitarbeiterinnen im Sekretariat umgehend zu sinnlosem Aktivismus führte. Eine halbe Stunde später wurde Sophie endlich ins Zimmer des Direktors gewunken und musste auch dort erst einmal warten. Der Direktor führte, ohne auf sie zu achten, einige »wichtige Telefonate« – mit seiner Frau und der Autowerkstatt. Sophie gab sich alle Mühe wegzuhören. Sie war definitiv nicht an der Auseinandersetzung zwischen dem Direktor und seiner Frau oder dem Automechaniker interessiert. Trotzdem hatte sie bei seinem nachfolgenden zornigen Vortrag zum Thema »Verhalten im Unterricht« deutlich den Eindruck, dass seine Laune nichts mit dem Schülerstreich zu tun haben konnte. Am Telefon war er schon nicht zurückhaltend gewesen, aber jetzt drehte der Direktor richtig auf. Dabei wusste er noch nicht einmal, worum es in Sophies Fall eigentlich ging.

Sophie nahm eine Haltung ein, die sie den »Zen-Modus« nannte. Zwar hatte sie nur eine ungefähre Vorstellung vom Zen-Buddhismus, aber ihre Ohren auf Durchzug zu stellen in dem Versuch, an nichts zu denken, stellte für sie auf jeden Fall ein zentrales Element des Buddhismus dar. Leider gelang ihr der Zen–Modus nicht immer. Zwar hatte sie in den fünf Jahren auf diesem Gymnasium schon viel Gelegenheit zum Üben gehabt, aber gerade jetzt bröckelte ihr Zen-Schild gewaltig.

Satzfetzen wie »unverantwortliches Verhalten« und »Kriminelle der Zukunft« drangen unabwendbar zu ihrem Hirn vor. Es kostete Sophie einige Mühe, sie vorbeischwappen und verschwinden zu lassen. Wieso gelang es ihr heute nicht abzuschalten? Nein, dieser Tag ist eindeutig nicht mein bester, dachte Sophie ein weiteres Mal. Und er würde vermutlich auch nicht besser werden. Normalerweise begann der Ärger nach der Schule ja erst richtig.

Melissa

Endlich war der Unterricht zu Ende und Melissa konnte all die langweiligen Loser hinter sich lassen, die dieses hässliche Bauwerk jeden Morgen von Neuem überschwemmten. Gerade schwappte die Schülerflut durch den Ausgang zurück ins Freie und ergoss sich über die ausgetretene Sandsteintreppe in die Stadt. Es war ein bewölkter, kühler Tag, der eher Regen als Besserung verhieß. Melissa sehnte sich nach ihrem Zimmer, wo sie endlich allein sein konnte und nicht einmal mehr von Kathie, Valerie und Hannah verfolgt würde. Die drei hingen wie Kletten an ihr. Zwar hatten sie ihr nach dem Schulwechsel im vergangenen Jahr in Windeseile zum It-Girl-Status verholfen, den Melissa für selbstverständlich hielt. Auch an allen anderen Schulen, die sie je besucht hatte – und das waren nicht wenige gewesen –, war sie die Nummer eins gewesen. Trotzdem nervten die drei auf Dauer gewaltig. Immer ging es nur um Jungs und Mode. Bei beiden Themen waren die Erfahrungen dieser Mädchen erwartungsgemäß provinziell: Vom ersten wussten sie zu viel, vom zweiten zu wenig. Heute hatte Melissa überhaupt keine Lust auf marathonlange Beschreibungen von Shoppingerfolgen oder durchküssten Kinobesuchen. Wie kindisch alle diese Kleinstädter waren, hatte der Slime-Angriff auf Frau Lautenschläger gezeigt. Melissa war es völlig gleichgültig, ob die Englischlehrerin von ihren Schülern terrorisiert wurde. Auch das dicke Mädchen, das mal wieder als Sündenbock herhalten musste, war ihr egal. Ätzend war einzig und allein dieser blöde Milan, der sich danach in Pose geworfen hatte. Wie ein Gorilla hatte er sich immer wieder auf die Brust getrommelt. Offenbar glaubte er, Melissa mit dem Quatsch beeindrucken zu können. So ein Idiot!

