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Über dieses Buch:

Dichter Nebel liegt über dem nächtlichen Hamburg, als Privatdetektiv Jeremias Voss Zeuge einer versuchten Entführung wird. In letzter Minute kann er die junge Frau retten. Die Täter jedoch können unerkannt fliehen und auch ihr Motiv bleibt rätselhaft, denn Maria ist zwar schön, aber völlig mittellos. Ohne Hoffnung auf Lösegeld scheint eine Entführung sinnlos. Doch je tiefer Voss bei seinen Ermittlungen in Marias Leben und Vergangenheit eintaucht, desto mehr mysteriöse Zusammenhänge kommen ans Licht, die auf eine tödliche Bedrohung aus allernächster Nähe hindeuten …

Über den Autor:

Ole Hansen, geboren in Wedel, ist das Pseudonym des Autors Dr. Dr. Herbert W. Rhein. Er trat nach einer Ausbildung zum Feinmechaniker in die Bundeswehr ein. Dort diente er 30 Jahre als Luftwaffenoffizier und arbeitete unter anderem als Lehrer und Vertreter des Verteidigungsministers in den USA. Neben seiner Tätigkeit als Soldat studierte er Chinesisch, Arabisch und das Schreiben. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Oberstleutnant ausschied, widmete er sich ganz seiner Tätigkeit als Autor. Dabei faszinierte ihn vor allem die Forensik – ein Themengebiet, in dem er durch intensive Studien zum ausgewiesenen Experten wurde.

Heute wohnt der Autor in Oldenburg an der Ostsee.

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Der Autor im Internet: www.herbert-rhein-bestseller.de

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Originalausgabe Mai 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/TunedIN by Westend61

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-95824-965-3

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Ole Hansen

Jeremias Voss und der Mörder im Schatten

Der siebte Fall

dotbooks.

Kapitel 1

Der November ist wirklich kein Monat, um sich in Hamburg aufzuhalten, dachte Jeremias Voss, während er die Schepeler Straße entlangging. Die Temperatur lag nur wenig über null Grad, und es herrschte so dichter Nebel, dass man buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Die Straßenlaternen bemühten sich vergeblich, den Dunst zu durchdringen. Wenn man nach oben sah, konnte man ein paar helle Flecken ausmachen, das war aber auch alles. Die Feuchtigkeit, die sich wie ein Samttuch auf der Haut anfühlte, drang durch jede Öffnung der Kleidung.

Voss hatte den Kragen seiner Wetterjacke hochgeschlagen und den Reißverschluss bis zum Mund geschlossen. Er fluchte, weil die Kapuze noch zu Hause in der Kommode lag. Aus Vergesslichkeit und Faulheit hatte er sie noch nicht wieder angeknöpft.

Er hielt sich dicht an den Häuserwänden, um eine Orientierung zu haben. Sich auf einem Kantstein den Fuß zu verstauchen, war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Er hatte das Gefühl, der Einzige zu sein, der bei diesem Mistwetter um elf Uhr abends unterwegs war. Nach seiner Schätzung musste er bald die Kreuzung mit der Thaderstraße erreichen. Er überlegte, ob er sich bei der Gaststätte Dr. Wolters, die auf der anderen Seite der Kreuzung lag, ein Taxi bestellen sollte. Er müsste irgendwo telefonieren, denn sein Smartphone lag zu Hause auf dem Schreibtisch.

Wenn Takamoto die moderne Kommunikation nicht so verachten würde, hätte er von dort aus telefoniert, doch der Japaner hatte weder Festnetzanschluss noch ein Handy in seinen Trainingsräumen. Wer etwas von dem Meister asiatischer Kampfsportarten wollte, musste sich persönlich zu ihm bemühen. Und selbst dann erhielt er nur eine Audienz, wenn er eine Empfehlung von einem ehemaligen oder derzeitigen Schüler vorlegen konnte. Voss suchte den Meister auf, so oft es sein Beruf zuließ – was für seine Bedürfnisse viel zu selten war.

In der Hoffnung, jeden Augenblick das Licht der Gastwirtschaft zu sehen, starrte Voss in die Nebelwand, aber er erkannte nicht den Hauch eines Lichtscheins. Dafür wurde seine Aufmerksamkeit durch Schritte abgelenkt, die von links auf dem Pflaster des Bürgersteigs klackten. Voss hätte schwören können, dass es sich um eine Frau handelte. Je näher die Person kam, desto deutlicher wurden die Geräusche. Jetzt war Voss sicher, dass es eine Frau war, die sich wie er einen Weg durch die neblige Brühe bahnte. Alle paar Sekunden verstummte das Klacken der Absätze. Offensichtlich musste die einsame Passantin sich immer wieder neu orientieren.

Was macht eine Frau bloß um diese Zeit und bei diesem Wetter in dieser Gegend?, fragte sich Voss.

Das Geräusch veränderte sich. Die Frau schien nun nicht mehr von links zu kommen, sondern direkt vor ihm zu gehen, und sie war schneller als er, denn das Geräusch wurde leiser. Nur geringfügig, aber merklich. Auch Voss beschleunigte das Tempo. Er war neugierig, welches weibliche Wesen da in der Dunkelheit bei null Meter Sicht vor ihm spazierte. Dem Geräusch nach musste die Frau etwa 50 Meter entfernt sein, obwohl es bei dem Wetter schwierig war, das genau einzuschätzen.

Lichter eines Autos erschienen als gelbe Flecken von rechts kommend. Das musste die Thaderstraße sein. Für sein Empfinden fuhr der Wagen bei den Sichtverhältnissen viel zu schnell. Die gelben Flecken verschwanden plötzlich, und Voss sah an ihrer Stelle einen Rotschimmer. Das Auto war in die Woltersallee eingebogen und fuhr in die gleiche Richtung, in die die Frau ging. Plötzlich quietschten Bremsen. Er hörte, wie eine Tür aufgestoßen wurde, und dann Geräusche, die darauf hindeuteten, dass eine oder zwei Personen aus dem Auto sprangen. Gleich darauf schrie die Frau. Voss vernahm ganz deutlich die Worte: »Was wollen Sie? Lassen Sie mich los … Hilfe!«

Er reagierte sofort und sprintete los. Dass er selbst in Gefahr geraten könnte, daran dachte er nicht. Eine Frau brauchte Hilfe, das war alles, was für ihn zählte.

