Es beginnt alles ganz harmlos: mit dem Gefühl, dass jemand im Haus war, mit Spuren von schmutzigen Schuhen auf der Treppe, fettigen Fingerabdrücken auf dem Badezimmerspiegel. Dann verschwinden Dinge oder, noch rätselhafter, es tauchen andere auf. Bis schließlich eine von ihnen weg ist: Anna, die Harmloseste, Unscheinbarste von allen. Die Dorfbewohner beginnen sich zu bewaffnen, sie haben Angst vor dem Einbrecher, sie haben Angst um Anna, doch je heißer die Tage, je intensiver die Suche, desto mehr bekommen sie Angst voreinander. Der neue Seelsorger, die unglückliche Ehefrau, der netteste Polizist der Welt, kann einer von ihnen der Fox sein?

Harriet Cummings Debüt ist spannend, stilsicher und raffiniert – den Abgründen dieser Dorfidylle entkommt man nicht!

 

Deuticke E-Book

Harriet Cummings

 

Eine von uns

 

Roman

 

Aus dem Englischen von Walter Goidinger

 

 

Deuticke

Vorwort

Im Sommer 1984 wurden die Einwohner einiger Dörfer in den Chiltern Hills von Berichten über einen unbekannten Eindringling aufgeschreckt, der Einbrüche in Häuser und Wohnungen verübte.

Was er wollte, war nicht klar. Fenster standen unvermittelt offen, persönliche Gegenstände lagen an einem anderen Ort, und Hintertüren schlugen im Wind. Es fehlten jedoch keine Wertgegenstände – eine Tatsache, die die Einbrüche fast noch beunruhigender erscheinen ließ. Kein Mensch verstand, was diese Person beabsichtigte oder in Zukunft noch vorhatte.

Die Lokalzeitungen gaben ihm rasch den Namen The Fox (der Fuchs), und dies nicht nur deshalb, weil er sich mit großem Geschick heimlich in die Nacht hinaus davonzustehlen verstand, sondern auch, weil einige Bewohner in ihren Schlafzimmern Veränderungen entdeckten, die an tierische Höhlen oder Baue erinnerten.

Verständlicherweise machte sich in der Gegend eine hysterische Stimmung breit. Selbst bei größter Hitze blieben die Fenster geschlossen. Alle möglichen Alltagsgegenstände prüfte man auf ihre Tauglichkeit als Waffen, um für den Fall eines Angriffs gerüstet zu sein. Bis dahin war es in diesen Dörfern durchaus üblich gewesen, die Hintertüren der Häuser unversperrt zu lassen oder die Schlüssel unter den Fußabstreifern zu verstecken. All das änderte sich in diesem Sommer.

Auf einmal legten sich die Leute Gewehre auf ihre Nachtkästchen und spannten Stolperdrähte quer über den Rasen. Nachbarn betrachteten einander mit Misstrauen und begannen sich zu fragen, wie gut sie die seit Jahren nebenan wohnenden Menschen eigentlich kannten.

 

Dieser Roman ist inspiriert von den Geschichten, die sich die Dorfbewohner bis zum heutigen Tag erzählen.

Eine von uns

Prolog

Beinahe lautlos ist er, der Fox. Leichte Schritte über feuchtes Sommerlaub. Sie späht zurück durch die Silberbirken, deren Stämme blass wie Gebein in der Abenddämmerung.

Wie ein Tier, sagen sie, aber mit Händen, um eure Türschlösser zu knacken. Und mit flacher Atmung, um sich unter deinem Bett zu verstecken und auf das erste Quietschen der Matratze zu warten.

Sie fängt zu rennen an. Der Weg wird enger, Brombeerhecken reißen an ihrem Kleid, an ihrer Haut. Der Regen klatscht auf Wasserpfützen in der festgetretenen Erde, glitschiger Boden unter ihren Knöcheln. Spiegelt sich da ein Gesicht in den dunklen Oberflächen? Ein Schnüffeln im Farn?