Melissa sehnte sich zurück an die Orte, an denen ihre Welt mit einem hohen Zaun vom Rest abgetrennt war. Aber ausgerechnet hier hatte sie plötzlich nicht mehr auf ein Elitegymnasium gehen dürfen. Ihre Mutter war der Meinung, sie sollte auch einmal das »wahre Leben« kennenlernen. Ausgerechnet ihre Mutter hatte das gesagt, die das wahre Leben nicht einmal mit einem Vergrößerungsglas erkennen würde.

Viele Jahre hatten Melissas Eltern in internationalen Metropolen gelebt, zuletzt in Singapur. Ihr Vater war ein mehr als wohlhabender Geschäftsmann und seine Familie begleitete ihn normalerweise zu seinen jeweiligen Einsatzorten. Diesmal hatte es sie jedoch tief in die Provinz verschlagen und das war einzig die Schuld ihrer Mutter. Wieder einmal auf der Suche nach dem Sinn des Lebens hatte die einen »Glückscoach« für sich entdeckt und war ihm hierher gefolgt. Warum fiel sie nur immer auf so etwas herein? Der Glückscoach war längst mit einer hübschen Anzahlung auf seine Betreuung auf und davon, während Melissa noch immer hier festsaß. Sie musste sich eine Beschäftigung suchen, sonst würde sie noch verrückt in dieser Kulturwüste.

Lustlos passierte Melissa die Ausgangstür des Schulgebäudes, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Erst als sie die oberste Stufe der breiten Sandsteintreppe hinabsteigen wollte, sah sie ihn: Milan – und seine beiden Primatenfreunde hatte er auch gleich dabei. Die Typen ragten wie ein dreiköpfiger Fels am Fuß der Treppe auf und die Schüler strömten in einigem Abstand an ihnen vorbei. Keiner traute sich, einen der drei anzurempeln. Natürlich waren sie auf Ärger aus. Wen würde es diesmal treffen?

Melissa war gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert. Und es war keine Überraschung, auf wen Milans Wahl fiel. Als das dicke Mädchen durch die Tür trat, kam Bewegung in alle, die sich noch in der Nähe befanden. Auch Melissa und ihre drei Begleiterinnen stiegen die Treppe hinab und blieben in einiger Entfernung stehen, um das Schauspiel anzusehen.

Sophie

Sophie hatte es schon befürchtet – und tatsächlich lauerten Milan, Erkan und Peter schon wieder auf sie, als sie aus dem Schulgebäude kam. Die drei waren der Fluch der neunten Klasse. Es gab niemanden, den sie nicht quälten, aber auf Sophie hatten sie es besonders abgesehen.

Nimmt das denn heute gar kein Ende? Unauffällig versuchte Sophie, sich seitlich die Treppe hinunterzuschieben. Wenn es ihr gelänge, zu Melissa und ihrer Gruppe aufzuschließen, würden die Jungen sie vielleicht in Ruhe lassen.

Melissa war eine von drei Ausnahmesportlerinnen an der Schule. Sie war äußerst beliebt und hatte schon Auszeichnungen im Laufen, Schwimmen und sogar im Hochsprung gewonnen. Angeblich besuchte sie privat einen Karatekurs. Jedenfalls würde niemand in der Schule riskieren, sich mit ihr anzulegen.

Sophie bewunderte Melissa insgeheim. Sie war ebenfalls 15 Jahre alt, hatte aber so ziemlich alles, was Sophie nicht hatte: Mut, Selbstvertrauen, Ansehen, eine schlanke Figur, tolle Klamotten und reiche Eltern, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Dass auch noch ihre Noten sehr gut waren und die Jungs ihr zu Füßen lagen, rundete das Bild nur ab. Melissa würde wohl niemals verdächtigt werden, ihrer Lehrerin mit einer Slime-Attacke nach dem Leben zu trachten. Sie war über jeden Zweifel erhaben.