Als er näher heran war, sah er, wie zwei Männer eine sich heftig wehrende Frau in ein Auto zerren wollten. Er riss sich in einer Bewegung die Sporttasche von der Schulter und stürzte sich auf die Männer. Einem schmetterte er die Tasche mit voller Wucht ins Gesicht. Der Kerl ging zu Boden. Ehe der zweite merkte, was geschehen war, hatte Voss die Sporttasche fallen gelassen, ihn am Kragen seiner Wetterjacke gepackt und so zurückgerissen, dass er gegen den Türrahmen des Autos prallte.

Der erste Mann hatte sich von dem Schlag schneller erholt, als Voss gedacht hatte. Vage registrierte er, dass der Gegner an einem Auge blutete und das Gesicht wutverzerrt war. Beunruhigend war der Schimmer von Stahl. Ein Springmesser, schoss es ihm durch den Kopf. Er wich drei Schritte zurück, um aus der Reichweite des Messers zu kommen und sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Aber er wartete den Angriff des Mannes nicht ab, trat blitzschnell zwei Schritte vor, ergriff das Gelenk der Messerhand, drehte sich im gleichen Moment so um die eigene Achse, dass der Körper des anderen über seinen Rücken hinweg aufs Pflaster flog. Der Arm des anderen wurde so weit verdreht, dass ein kurzer, scharfer Ruck ausreichte, um ihn auszurenken. Der Mann schrie vor Schmerz. Voss beachtete ihn nicht, sondern wandte sich dem zweiten zu, bereit, ihn genauso außer Gefecht zu setzen wie seinen Kumpel. Doch der setzte sich nicht zur Wehr, sondern verschwand im Nebel – ohne den geringsten Versuch, seinem Gefährten zu helfen.

Voss wandte sich zu der Frau um. Sie war dick in eine Wetterjacke und einen Wollschal eingemummelt. Die Kapuze hatte sie über den Kopf gezogen und vor dem Kinn zusammengebunden, sodass nur wenig von ihrem Gesicht zu erkennen war. Sie lehnte am Auto und schien unter Schock zu stehen. Voss berührte sie am Arm. Sie zuckte zusammen.

»Kommen Sie, wir müssen von der Straße runter«, sagte er ruhig, aber bestimmt, packte sie fest am Arm und führte sie auf den Bürgersteig. »Warten Sie hier. Ich muss auch den Mann von der Straße holen.« Als sie nicht antwortete, fragte er: »Verstehen Sie mich? Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich passe auf, dass Sie sicher nach Hause kommen. Haben Sie mich gehört?«

»Ja … ja, ich habe alles … verstanden«, krächzte sie. Es klang, als hätte sie einen Kloß im Hals. Sie räusperte sich und fügte dann mit festerer Stimme hinzu: »Ich bin okay. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich hysterisch werde. Es war nur der Schock des plötzlichen Überfalls, der mir die Sprache verschlagen hat. Jetzt bin ich wieder völlig okay. Ich danke Ihnen. Ohne …«

»Vergessen Sie’s«, unterbrach Voss. Er hatte Angst, sie würde gleich anfangen zu weinen. »Dank ist nicht nötig, ich mache so etwas ja schließlich täglich.«

Voss hörte ein leises Lachen und war zufrieden. Seine Worte hatten den gewünschten Effekt erzielt. Sie schien sich tatsächlich von ihrem Schock zu erholen. Er ging zurück auf die Straße, packte den lädierten Entführer am Kragen und zog den vor Schmerzen Jammernden auf den Fußweg, wo er ihn in halb aufrechter Haltung gegen eine Hauswand lehnte. Anschließend durchsuchte er die Taschen des Verletzten, ohne sich an dessen Winseln zu stören. Wie erwartet fand er nichts.

»Ich lasse dich jetzt hier liegen. Dein Kumpel wird sicher wieder auftauchen, wenn wir weg sind. Wenn nicht, dein Pech. Aber du hast Glück. Gut 50 Meter zurück gibt es auf der anderen Seite eine Gastwirtschaft. Die haben sicher Telefon, sodass du die Polizei anrufen kannst. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich freuen werden, dich zu sehen.«

Voss ergriff wieder den Arm der Frau und führte sie zum Auto, öffnete die Beifahrertür und bat sie einzusteigen.

Sie schaute ihn verblüfft an. Er konnte sich vorstellen, was sie gerade dachte, und sagte beruhigend: »Nur keine Scheu. Die Mistkerle wollten doch, dass Sie in dieses Auto einsteigen, also tun Sie ihnen den Gefallen. Ich werde Sie nach Hause fahren, damit Ihnen nicht noch ein Unglück passiert. Und wenn Sie mir bis jetzt getraut haben, dann können Sie es auch während der nächsten halben Stunde tun.«

»Natürlich traue ich Ihnen«, sagte sie und drückte ihm zur Bestätigung sanft den Arm. »Aber der Wagen gehört Ihnen doch nicht, den können Sie doch nicht einfach nehmen.«

»Aber sicher können wir das. Wir stehlen ihn ja nicht, sondern leihen ihn nur aus. Die Kerle werden uns mit Sicherheit nicht bei der Polizei anzeigen. Und vermutlich ist das Auto ohnehin geklaut.«

Die Frau trat erschrocken einen Schritt zurück, wollte etwas sagen, doch Voss packte sie erneut am Arm und drängte sie einzusteigen.