Sie hastet weiter, auf den Bach zu, mit taumelndem Herzen, groß und blutig, kräftigen Schrittes.

Der Fox ist noch jeder Polizeisirene entwischt, ungesehen durchs Dorf gehuscht.

Wenn sie bis zum Bach kommt, könnte sie es schaffen. Das strömende Wasser – ein Stock, nachhause geschickt.

Doch der Fox ist hinter ihr, folgt wie ein Schatten jedem ihrer Schritte.

Finger erscheinen und schließen sich zum festen Griff.

Ein Schrei als heißer Atem gegen die Hand.

Teil eins

 

Kapitel eins

 

Parfüm

 

Deloris glotzt. Erstarrt vom Glitzern und Glänzen im holzverkleideten Fernseher.

»O J.R., wie konntest du bloß?«

Ihr Gesicht ist in einen bläulichen Farbton gehüllt, der restliche Körper verliert sich im schummrigen Wohnzimmer. Es flimmert und flirrt um ihre großen Augen und ihre Lippen, die sie fest zusammenpresst.

»Nach allem, was wir durchgemacht haben … Du hast alles kaputtgemacht.«

Deloris’ Finger krümmen sich einwärts, sodass der Lack ihrer Fingernägel Muster bildet, und im Samt der Sofalehne darunter zeichnen sich sanfte Spuren ab.

»Na komm schon, Sue Ellen, ich hab einen Fehler gemacht.«

»Geh bloß weg! Ich will dich nie wiedersehen.«

Als die Musik einsetzt – eine Abfolge forscher, metallischer Töne –, vibriert das Fernsehgerät. Deloris dreht immer so laut auf, dass die Stimmen dröhnen und knistern und sie sich völlig verliert in den galoppierenden Hufen oder dem Motorenlärm eines Ford Mustang. Jetzt laufen die Schauspielernamen über den Bildschirm. Schluss für heute; Deloris fühlt sich leer. Immer diese offenen Enden in den Fernsehserien! Sie bleibt ein paar Minuten im Dunkeln sitzen und lässt die letzte Szene nochmal Revue passieren: die Auflösung einer der unberechenbarsten Liebesbeziehungen in ganz Dallas. J.R. war zwar noch nie ein Frauenverächter, doch eine Weile waren er und Sue Ellen einander tatsächlich in Zuneigung verbunden gewesen und hatten sich durch das ganze Programm getändelt, mit Verlieben, Verloben, Heiraten – ein Leben mit perlenden Champagnergläsern und Umarmungen unter dem gewaltigen texanischen Himmel. Doch dann kam Holly Harwood daher. Braungebrannte, athletische Beine und ein Lächeln, das just dann aufblitzte, wenn J.R. den Raum betrat. Deloris fragt sich, ob Sue Ellen ihn zurücknehmen würde, und ob sie das tun sollte. Sie kommt zu keinem Schluss, und im Fernseher läuft jetzt eine Werbung für Camay-Seife. Für die Frau, die sich bewusst verwöhnen will. Sie ist in ihren eigenen Körper zurückgekehrt, in einem kleinen englischen Dorf, ein paar tausend Kilometer entfernt vom texanischen Lone Star State.

Deloris rappelt sich hoch. Sie sollte ihren Einkauf versorgen. Der steht seit über fünfzig Minuten herum, und die Margarine wird sich schon weich ans Wachspapier schmiegen. Nachdem sie die Vorhänge geöffnet hat, geht sie durchs Wohnzimmer und den langen Flur mit seinen schmucklosen Wänden. Die Küche ist stickig und riecht nach dem neuen Plastikboden. Auf der Kücheninsel haben die Krabben zu tauen begonnen und auf dem Boden eine kleine Pfütze hinterlassen. Bloßfüßig zeichnet sie mit der großen Zehe ein Muster hinein.