Warum jedoch ein Pfeil auf Sophie zu zeigen schien, sobald für irgendetwas ein Schuldiger gesucht wurde, konnte sie nur ahnen. Vielleicht hatte sie einfach Pech, weil sie vorn saß, genau vor der Nase der Lehrer. Manchmal ist eben der schuld, der zuerst gesichtet wird. Allerdings war es auch nicht einfach, Sophie zu übersehen. Sie war groß, nicht ganz so groß wie Melissa, aber fast doppelt so breit. Deswegen tat sie alles, um kleiner zu erscheinen. Ihr Rücken wurde immer runder vom Kleinmachen. Das verhinderte aber nicht, dass die Lehrer meist sie an die Tafel winkten, wenn es um unlösbare Matheaufgaben oder ähnlich Unangenehmes ging. Soweit sie zurückdenken konnte, wurde sie vor allem wegen ihrer Speckpolster, aber auch wegen ihrer hellen Haut und der rötlichen Haare gehänselt. Genau diese helle Haut machte es ihr zudem unmöglich, cool zu bleiben. Wann immer sie mit Worten oder Taten drangsaliert wurde, begann sie zu glühen. Was mit einem zarten Rosé auf den Wangen begann, wurde zu tiefem Dunkelrot und verteilte sich in Windeseile über das gesamte Gesicht – als Statusanzeige ihrer Demütigung.

Gerade als Sophie Melissa und ihr Gefolge fast erreicht hatte und hinter der Gruppe in Deckung gehen wollte, bemerkte sie Melissas Blick. Zum ersten Mal sah Sophie dem Mädchen auf der anderen Seite der Beliebtheitsskala in die Augen. Alles an ihr war hell und strahlend. Ihr Haar war von einem gesunden Strohblond, dem ein künstlicher Goldton zusätzlich Glanz verlieh. Ihr Teint schimmerte bronzefarben, wie leicht gebräunt, aber nie zu dunkel. In diesem Moment jedoch trat ein böses Funkeln in die strahlenden Augen.

»Was willst du?«, zischte sie mit ärgerlicher Stimme. »Wir haben was Privates zu besprechen und wollen keine Spione.« Erschrocken wich Sophie einen Schritt zurück und geriet ins Stolpern.

Melissa

Eigentlich hatte sie gar nicht so barsch sein wollen, aber was musste die Tussi auch ausgerechnet zu ihr kommen? Sie hatten schließlich nichts miteinander zu tun. Melissa wollte auf gar keinen Fall Milans Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dieser Wahnsinnige würde sie nur wieder mit irgendwelchem Unsinn zudröhnen. Darauf konnte sie gut verzichten.

Zu spät. Schon waren Milan, Erkan und Peter zur Stelle. Zum Glück galt ihre ganze Konzentration dem dicken Mädchen.

»Na Fetti, kann ich dir helfen?«, fragte Milan mit einem bösen Grinsen und gab ihr von hinten einen heftigen Schubs. Sie wankte nach vorn und schien schon den Halt zu verlieren, als Erkan sie am Rucksack zurückriss und Peter ihr in die Kniekehlen trat. Wie ein »Clown aus der Schachtel« federte das Mädchen erneut nach hinten und dann mit rudernden Armen wieder nach vorn. Die Jungen traten zur Seite und Milan versetzte ihr den finalen Stoß. Unsanft landete sie auf ihrem Steiß.

Milan hielt ihr die Hand hin. »Na, bist du zu schwer für deine fetten Stampfer, Schweinchen? Musst du dich ausruhen? Vielleicht solltest du dir einen anderen Platz aussuchen. Wenn du hier einen Fettfleck machst, könnte noch jemand ausrutschen und das wollen wir doch nicht, oder?«

Erkan und Peter konnten sich kaum halten vor Lachen und auch einige andere grinsten hämisch.

Die Dicke hielt sich die Hände auf die Ohren, um dem gehässigen Gelächter zu entkommen.

Sophie

Sophie wollte dieses Lachen nicht mehr hören – dieses gemeine, demütigende Spotten. Sie schloss ihre Augen und presste die Hände so fest gegen den Kopf, dass ihre Ohren schmerzten. Der Schmerz war übermächtig. Hintern und Schädel brummten gleichermaßen. Wieso half ihr niemand? Da geschah plötzlich etwas Sonderbares: Milans Stimme wurde langsamer, begann zu dröhnen und klang schließlich wie eine von Opa Jürgens alten Schallplatten, wenn man sie in der falschen Geschwindigkeit abspielte. Ein Sausen füllte Sophies Ohren, das alle Geräusche abschottete und sie wie unter einer riesigen Glocke von ihren Peinigern abschirmte. Melissas silberhelle Stimme mischte sich unter das dunkle Gefeixe der Jungen. Sophie verstand nicht, was sie sagte, aber offenbar gehörte auch Melissa jetzt zu denen, die sie auslachten.