»Nun machen Sie schon. Wir können hier nicht ewig stehen bleiben. Wenn ein Auto kommt, dann fährt es in uns hinein. Bei der Sicht hat der Fahrer keine Zeit zum Bremsen.«

Die Frau folgte der Aufforderung, Voss ging um das Auto herum, hob seine Sporttasche auf, sah das Messer des Verletzten auf der Straße liegen, hob es mit einem Taschentuch auf, warf beides auf den Rücksitz und stieg ein. Der Zündschlüssel steckte. Er ließ den Motor an, legte einen Gang ein und fuhr im Schritttempo los.

Sie waren noch keine 100 Meter gefahren, als ihnen aus dem Nebel Scheinwerfer entgegenrasten. Sekunden später tauchte ein Auto auf und war sofort an ihnen vorbei.

»Junge, ist der verrückt. Bei der Sicht mit so einem Tempo zu fahren, ist glatter Selbstmord. Hätten wir noch da auf der Straße gestanden, dann wären wir mit Glück im Krankenhaus gelandet, mit Pech auf dem Friedhof.«

»Dann haben Sie mir schon wieder das Leben gerettet. Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Wie kann ich Ihnen nur jemals danken?«

Voss registrierte aus den Augenwinkeln, dass sie ihn ansah, und merkte, dass sie die Worte genau so meinte. Er ging nicht darauf ein, denn es war in der Nebelsuppe, ohne Anhaltspunkte links und rechts, schon schwer genug, die Spur zu halten. Die einzige Hilfe, die er hatte, war der Kantstein, den er nur etwa zwei Meter vor sich im Scheinwerferlicht auftauchen sah.

»Da wir nun gemeinsam durch die lauschige Novembernacht fahren und das Panorama genießen, möchte ich mich vorstellen, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Ich heiße Jeremias Voss.«

Die Frau kicherte. Dann sagte sie: »Mein Name ist Maria Magdalena Zapato.«

Ohne in seiner Konzentration nachzulassen, fragte Voss: »Spanierin?«

Sie schüttelte den Kopf. »Deutsche, aber in Mexiko geboren.«

»Sind Sie schon lange in Deutschland, Frau Zapato? Ich frage, weil Sie ohne jeden Akzent sprechen.«

»Seit meinem dritten Lebensjahr. Die ersten beiden Jahre in Köln, seitdem habe ich immer in Hamburg gelebt.«

»Dann sind Sie ja eine waschechte Hamburger Deern.«

»Danke fürs Kompliment.«

»Ihren Vornamen und ihrem Geburtsland nach müssen Sie katholisch sein, habe ich recht? Nur damit ich in Ihrer Gegenwart nicht über die Kirche lästere, was ich leider gern tue.«

Voss fragte sich, was ihm da gerade in den Sinn gekommen war, aber es konnte nicht schaden, sie durch Smalltalk von ihrem Erlebnis abzulenken.

Sie lachte leise, was ihm bestätigte, dass seine Methode die richtige war.

»Tun Sie sich meinetwegen keinen Zwang an. Ich bin weder katholisch, noch gehöre ich einer anderen Kirche an. Im Übrigen nennen mich meine Freunde Maria. Ich würde mich freuen, wenn ich Sie auch dazu zählen dürfte.«

»Gern, danke.« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch in dem Moment tauchten Nebelscheinwerfer im Rückspiegel auf, und kurz darauf wurden sie überholt.

»Sind denn heute nur Idioten unterwegs?«, fluchte Voss. »War das nicht das Auto, das gerade eben an uns vorbeigerast ist?«

»Ich glaube schon«, antwortete Maria zögerlich.

Voss hatte das Gefühl, dass sie etwas sagen wollte, aber nicht sicher war, wie. Da er nicht neugierig erscheinen wollte, fragte er nicht nach. Außerdem war eine andere Frage viel vordringlicher zu klären.

»Wo wohnen Sie?«

»Entschuldigung, ich wohne in der Heilwigstraße. Wissen Sie, wo das ist?«

Voss lächelte. »Dann sind wir ja Nachbarn. Ich wohne im Mittelweg. Wenn das kein Zufall ist.«

Maria Zapato erwiderte darauf nichts. Nachdenklich saß sie auf dem Beifahrersitz und starrte geradeaus. Erst als Voss wieder auf einer Hauptverkehrsstraße Richtung Außenalster fuhr, machte sie Anstalten, etwas zu sagen, schwieg dann aber doch. Die Sicht wurde etwas besser, Voss entspannte sich und blickte zu seiner Mitfahrerin hinüber.

»Ihnen liegt doch etwas auf dem Herzen. Die beste Methode, ein Problem aus dem Kopf zu bekommen, ist, nicht lange darüber nachzudenken, sondern es auszuspucken oder aufzuschreiben. Nur keine Scheu. Einem Fremden gegenüber ist es leichter als bei einem Vertrauten.«

»Ich glaube, Sie haben recht. Als ich den Wagen, der uns überholte, zum zweiten Mal, sah, dachte ich, es sei der eines Bekannten von mir. Er fährt einen ganz ähnlichen.«

»Vielleicht war es sogar Ihr Bekannter, der Sie abholen wollte. Obwohl … bei den Sichtverhältnissen konnten Sie eigentlich kaum etwas erkennen. Die Konturen waren zu verschwommen. Außer für die wenigen Sekunden, die er vor uns fuhr, bis ihn der Nebel wieder verschluckte.«

»Ich weiß, deshalb war ich ja auch unschlüssig, ob ich es überhaupt erwähnen sollte. Das mit dem Abholen halte ich für unmöglich. Ich habe niemandem gesagt, wo ich hingehe.«

»Dann sollten wir es als Irrtum oder Zufall abtun. Es hat keinen Sinn, darüber zu rätseln, denn schlauer werden wir dadurch nicht, und letztlich ist es auch egal, oder?«