Den Abwasch lässt sie jetzt mal bleiben. Harvey sagte, gut möglich, dass sie sich einen Geschirrspüler zulegen, falls es beruflich weiter so gut läuft. Sie hat bereits das Autumn-Leaves-Teeservice, einen SodaStream-Trinkwassersprudler und einen Mikrowellenherd, den sie in drei Monaten allerdings nur ein einziges Mal benutzt hat: was für ein Dröhnen und Tellerwirbeln! Da hatte ihre Mum schon recht: Sowas ist nicht natürlich. Alles in allem, denkt sie, ist das ein traumhaftes Zuhause, wie eines von denen, das sie in den Schöner-Wohnen-Heften zeigen. Die Zimmerdecken mit Wischmustern, die aussehen wie Windgebäck, wenn du lange genug hinstarrst. Und lange Kleiderschränke mit leeren Kleiderhaken in einer Reihe, die leise klirren, wenn sie sie anstupst. Mit vierundzwanzig ist sie verheiratet und hat beinahe alles, was eine Frau sich nur wünschen könnte.

Sie muss lächeln, wenn sie daran denkt, wie platt ihre Mum und ihre kleine Schwester gewesen waren, als sie ihr beim Einziehen halfen. Wie sie das Wasserbett im Gästezimmer betatschten und sich über den Fernseher wunderten, der doppelt so groß wie ihr eigener sein mochte. Sharon meinte kichernd, nun müsse Deloris keine Poster mehr an die Wand kleben, um orange Tapeten zu überdecken, und mit gespielter Ernsthaftigkeit fügte sie hinzu, Deloris sei nun richtig erwachsen. Dennoch: Als die letzten Kartons ausgepackt waren und die beiden sich verabschiedeten, füllten sich Deloris’ Augen mit Tränen. »Du hast echt Glück gehabt«, sagte ihre Mum, die darauf bestand, lieber den Bus zum Bahnhof zu nehmen als auf Harvey zu warten, dass der sie fährt. Das habe ich, sagte Deloris sich, während sie in ihren schäbigen Pullovern die Hauszufahrt hinausgingen und ehrfürchtig auf das Nachbarhaus zeigten, das um nichts kleiner ist als ihres.

Allerdings: In letzter Zeit fällt Deloris immer wieder auf, wie viel Zeit sie jeden Tag damit zubringt, Weberknechte zu beseitigen und Gläser zu waschen. Oder die Gardinen glattzustreichen, die sich in den Nippes-Eulen verfangen, die sie in unanständigen Sexstellungen angeordnet hat. Es ist verlockend, um die Möbel nur außenrum zu saugen, und immer öfter lässt sie sich dazu hinreißen, so wie es ihr auch zunehmend egal ist, wenn der Sog des Geräts dabei zu Boden gefallene Kugelschreiber oder Steinchen in seinen Zylinder hineinreißt. Selten leert sie den Sack aus, der meist bis zum Bersten angefüllt ist.

»So funktioniert das nicht«, hat Harvey sie vor einer Weile gemahnt.

Sie tat so, als würde sie den Sack raustragen, blieb aber auf dem Treppenabsatz stehen und gab sich der Vorstellung hin, eine Explosion aus silbrigem Staub würde seinen gesamten Kleiderschrank mit den Anzügen, Krawatten und Golfhosen bedecken. Nur die Plateau-Pumps sollten verschont bleiben, die er ihr gekauft hatte und die – inzwischen außer Mode gekommen – noch immer im Original-Einkaufskarton verpackt sind.

Gegen die Küchenzeile gelehnt, schlägt Deloris seufzend das Kochbuch auf, das sie sich in der Aylesbury-Bibliothek geliehen hat. Ein Knarren im ersten Stock irritiert sie kurz, aber für Ablenkungen hat sie keine Zeit. Was jetzt zählt, ist der kommende Abend, den muss sie unbedingt gut hinkriegen. Nachdem sie einen Krümel, den irgendwer dort hinterlassen hat, vom Buchrücken gewischt hat, schlägt sie die Seite mit den Krabbencocktails auf – das Rezept sieht einigermaßen einfach aus. Ein sehr ordentlicher Mittelschulabschluss mit College-Zulassung sollte doch für ausreichend Intelligenz bürgen, um etwas Mayonnaise aufzuschlagen.