In Sophies Innerem braute sich mit einem Mal ein Gefühl zusammen, das sie bisher immer nur halbherzig gespürt hatte. Genauer betrachtet hatte sie sich noch nie erlaubt, dieses Gefühl hochkommen zu lassen. Jetzt drängte es hervor und war nicht mehr zu stoppen: heiße, unbändige Wut. Bisher waren eher Verzweiflung oder meist einfach Apathie ihre Begleiter gewesen. Doch plötzlich spürte sie, wie ihre Temperatur anstieg. War das Fieber? Ihre Stirn glühte und Schweißperlen bildeten sich über ihrer Oberlippe. Aus den Augenwinkeln schoben sich feuerrote Nebel in Sophies Gesichtsfeld, bis sie nur noch Milan und seine Anhänger deutlich und in grellem Rot sehen konnte. Der Rest der Schüler verschwand hinter den seltsamen Nebelschwaden.

Warum tut ihr mir das an?, dachte sie. Ich habe euch nie was getan. Wieso seid ihr so gemein? Überlaut pochte der Puls in ihren Ohren. Ihr Herzschlag dröhnte im Kopf, übernahm die Steuerung ihres Körpers und trieb sie an aufzustehen. Wie betäubt spürte sie kaum noch die Schmerzen in ihrem Steiß. Sie folgte ihren Angreifern fort von der Treppe wie im Fieberwahn. Als sich die Jungen umdrehten, um weiterzulästern, geschah das Unerwartete. Sophie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, durch die sie Milan und die anderen um einige Zentimeter überragte. Ihre Augen waren starr auf die drei Jungen gerichtet. Im nächsten Moment entrang sich ihrer Kehle ganz ohne Vorwarnung ein schreckliches Geräusch. Es klang wie ein dunkles Donnergrollen, wie das kehlige Knurren eines monströsen Hundes, dessen Ausmaße sich niemand vorstellen wollte. Der Klang ihrer Stimme war so unheimlich, dass niemand auf dem ganzen Schulhof noch ein Wort sagte. Minutenlang hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören können. Es gab niemanden, der über diese überraschende Wendung mehr erschrocken gewesen wäre als Sophie.

Stocksteif stand sie da, die roten Nebel lichteten sich und ihr Herzschlag verlor seine unbändige Kraft. Hatte eben noch ihr eigener Puls übermächtig in ihren Ohren gedröhnt und ihre Handlungen bestimmt, hörte sie nun: nichts. Sie fühlte sich wie nach einem Albtraum, der auch in der Realität nicht völlig abzuschütteln war. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Eine Wahrnehmung hatte sie besonders verwirrt: Sie hatte den Geruch von Angst in der Nase gehabt. Es war aber nicht ihre eigene Angst gewesen wie sonst, sondern die Angst der anderen vor ihr. Ein erstaunliches Gefühl. Gern hätte sie dem Moment noch nachgespürt, aber es war besser zu gehen.

Ohne einen weiteren Gedanken floh Sophie mit langen Schritten vom Schulhof, bevor sich ihre Peiniger von dem Schrecken erholen konnten.

Melissa

»Was war denn das? Ist die verrückt geworden?«, kreischte Erkan.

Milan schluckte, dieser krasse Urschrei hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Aber schnell hatte er sich wieder so weit gefasst, dass er fast so cool wirkte wie immer. Nur das Zucken seines linken kleinen Fingers zeigte noch einen Rest von Anspannung.

»Nichts«, zischte er schließlich. »Das war überhaupt – gar – nichts! Vielleicht hat die Dicke Verdauungsstörungen. Für mich klang das wie ein Riesenpups. Man sollte diesen Fettärschen einfach keine Bohnen zu fressen geben.«

Erkan und Peter zogen Grimassen, die eher an Zähneblecken als an Grinsen erinnerten.