»Ja, ich denke, Sie haben recht.«

»Darf ich eine persönliche Frage stellen? Sie brauchen nicht zu antworten, denn ich stelle sie aus reiner Neugier.«

»Mein Retter darf jede Frage stellen.«

»Was um alles in der Welt hatten Sie um diese Zeit bei dem Wetter in dieser verlassenen Gegend verloren?«

Maria lachte. Es war ein leises, melodisches, unaufdringliches Lachen. »Die Frage könnte ich Ihnen genauso gut stellen.«

»Kein Problem. Ich war bei einem Meister für asiatische Kampfsportarten, um zu trainieren.«

»Bei Meister Takamoto?«

Jetzt war Voss verblüfft. »Sie kennen ihn?«

»Nein, ich nicht, aber meine Freundin trainiert bei ihm. Bei dieser Freundin war ich heute Abend. Sie studiert wie ich Geologie.«

Voss ließ es dabei bewenden, obwohl die misslungene Entführung ihm merkwürdig vorkam. Es war ein geplantes Unternehmen gewesen, kein zufälliges Verbrechen, das stand für ihn fest. Dafür waren die Entführer zu zielstrebig vorgegangen. Warum? Dieser Frage würde er noch auf den Grund gehen.

Der Rest der Fahrt verlief schweigsam. Voss konzentrierte sich auf die Straße und den stärker werdenden Verkehr.

Das Haus, in dem Maria wohnte, war ein dreistöckiges Gebäude im Bauhausstil. Jedenfalls nahm Voss das an, denn es herrschten, soweit er es im Nebel erkennen konnte, klare Linien vor. Aber er war gewiss kein Fachmann, was Architektur anging.

Maria bedankte sich überschwänglich und bat ihn, mit ins Haus zu kommen. Voss lehnte mit Blick auf die Uhr ab, versprach aber, sich am nächsten Tag, einem Samstag, nach ihrem Befinden zu erkundigen. Er würde um elf Uhr vormittags vorbeikommen, wenn ihr das recht sei.

Voss wartete, bis Maria Zapato im Haus verschwunden war, und fuhr dann nach Hause. Er wohnte in einer Jugendstilvilla im Mittelweg. Im Hochparterre befanden sich die Büroräume seiner Agentur und im ersten Stock seine Wohnung. Er konnte sie sowohl über eine Treppe vom Foyer als auch vom Büro aus erreichen.

Voss nahm den Weg durchs Büro und stieg die Treppe hoch. Aus seiner Wohnung hörte er Gejaule. Er lächelte, schloss die Tür auf und stellte sich dicht daneben an die Wand. Dann stieß er die Tür mit dem Fuß auf. 55 Kilo Muskeln und Knochen stürzten sich auf ihn, umsprangen ihn, leckten ihn ab. Nero zeigte durch heftiges Schwanzwedeln und Winden des Körpers die frenetische Freude, die er verspürte, endlich seinen Herrn wiederzuhaben. Dabei war er nur drei Stunden weg gewesen. Es dauerte einige Zeit, bis er den Hund so weit beruhigt hatte, dass er die Wohnung betreten konnte, ohne umgeworfen zu werden.

Voss kraulte Neros mächtigen Kopf. Man sah dem Hund an, dass sich alle Straßenköter Istanbuls in seinem Stammbaum verewigt hatten. Durchgesetzt hatte sich – jedenfalls was den Kopf anging – eine englische Bulldogge. Die Schnauze war flach, aus dem Maul ragten zwei dicke, gelbe Reißzähne nach oben. Die zwei Fellwülste unter und die drei dicken Wülste über den Augen verstärkten das furchterregende Aussehen. Wer Nero erblickte, machte sicherheitshalber einen weiten Bogen um ihn.

Als Voss sich zum ersten Mal mit ihm bei seinen Freunden gezeigt hatte, waren sie entsetzt gewesen und hatten ihn gefragt, ob er geistig weggetreten gewesen war, als er sich dieses Monstrum angeschafft hatte. Wenn Voss auf solche Fragen überhaupt einging, dann sagte er gewöhnlich, dass nicht er Nero ausgesucht habe, sondern der ihn. Und wenn er besonders gut gelaunt war, dann erzählte er die wie ein Märchen anmutende Geschichte ihrer Freundschaft.

»Es war in Istanbul«, begann er in solchen Fällen gewöhnlich. »Ich musste auf den Abflug meiner Maschine nach Hamburg warten und vertrieb mir die Zeit in einem der großen Märkte. Während ich die Angebote eines Händlers betrachtete, spürte ich plötzlich etwas Weiches, das sich gegen meine Waden drückte. Im gleichen Moment hörte ich Geschrei und sah, wie ein Metzger in blutiger Schürze und einem Fleischermesser in der Rechten auf mich zu stürzte und dabei wütend etwas Unverständliches schrie. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er wollte auf mich losgehen. Ich war mir keiner Schuld bewusst, blickte nach unten und sah einen Welpen, der eine Wurst im Maul hatte, und eine weitere, die an die erste gebunden nach unten hing. Da ich schon immer eine Neigung hatte, Schwachen beizustehen, versuchte ich den Fleischer zu beruhigen, indem ich ihm 20 Euro anbot. Er nahm sie, drehte sich um und ließ mich mit dem Welpen allein. Zufrieden, ein gutes Werk getan zu haben, schlenderte ich weiter. Der Welpe folgte mir auf Schritt und Tritt, wobei er die teuersten Würste, die ich je gekauft habe, hinunterschlang. Ich scheuchte ihn weg, aber sobald ich mich umdrehte, war er wieder da. Alle lachten. Ich bot ihnen den Welpen als Geschenk an, darauf wurde das Lachen noch lauter. Schließlich fand ich einen Standbetreiber, der ihn mir abnahm, nachdem ich ihn für seine Güte mit 50 Euro bezahlt hatte. Ich ermahnte ihn, den Welpen gut anzubinden, damit er nicht davonlief. Als freier Mann verließ ich den Markt und überquerte eine viel befahrene Straße. Ich war noch nicht weit gekommen, als ich hinter mir ein Schnaufen hörte. Neugierig drehte ich mich um und sah zu meinem Entsetzen den Welpen mit heraushängender Zunge angelaufen kommen. Um seinen Hals hing ein Strick, an dessen Enden man erkennen konnte, dass er sich losgerissen hatte. Er sah mich mit so flehenden Augen an, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihn zu verscheuchen. Dass ich ihn adoptiert habe, werde ich nie bereuen. Obwohl er furchterregend aussieht, ist er lammfromm, außer er sieht jemanden mit einem erhobenen Messer, dann wird er zur Furie.«