»Blödmann«, sagte Melissa, der das Machogerede gründlich auf die Nerven ging. »Das war supergruselig! Ich habe noch nie gehört, dass jemand so einen Laut erzeugen kann. Das war einfach abgefahren. Selbst die Viecher in ›Jurassic Park‹ und ›Avatar‹ machen nicht so einen fiesen Krach.«

Offenbar wollte Milan gerade protestieren, als Melissa sich abrupt umdrehte und ihn einfach stehen ließ. Diese Sache war zu wichtig, um ihre Zeit hier mit diesen Typen zu verplempern. Sie beschleunigte ihre Schritte und begann zu laufen, sobald sie den Schulhof verlassen hatte.

Ihre bis dahin unauffällige, eher plumpe Klassenkameradin hatte sich heute in etwas Unheimliches verwandelt – nicht gerade verwandelt, aber sie hatte komisch ausgesehen, roboterhaft oder hypnotisiert. Und dann dieser irre Laut! Oder hatte sich Melissa das alles nur eingebildet? Manchmal, wenn sie zu viel trainierte, hörte sie ein Summen in den Ohren, manchmal sogar Stimmen. Vielleicht … Nein, das war nicht möglich. Das hier war etwas völlig anderes. Schließlich hatten es ja auch alle anderen gehört, auch wenn Milan es jetzt herunterspielte. Sie musste unbedingt herausfinden, was hinter dieser Geschichte steckte.

Kapitel 3: Die Fliege

Sophie

Sophie antwortete nicht, hechtete in ihr Zimmer und verrammelte die Tür von innen mit der Kommode. Dann setzte sie sich auf ihr altes Bett und überlegte von Neuem: Was war tatsächlich auf den Stufen des Schulgebäudes passiert? Ich habe plötzlich rot gesehen – im wahrsten Sinne des Wortes. Unwillkürlich musste Sophie lächeln.

Währenddessen begann Simon, an die Tür zu klopfen und irgendetwas zu rufen.

Ich hatte unheimliche Wut, erinnerte sich Sophie. Ein Insekt flog um ihren Kopf herum und lenkte sie kurz ab. Dann konzentrierte sie sich wieder: Da war noch mehr. Für einen kurzen Moment hatte sie sich allen anderen überlegen gefühlt.

Simons Getrommel draußen wurde lauter, seine Stimme bekam einen schrillen Unterton. Sophie wedelte mit der Hand, um die Fliege zu verjagen, die eine erneute Runde drehte – und vielleicht auch den Krach, den ihr Bruder machte. Auf dem Schulhof hatte sich Sophie für einen Moment zugetraut, diese dämlichen Typen ebenso leicht wegzufegen oder sogar bis zum Mond zu schießen. Für diesen einen Moment hatte sie sich wild und stark gefühlt.

Erneut musste Sophie die nervige Fliege verscheuchen, die sich ausgerechnet auf ihrer feuchten Stirn niederlassen wollte.

Diese Stärke war ein tolles Gefühl gewesen, sie erinnerte sich ganz genau. Aber zugleich hatte sie Sophie große Angst eingejagt und dann dieses Geräusch …

Endlich hatte Simon mit seiner Trommelei aufgehört. Jetzt flüsterte er etwas durchs Schlüsselloch. Sophie versuchte, nicht hinzuhören. Wie hatte sie nur dieses Grollen zustande gebracht? Irgendwie hatte sie schon vorher gespürt, wie es sich in ihrem Inneren zusammengebraut hatte. Dann war es ihre Kehle hinaufgequollen wie ein heißer Luftstrom und hatte sich seinen Weg nach draußen gebahnt.

Sophie beschloss herauszufinden, ob sie das Brüllen noch einmal hervorbringen konnte. Zögerlich öffnete sie den Mund und versuchte halbherzig ein »Arrgh«. Und noch einmal: »Arrgh, arrgh, graaah!« Das klang jämmerlich! Wie üblich war ihre Stimme dünn und gepresst. In der Schule nervten sie alle Lehrer mit ihrer Forderung, lauter zu sprechen. Um die Sache noch schlimmer zu machen, stimmten ihre Klassenkameraden meist schon, wenn sie drangenommen wurde, einen Chor an und krakeelten: »Lauter, lauter …«, was Sophie natürlich so einschüchterte, dass ihre Stimme nur noch mehr versagte. Meist schienen sich die Pädagogen dann in ihrer Einschätzung bestätigt zu fühlen, dass Sophie nicht nur dick, sondern auch dumm sei.

Simon fing draußen vor der Tür wieder an zu rufen. Er hatte diese Probleme nicht. Er war selbst in seiner Normallautstärke noch im Nebenhaus zu hören.

Sophie konzentrierte sich. Sie musste herausfinden, was es mit diesem Schrei auf sich hatte. Koste es, was es wolle. Die Fliege nahm jetzt Sophies Nase ins Visier und versuchte einen Landeanflug.

»Grarr, argh, grärrgh!« Selbst der wohlwollendste Zuhörer hätte als Urheber dieser Laute eher ein Lama mit Zahnweh vermutet als etwas, das Angst und Schrecken verbreiten konnte.

Ein lauter Rums schreckte Sophie aus ihren Gedanken. Sie starrte in Richtung der Tür, gegen die Simon gerade getreten hatte, und spürte, wie sie wütend wurde. Warum konnte ihr Bruder sie nicht einmal in Ruhe lassen? Halt die Klappe!, dachte Sophie. Stör mich nie wieder!

Sie runzelte die Stirn und auf einmal legte sich erneut ein rotgoldener Schleier über ihre Augen, nicht so feurig wie vor der Schule, aber deutlich wahrnehmbar. Sophie blinzelte, aber die Rotfärbung blieb. Sie starrte auf die Tür und wie in ihrem Traum veränderte sich plötzlich die Welt um sie herum: Ihr Blick veränderte sich, sie sah wieder alles ungeheuer scharf. Ihr Gesichtsfeld beschränkte sich diesmal zwar auf das, was vor ihr lag, aber alles in ihrem Zimmer wirkte viel plastischer. Die Dreidimensionalität war so übertrieben wie im 3-D-Kino. Nichts schien an seinem Platz bleiben zu wollen, alles drängte auf sie zu und selbst die Bücher und die langweiligsten Schulutensilien schienen zu wachsen und bedrohlich näher zu kommen.

Was war das jetzt wieder? Hatte ihr Bruder etwas mit ihrem sonderbaren Zustand zu tun? Hatte er sich etwa an ihrem Frühstück zu schaffen gemacht und ihr Drogen untergeschoben? Wie sonst war dieses Chaos in ihrem Kopf zu erklären? Hätte sie nur besser aufgepasst beim Essen. Aber woher sollte ein Dreizehnjähriger Drogen haben? Und hätte Simon nicht eher selbst mit Drogen experimentiert, als sie seiner Schwester zu verabreichen?

Sophies Kopf schmerzte. Sie konnte nicht mehr über ihren Bruder nachdenken. Irgendetwas in diesem Raum nahm plötzlich ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen. Es war ein Dröhnen, ein mächtiges Summen und Tosen. Mal schien es näher zu kommen, dann entfernte es sich wieder wie ein gewaltiger Düsenjet, allerdings einer, dessen Antriebsturbinen gelegentlich aussetzten und dann ebenso plötzlich wieder funktionierten, als hätten sie nie gestoppt. Ein Summen, Stoppen, Summen, Summen, Stoppen. Manchmal näher, dann wieder weiter entfernt. Sophie kannte dieses Geräusch irgendwoher, es irritierte sie und machte sie wütend. Sie musste unbedingt den Urheber des nervtötenden Tons finden und dem Ganzen ein Ende bereiten. Bis auf Äußerste gespannt, folgten ihre Augen ihrem Gehör und tasteten blitzschnell und systematisch das Zimmer ab. Auf einmal funktionierten ihre Augen wie ein Kamerazoom, holten einzelne Objekte nah heran und ließen sie dann wieder in den normalen Abstand zurückschnellen. All diese Dinge geschahen in einem seltsamen zeitlichen Ablauf. Einerseits wirkte alles wie in Zeitlupe, so genau konnte Sophie jedes Detail bis hin zu den Staubkörnchen erfassen, die durchs Zimmer flimmerten, andererseits bewegte sie ihren Kopf in einer einzigen fließenden Bewegung, sodass eigentlich nicht mehr als Sekundenbruchteile vergangen sein konnten, bis ihre Teleaugen an der alten Kommode hängen blieben.