Kapitel 2

Maria schloss leise die Tür hinter sich, zog die Pumps aus und lief auf Strümpfen die Treppe in den dritten Stock empor. Hier lagen ihr Apartment und das von Merle. Merle war ihre Busenfreundin, ihren Eltern gehörte die Villa. Die Apartments waren identisch und bestanden aus je einem Schlaf- und Wohnzimmer. Zwischen den Wohnungen lag das gemeinsame Badezimmer, das von beiden Schlafzimmern aus zugänglich war.

Darunter, im zweiten Stock, befanden sich das Elternschlafzimmer mit Ankleideraum und Bad sowie zwei Gästezimmer. Im Erdgeschoss lagen der Salon, ein Esszimmer, durch eine Schiebetür vom Salon getrennt, und das Büro des Hausherrn sowie Küche, Hauswirtschaftsraum und Gästetoilette. Auf der Rückseite des Hauses war ein Wintergarten an den Salon angebaut, von dem aus man in den gepflegten Garten gehen konnte. Von dort wiederum führte ein Weg bis zu einer Ausbuchtung der Außenalster, in dessen Verlängerung ein Steg ins Wasser reichte. Links daneben stand ein Bootshaus auf Pfählen. Darin lagen ein Jollenkreuzer und zwei Kajaks. Die Boote wurden ausschließlich von den beiden jungen Frauen genutzt.

Maria klopfte leise an Merles Tür, öffnete sie und steckte ihren Kopf ins Zimmer. Merle lag auf der Couch, Papiere waren ihr aus der Hand gerutscht und lagen teils auf dem Boden, teils auf ihrem Bauch. Eine Stehlampe beleuchtete ihren Oberkörper und tauchte den Rest des Zimmers in ein Halbdunkel.

»Bist du noch wach?«, flüsterte Maria.

Merle wandte den Kopf und blinzelte in Richtung Tür. »Ja, komm rein. Bin wohl für ein paar Minuten eingenickt.« Sie richtete sich auf und sammelte die Papiere zusammen. »Geschäftsberichte, das beste Schlafmittel. Hast du etwas auf dem Herzen, Maria?«

»Störe ich dich auch nicht? Es ist schon nach Mitternacht«, fragte sie zögernd.

»Unsinn, setz dich und erzähle. Dich bedrückt doch etwas. Ich sehe es in deinen Augen.«

Maria nahm Merle gegenüber in einem Sessel Platz. Einen Augenblick schwieg sie, während ihre Freundin sie eingehend musterte und abwartete. Maria war unschlüssig, wie sie beginnen sollte. Schließlich gab sie sich einen Ruck.

»Ich hatte heute Abend ein schreckliches Erlebnis. Ich sitze nur hier, weil mich ein Mann gerettet hat.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Die Worte taten Merle sofort leid, als sie sah, wie Marias Augen feucht wurden. Sie streckte eine Hand aus und ergriff die Rechte ihrer Freundin. »Komm her, setz dich zu mir.«

Mit sanfter Gewalt zog sie Maria zu sich hinüber, schlang einen Arm um ihre Schultern und drückte sie an ihre Brust. Maria fing an zu weinen. Die Anspannung löste sich mit den Tränen.

»Du bist ja völlig durch den Wind.«

Maria wollte etwas sagen, doch Merle kam ihr zuvor.

»Red jetzt nicht, mein Schatz. Nimm dir Zeit.« Merle streichelte ihr zärtlich über Haare und Rücken.

Es dauerte eine Weile, bis die Tränen versiegten. Dann hob Maria den Kopf und sah Merle mit einem verunglückten Lächeln an.

»Danke, dass ich mich bei dir ausheulen darf. Das tut gut.«

»Schon gut, dazu sind Freundinnen doch da.«

Merle nahm den Arm von Marias Schultern und stand auf. Sie ging zu einer weißen Schrankwand, öffnete das Barfach und füllte ein Wasserglas zu einem Drittel mit Wodka. Mit dem Glas in der Hand kam sie zu Maria zurück.

»Hier, trink!« Sie hielt ihr das Glas hin.

Maria hob es an ihre Nase und rümpfte sie im selben Moment.

»Igitt, Wodka. Davon bekomme ich keinen Tropfen runter, das weißt du doch.«

»Unsinn! Das ist kein Wodka, das ist Medizin, und Medizin muss nicht schmecken. Meinetwegen halt dir die Nase zu, aber schluck es runter, bis auf den letzten Tropfen.«

Und Maria setzte tatsächlich das Glas an die Lippen und kippte den Alkohol in einem Schluck hinunter. Dann schüttelte sie sich, als hätte sie Malaria. Aber sie fühlte, wie sich die Wärme vom Magen aus im Körper ausbreitete und sie sich zu entspannen begann.

Merle sah die Wirkung. Zufrieden ging sie ins Badezimmer, kam mit einer Packung Kleenex und Feuchttüchern zurück und reichte ihr beides.