Und da war er, der Krachmacher. Die Stubenfliege hatte sich offenbar zu einer Erkundungstour durch ihr Zimmer aufgemacht. Sophie erschrak, als ihre Augen das Fluginsekt plötzlich heranzoomten und sie in die dunklen Facettenaugen blickte. Schon summte die Monsterfliege weiter. Stop and go, stop and go. In Sophies Ohren brauste der Donner des Insektenflugs und machte sie unfähig, an etwas anderes zu denken. Eine normale Fliege konnte einen schon in den Wahnsinn treiben, aber dieses Untier spielte in einer ganz anderen Liga. Sophie sah, wie sich die Fliege wieder auf der Kommode niederließ und dort in aller Gemütsruhe begann, ihre Flügel zu putzen. Stille und kurzes Aufbrummen wechselten sich ab – ein Rhythmus, der Sophies Wut auf den ganzen Tag, die Mitschüler, ihren Bruder, überhaupt alle Menschen und vor allem auf sich selbst zum Überkochen brachte.

Ihr Blick verdunkelte sich. Aus dem zarten Roséton, durch den sie ihre Zimmereinrichtung bisher beobachtet hatte, wurde ein tiefes, feuriges Rot. Sophies Wut schien sich in ihrem Inneren zu konzentrieren und nach außen zu drängen. Wie am Mittag braute sich etwas in ihren Eingeweiden zusammen. Diesmal allerdings bahnte sich kein Schrei durch ihre Kehle. Sie hatte vielmehr das Gefühl, glühende Lava rumorte in ihrem Magen. Hitze versengte ihre Speiseröhre und ihr wurde schlecht. Automatisch öffnete sie den Mund und eine wild züngelnde Flamme schoss hervor.

Erschrocken vollführte Sophie eine halbe Drehung, um von dem Brandherd weg in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers zu flüchten. Dabei stieß sie den Tisch um, auf dem ihre Schulhefte lagen, schubste ihren Schreibtischstuhl an, der am Mülleimer hängen blieb und krachend zu Boden ging, wobei er nicht nur die Schreibtischlampe, sondern auch einen alten Bierkrug, in dem sich fast 200 Stifte zusammendrängten, mit sich in die Tiefe riss. Der Lärm, den diese Kettenreaktion verursachte, war ohrenbetäubend.

Sophie war verstört. Schlagartig war ihre Rotsicht verschwunden und sie wieder ganz sie selbst: voller Angst. Ihrem ersten Impuls folgend ging sie hinter dem Schreibtisch in Deckung. Trotz ihrer Körperfülle quetschte sie sich in die Ecke und sank auf den Boden. Ihr Atem ging flach und sie zitterte am ganzen Körper. Hörte das Chaos denn überhaupt nicht auf? Was war jetzt wieder los?

Sie versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Volle fünf Minuten brauchte sie, um sich von dem Schrecken einigermaßen zu erholen. Dann spähte sie vorsichtig hinter ihrem Versteck hervor. Was sie sah, ließ sie sofort wieder hinter den Schreibtisch zurücksinken: Ihr Zimmer war verwüstet. Alle Möbel waren umgestoßen, nur der Kleiderschrank stand wie ein Fels in der Brandung. Schulhefte, Bücher, Stifte und Kleidungsstücke lagen überall verstreut und ergänzten das Stillleben der Verwüstung. Am schlimmsten hatte es die alte Kommode erwischt. Dort, wo die Fliege gesessen hatte, war das Holz verkohlt. Es stank bestialisch nach Rauch. Das Möbelstück qualmte noch ein bisschen, dann zerbrach es mit einem dumpfen Knacks in zwei Teile. Da war wohl nichts mehr zu machen. Auweia, schoss es Sophie durch den Kopf. Das wird Ärger geben. Ausgerechnet Oma Aennes alte Kommode.

Ihre Oma hing an diesem Erbstück. Was würden ihre Eltern dazu sagen?

Unten im Hof knarrte das vordere Eingangstörchen. Simon begrüßte gerade seine beiden Freunde. Sie lachten.