»Danke, ich muss wohl schlimm aussehen?«

»Sogar schrecklich. Willst du dich lieber im Badezimmer erfrischen?«

»Später, im Augenblick tun’s die Tücher auch.« Maria wischte sich das Gesicht ab und nahm dann die Kleenex zum Trockenreiben. »Besser so?«

»Viel besser. Aber jetzt erzähl, was dir passiert ist.«

Erst stockend, dann immer flüssiger berichtete Maria von der versuchten Entführung und von Voss’ rettendem Eingreifen. Sie schilderte ihren Retter in so schillernden Farben, dass Merle bei allem Entsetzen beinahe eifersüchtig wurde. Das Gefühl hielt nur für eine Sekunde an, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt und schalt sich eine dumme Kuh.

»Da ist ja furchtbar. Ich mag es kaum glauben. Was kann das nur bedeuten?«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich habe niemandem etwas getan. Ich habe keine Feinde. Ehrlich, Merle, ich weiß es nicht, und wenn ich aufrichtig bin, kann ich noch nicht darüber nachdenken. Alles, was ich vor mir sehe und fühle, ist, wie mich die zwei Männer ins Auto zerren wollen.«

Bis zwei Uhr in der Frühe sprachen die beiden Frauen über das schockierende Erlebnis. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es Mädchenhändler gewesen sein mussten. Etwas anderes konnten sie sich nicht vorstellen.

Um Maria ein Gefühl von Sicherheit zu geben, bot Merle an, dass Maria die Nacht bei ihr im Zimmer verbringen konnte, aber Maria lehnte ab. In dem Bett, in dem vor Kurzem erst Merles Freund gelegen hatte, wollte sie nicht schlafen.

Bevor sie in ihr eigenes Apartment ging, überredete Merle sie noch zu einem weiteren Drink.

Am nächsten Morgen war Merle bereits um sieben Uhr auf den Beinen. Sie machte ihre Morgentoilette so leise wie möglich, um ihre Freundin nebenan nicht zu wecken. Als sie fertig war, schaute sie in Marias Schlafzimmer. Sie schlief noch. Leise schloss sie die Tür, ging ins Schlafzimmer zurück und zog sich Tenniskleidung an. Um acht Uhr war sie mit einem Freund in der Tennishalle verabredet.

Als sie gegen zehn Uhr zurückkam, saß Maria angekleidet und zurechtgemacht in ihrem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer. Vor ihr standen ein Notebook und ein Becher Kaffee.

Merle klopfte an und steckte den Kopf durch den Türspalt, wie sie es immer tat, wenn sie annahm, dass Maria allein war.

»Darf ich reinkommen?«

»Natürlich. Möchtest du auch einen Kaffee? In der Thermoskanne draußen ist noch genügend.«

Neben dem gemeinsamen Badezimmer gab es auch eine Pantry-Küche für beide. Sie lag vor dem Badezimmer und konnte nur vom Flur aus betreten werden.

»Wunderbar, ich hol mir schnell was.«

Sie kam zurück und setzte sich, die Tasse mit beiden Händen umschlossen, neben ihre Freundin.

»Wie geht es dir? Konntest du nach der Aufregung schlafen?«

»Geht schon wieder. Das Gespräch mit dir hat mir gutgetan. Dadurch kreisen die Gedanken nicht mehr so im Kopf herum. Und der Schnaps hat mir wohl den Rest gegeben, denn ich habe bis acht Uhr durchgeschlafen. Ehrlich, mir geht es viel besser. Du bist eine gute Therapeutin.«

»Muss ich wohl sein, wenn du am Morgen schon so gestylt bist. Hast du etwas Bestimmtes vor?«

»Ich hoffe. Herr Voss hat gesagt, dass er sich heute Vormittag bei mir melden will.«

»Der Herr Voss – so, so. Will wohl sein Rettungswerk bei Tageslicht begutachten.«

»Sei nicht so ironisch. Ich finde es eine äußerst nette Geste von ihm.«

»Äußerst nett, dein Herr Voss. Was weißt du überhaupt von ihm?«

»Bist du etwa eifersüchtig?«

»Wo denkst du hin? Ich wollte dich nur etwas aufziehen«, antwortete Merle nicht ganz aufrichtig. »Trotzdem, was weißt du über ihn?«

»Eigentlich nur, was ich erlebt habe, und da kam er mir wie ein Held oder rettender Engel vor. Aber das Internet weiß eine Menge Konkretes über ihn.«

Maria verschob das Notebook so, dass Merle den Blog, den sie aufgerufen hatte, lesen konnte.

»Das scheint ein ehemaliger Klient von ihm geschrieben zu haben. Das Netz ist voll von ähnlichen Artikeln. Dieser ist der vollständigste, den ich gefunden habe.«

Merle zog das Notebook etwas dichter zu sich heran und las:

Hallo, liebe Freunde und Leser. Heute möchte ich euch in meinem Blog »Bekannte Kriminalfälle und ihre Ermittler« einen Mann vorstellen, der als der bekannteste und erfolgreichste Privatermittler der Hansestadt gilt, aber auch weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt ist. Er heiß Jeremias Voss und hat seine Agentur für vertrauliche Ermittlungen am Mittelweg in Hamburg.

Wie er gewöhnlich sagt, liegt die Ursache seines Erfolgs darin, dass er immer versucht, mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten. Er hat selbst einmal zur Polizei gehört. Seine Ausbildung und Lehrzeit fand bei der Hamburger Polizei statt, danach wechselte er zum Landeskriminalamt und ging von dort zur GSG 9, der Spezialeinheit der Bundespolizei. Ein Dienstunfall beendete seine Laufbahn frühzeitig. Während eines Einsatzes stürzte er mit dem Hubschrauber, den er selbst flog, ab und erlitt schwere Verletzungen. Er verbrachte Monate in verschiedenen Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken.

Da ein Schreibtischjob für ihn keine Alternative war, nahm er seinen Abschied und gründete seine eigene Detektivagentur.

Seine Ermittlungserfolge sprachen sich schon bald herum, sodass er sich die Fälle inzwischen aussuchen kann. Soweit ich recherchieren konnte, hat er bisher alle Fälle gelöst.

»Wow, das klingt ja unglaublich. Und du denkst, dieses Prachtexemplar ist dein Voss? Der Name ist ja nicht gerade selten.«

»Liebste Merle, er ist nicht mein Voss. Ja, ich denke, dass er es ist, denn er hat sich mit Jeremias Voss vorgestellt und gesagt, dass er im Mittelweg wohnt. Und wenn ich daran denke, wie er die Kerle erledigt hat, dann spricht das für eine professionelle Ausbildung.«

»Du könntest recht haben. Wenn er tatsächlich kommt, dann verkriech dich nicht mit ihm in deine Wohnung, sondern stell ihn mir vor. Ich muss dieses Exemplar von einem Mann kennenlernen. Ich platze vor Neugier.«

Maria sah Merle an und lachte. »Sag mal, bist du 30 oder 17? Du hörst dich an wie ein Teenager.«

Merle stupste sie in die Seite. »He, mach mich nicht älter, als ich bin. Ich bin 29.«

»Also erheblich älter als ich mit meinen 26.«

»Vergiss nicht die elf Monate und zehn Tage. Du hast bald Geburtstag. Was ist mit dir los heute Morgen? Du bist gar nicht charmant.«

»Das tut mir leid, entschuldige.«

Merle wollte gerade antworten, als Maria hinzufügte: »Ich werde nie wieder die Wahrheit sagen.«

»Hexe!« Merle streckte ihr die Zunge heraus.

Maria sah auf die Uhr. »Komm, lass uns runter gehen. Es ist gleich elf Uhr.«

Die beiden Frauen hatten gerade das Foyer erreicht, als es klingelte. Maria eilte zur Tür und wollte sie öffnen, als Merle aufgeregt rief: »Schau erst auf den Bildschirm. Du kannst doch nicht einfach so die Tür öffnen, nach dem, was du erlebt hast.«

Maria sah auf den Bildschirm neben der Tür. Die Videokamera, die den Eingangsbereich überwachte, zeigte Jeremias Voss, wie er ins Objektiv lächelte.

»Er ist es«, rief Maria.

Merle konnte an ihrer Stimme erkennen, wie aufgeregt sie war. Ein seltener Anblick, denn normalerweise war Maria die Ausgeglichenere von ihnen. Es gehörte schon einiges dazu, sie aus der Ruhe zu bringen. Diese Veranlagung war wohl auch der Grund, warum sie das Erlebnis von gestern so schnell und ohne sichtbare Folgen verkraftet hatte.

Maria drückte auf den Knopf unter dem Bildschirm, und die Gartenpforte schwang zurück. Dann öffnete sie die Haustür und trat auf den Treppenabsatz.

Voss kam ihr mit einem Lächeln entgegen. In der Hand hielt er einen Strauß gelber Rosen. Es waren offenbar die einzigen Blumen, die er um diese Jahreszeit bekommen hatte und die nicht nach Friedhofsblumen aussahen.

Maria lächelte ihn an. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, denn nun kann ich Ihnen sagen, wie …«

»Halt, Maria, wenn Sie das wiederholen, was Sie bereits gestern überschwänglich getan haben, renne ich davon.« Der verschmitzte Ausdruck in seinem Gesicht nahm den Worten jede Schärfe.

»Um Himmels willen. Das ist das Letzte, was ich möchte. Deshalb werde ich schweigen.«

»In diesem Fall wünsche ich Ihnen nicht nur einen guten Tag, sondern möchte Ihnen diese Rosen überreichen. Eigentlich waren sie als Stimmungsaufheller gedacht, doch wie ich sehe, haben Sie so etwas gar nicht mehr nötig.«

Voss hielt ihr mit einer leichten Verbeugung die Rosen hin. Maria nahm sie entgegen und roch daran.

»Ich danke Ihnen, Jeremias. Ich darf Sie doch so nennen?«

»Aber selbstverständlich.«

»Die Rosen sind sehr hübsch. Gelb ist meine Lieblingsfarbe. Ich werde sie gleich ins Wasser stellen, damit sie lange halten. Bitte kommen Sie herein.«

Voss folgte ihr ins Foyer, in dem sich, wie es der Zufall wollte, Merle aufhielt.

Maria musste lächeln, als sie ihre Freundin mit einem völlig unschuldigen Gesicht dort sitzen sah. Sie hatte die rechte Hand auf der Türklinke zum Salon platziert. Für jeden anderen als Maria musste es so aussehen, als wäre sie gerade aus dem Salon gekommen.

»Merle, schön, dass du gerade kommst. Ich hatte dich gar nicht erwartet. Darf ich die Gelegenheit nutzen, dir Herrn Voss vorzustellen? Wie ich dir gestern erzählt habe, hat er mich aus den Fängen der Entführer befreit. Herr Voss, das ist Merle Witthus, meine beste Freundin.«

Merle trat auf Voss zu. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Es ist nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Sie nicht eingegriffen hätten.«

Voss deutete eine Verbeugung an und ergriff ihre Hand. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Auch wenn es unhöflich erscheinen mag, darf ich trotzdem darum bitten, dass wir nun mit dem Süßholzgeraspel aufhören? Sie bringen mich sonst so in Verlegenheit, dass ich kein Wort mehr herausbringe.«

Die beiden Frauen lachten.

»Das ist das Letzte, was wir möchten«, sagte Merle und fügte hinzu: »Aber eine Tasse Kaffee dürfen wir Ihnen doch anbieten?«

Voss war von der Art und Weise, wie sich die Damen gaben, angetan.

»Kaffee ist ausdrücklich angenommen. Es muss auch nicht unbedingt bei einer Tasse bleiben.«

»Unter diesen Umständen, Herr Voss, bitte ich Sie einzutreten.«

Merle hielt die Tür zum Salon auf.