»Mist.« Sophie machte ein paar schnelle Schritte auf die Kommodenhälften zu, packte sie jeweils an der nicht verbrannten Seite und zog sie in die Ecke neben der Tür. Ohne weiter nachzudenken, schnappte sie sich ihre Schultasche und floh durch die Küchentür in den Garten hinter dem Haus und von dort über den alten Aprikosenbaum auf die kleine Seitengasse, die am Grundstück vorbeiführte. Sophie wollte niemanden sehen. Wegen der Kommode würde sie sich früh genug verantworten müssen und ihren Monsterbruder konnte sie jetzt nicht ertragen, schon gar nicht mit Verstärkung. Sie wollte nur eines: weg von diesem ganzen Durcheinander.

Am liebsten hätte sie sich unter einer Decke verkrochen und gewartet, bis das Unheil vorbeigezogen war. Was war nur los mit ihr?

Sophie lief so schnell, als könnte sie auf diese Art allem entkommen: den seltsamen Ereignissen, der Bestrafung und ihren täglichen Peinigern. Seitenstechen und Atemnot ignorierte sie. Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass sie automatisch zu ihrem Zufluchtsort am Schilfteich gelaufen war.

Kapitel 4: Verfolgt

Melissa

Melissa stieß einen wenig damenhaften Fluch aus. Da war die Dicke ja! Wieso, zum Teufel, kletterte sie denn über den Zaun? Hatte sie Melissa vor dem Haus warten sehen und wollte sie abschütteln? Offenbar musste Melissa noch an ihrer Beschattungstechnik arbeiten. Nach der Schule hatte ihr die Sache mit dem unmenschlichen Schrei einfach keine Ruhe gelassen. Die Jungen waren ja so dämlich. Dieses Mädchen – wie hieß die noch mal? Sophie? – hatte sich sehr seltsam verhalten. Irgendwie unnatürlich – vielleicht sogar übernatürlich. Auf jeden Fall so interessant, dass Melissa neugierig geworden war und mehr wissen wollte.

Eigentlich hätte sie nicht hier stehen dürfen. Diese Aktion war ganz deutlich unter ihrem Niveau. Sie hatte wohlhabende Eltern, um nicht zu sagen reiche – aber das Wort »reich« hätte sie nie benutzt. In ihren Ohren klang es ordinär. Über Geld sprach man nicht in ihrer Familie und auch nicht über die Vorzüge, die damit verknüpft waren. Die Menschen um sie herum wussten ohnehin meist, wer sie war. Warum also über etwas reden, was allgemein bekannt war? Melissa wohnte mit ihren Eltern in einer großen Villa am Hang, in der vornehmsten Lage der ganzen Stadt. Hier in diesen kleinen Gassen war sie noch nie zuvor gewesen und sie musste sich Mühe geben, Sophie nicht zu verlieren. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wohin das dicke Mädchen gehen wollte.

Melissa musste kurz lächeln. Fast hätte sie diese ungewöhnliche Verfolgung verpasst. Nach der Schule war sie Sophie einfach hinterhergelaufen und hatte dann eine unglaublich lange Zeit vor dem Haus gewartet – normalerweise hätte sie höchstens für ihren Vater so viel Geduld aufgebracht. Und der war ein vielbeschäftigter Mann. Melissa wusste selbst nicht so genau, wie sie in diese Situation geraten war. Vielleicht, weil sie nichts Besseres vorhatte. Melissa langweilte sich leicht. Wollte sie ihren Willen durchsetzen oder verfolgte sie ein bestimmtes Ziel, konnte sie sich richtig festbeißen und zog eine angefangene Sache immer bis zum Ende durch. Aber nicht viele ihrer Aktivitäten bedeuteten ihr tatsächlich etwas. Ihr Vater hatte beispielsweise einmal behauptet, Melissa wollte nur nicht Tennis spielen, weil sie Angst hätte zu verlieren. Daraufhin nahm sie täglich Tennisstunden und trainierte so hart, dass sie sich in einer einzigen Saison in ihrem Club ganz nach oben katapultierte. Sie schlug nicht nur alle in ihrer Altersgruppe, sondern gewann sogar die Landesmeisterschaft. Schließlich besiegte sie ihren Vater und damit war der Fall für sie erledigt. Melissa hatte seine Behauptung widerlegt und steckte den teuren Hightechschläger in die Mülltonne. Sie hasste Tennisspielen, aber sie hasste es noch mehr, wenn jemand behauptete, sie könnte irgendetwas nicht schaffen.