Der war groß. Voss schätzte ihn auf gut 50 Quadratmeter. In der Mitte stand eine Sitzgruppe. Sie beherrschte den ganzen Raum und bot, wie Voss überschlug, Platz für ein Dutzend Personen. Sie war so raffiniert arrangiert, dass der Besuch sowohl auf die Alster als auch auf den offenen Kamin blicken konnte. Die restliche Einrichtung bestand aus antiken Vitrinen und Schränken. Er schätzte sie auf die Rokoko- oder Empire-Epoche.

Der Boden war mit orientalischen Teppichen bedeckt. Aus welcher Ecke des Orients sie stammten, konnte er nicht sagen. Die Sitzgruppe war weder antik noch hypermodern, sondern einfach nur bequem, wie er bald darauf feststellen konnte. Der Hausherr war ihm sofort sympathisch.

Nachdem Merle Kaffee und Kekse serviert hatte, glich die Unterhaltung einem Tischtennisspiel. Die humorvollen, teils ironischen Beiträge flogen wie kleine Bälle hin und her. Voss liebte diese Art der Konversation, und er war erstaunt, wie schlagfertig die beiden Frauen waren, wobei sich Merle etwas spritziger gab als ihre Freundin.

Voss erfuhr auf diese Weise, dass Marias Vater dem mexikanischen Konsulat in Hamburg angehört hatte, dass ihre Mutter eine Deutsche gewesen war, dass ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, sie weder Verwandte in Deutschland noch in Mexiko hatte, sie ihr Studium mit Studentenjobs verdiente, dass sie schon lange mit Merle befreundet war und bei den Witthusens umsonst wohnte.

Als Voss davon überzeugt war, dass Maria ihre Fröhlichkeit nicht nur vorspielte, beendete er das Geplänkel und kam auf den Vorabend zu sprechen.

»Mich lässt der Gedanke nicht los, woher die Männer wussten, wo Sie waren und welchen Weg Sie nach Hause gehen würden. Wer wusste davon, dass sie eine Kommilitonin besuchen würden?«

Maria zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ein Geheimnis haben wir daraus nicht gemacht, aber dass ich gestern Abend dorthin gehen würde, habe ich niemandem erzählt. Ob Elly Brixon es irgendjemandem gegenüber erwähnt hat, weiß ich natürlich nicht.«

»Nehmen Sie immer den gleichen Weg?«

»Gewöhnlich ja, es sei denn, ich will auf dem Rückweg noch etwas erledigen.«

Voss war mit den allgemein gehaltenen Antworten nicht zufrieden, deshalb fragte er nach. »Die Männer, die Sie überfallen haben, wussten über Ihre Gewohnheiten genau Bescheid. Sie kannten den Tag, die Zeit, den Weg. Sie wussten, dass Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren würden und nicht mit dem Auto. Haben Sie eine Vorstellung, wer diese Details kennen könnte?«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich habe mir diese Fragen auch schon gestellt, finde aber keine Antworten darauf. Nur mit dem Auto fahre ich nie. Ich besitze keins. Ich kann es mir nicht leisten, und hier in Hamburg brauche ich auch keins.«

»Dann komme ich noch mal auf die erste Frage zurück: Wer wusste, dass Sie gestern Abend zu Frau Brixon wollten? Bitte denken Sie genau nach.«

»Da brauche ich nicht lange nachzudenken. Merle wusste es und natürlich Elly und jeder, der in der Uni eventuell mitgehört hat, wie ich zu Elly sagte, dass ich am Abend zu ihr kommen würde und ob es ihr um sieben Uhr passen würde. Wir haben am Ausgang des Hörsaals darüber gesprochen.«

»Könnte es nicht sein, dass ihr jemand von hier gefolgt ist?«, warf Merle ein.

»Auch eine Möglichkeit«, sagte Voss. »Das bringt uns zu der Eine-Million-Euro-Frage. Warum wollte jemand Maria entführen?«

»Auch diese Frage habe ich mir schon x-mal gestellt, ohne den Hauch einer Antwort zu finden. Ich habe nichts. Ich bin nichts. Ich bin ein Niemand.«

Merle und Voss protestierten sofort, doch im Grunde wusste Voss, dass Maria recht hatte. Aus materieller Sicht war es so, wie sie gesagt hatte. Sie besaß kein Vermögen und war mit niemandem verwandt, von dem die Entführer Lösegeld erpressen konnten, und dass Witthus Lösegeld für sie zahlen würde, war auch unwahrscheinlich.

Eine Zeit lang diskutierten sie dieses Problem, doch eine plausible Antwort fanden sie nicht.

Nach einer Dreiviertelstunde hielt Voss es für an der Zeit, seinen Besuch zu beenden. Er erhob sich und bedankte sich für die Erfrischung. Die Damen begleiteten ihn zur Tür. Er wollte sich gerade verabschieden, als ihm noch eine Frage einfiel. Er wandte sich an Maria.

»Sie erwähnten gestern, dass Sie glaubten, das Auto, das uns zweimal begegnete, erkannt zu haben. Was meinten Sie damit?«

Maria zögerte. Voss merkte, dass sie nicht wusste, wie sie antworten sollte. Schließlich sagte sie: »Ich glaube, ich habe mich getäuscht. Die Sicht war ja auch zu schlecht.«

»Ich kann Sie gut verstehen, Maria. Sie wollen niemanden in Verdacht bringen. Normalerweise halte ich diese Charaktereigenschaft für begrüßenswert, und ich wünschte mir, viele Menschen würden so denken, doch in Ihrer Lage wäre es besser, Sie würden mir sagen, an wen Sie gedacht haben.«

Merle stupste ihre Freundin an. »Nun sag schon. Es bleibt ja zwischen Herrn Voss und mir, und wir beide gehen damit nicht hausieren, oder sehen Sie das anders, Herr Voss?«

»Natürlich nicht. Auf meine Verschwiegenheit können Sie sich verlassen. Das verlangt mein Beruf.«