Das laufende Handrührgerät macht die Luft in der Küche gleich noch heißer. Verlockend, das Fenster zu öffnen, aber sie hat Harvey versprochen, das nicht zu tun. Ich will nicht, dass dir wehgetan wird, sagte er. Nicht von so einem Verrückten. Deloris macht sich wieder bewusst, dass sie keine Angst vor jemandem zu haben braucht, der nichts Wertvolles gestohlen hat. Drei Anzeigen, aber kein wirklicher Schaden, bloß ein paar offen gelassene Türen, und bei Elsie eine fehlende Ansichtskarte. Bei den Watkins gab’s Griffspuren an der Außenseite des Esszimmerfensters. Im Grunde nichts Weltbewegendes.

Schließlich kommt Deloris aus Croydon und ist an Raub- und Einbruchsgeschichten gewöhnt. Vor gar nicht so langer Zeit haben sie dort eine Verkehrspolizistin mit einem Ziegel niedergeschlagen, was ihrem Vater nicht mehr als ein kurzes Aufblicken wert war, ehe er sich wieder seiner Sportseite zuwandte. Und dennoch hat das Leben hier was Nervtötendes, in diesem ringsum von Wäldern eingeschlossenen Dorf. Unmittelbar anschließend an ihre Terrasse treten die Silberbirken als eine Reihe geisterhaft-weißer Gestalten in Erscheinung. Und dahinter: ohne Ende dicht stehende Bäume, dunkel mit dürren Ästen. Nichts weiter, woran sich ihre Augen heften könnten. Harvey sagt, dass die Mittelschicht das Leben auf dem Lande anstrebt. In so einem Dorf in Buckinghamshire, mit einer Auszeichnung für seine geschützten Wälder. Für sie wiederum hat auch der Londoner Beton durchaus was Tröstliches, die Parkgaragen und die plärrenden Radios; Ladenbesitzer, die draußen auf der Straße herumstehen und dir nachpfeifen, wenn du vorbeigehst. Und Menschenmengen, in denen du nicht auffällst. Hier ist sie halt sehr allein mit nichts weiter als ihrer Seelenruhe.

Es ist aber auch wirklich schwer, das Gerede der Dorfleute zu ignorieren. In den getuschelten Unterhaltungen geht’s um Schritte übers Pflaster, um einen nachts bellenden Hund. Jetzt hat der Eindringling auch einen Spitznamen, wie sie vor drei Tagen im Postamt mitbekommen hat.

Deloris schmökerte in der neuesten Ausgabe des Smash-Hits-Magazins, neben ihr stand Elsie, die geräuschvoll das Lokalblatt durchblätterte. Ihre Wege schienen sich mehrere Male die Woche zu kreuzen, wobei die ältere Frau sie stets schüchtern anlächelte, ohne aber die Konversation mit ihr zu suchen, wie sie das mit den anderen Dorfleuten tat.

Als Stan reinkam, leuchteten Elsies Augen auf.

»Wieder ein Bericht«, zischte sie.

»Echt wahr?«, sagte er und blieb neben ihr stehen. Seine frisch rasierte Haut wirkte blass im Kontrast zur Supermarktuniform. Wenn Deloris ihn sieht, wie er die Einkaufswagen im hiesigen Budgens-Supermarkt ordnet oder auf Reihen von Suppendosen starrt, kommt ihr jedes Mal vor, als wäre er hier fehl am Platz, und gelegentlich fragt sie sich, ob er wohl dasselbe von ihr denkt.

Er setzte sich die Schildpattbrille auf und warf einen prüfenden Blick auf den Artikel, aber Elsie las ihn ohnehin vor.

»Offenbar hat Elizabeth Robinson vor ein paar Nächten über ihrem Bett eine Figur gesehen. Da steht, sie spürte, wie ein Schatten über sie hinweghuschte, und hörte jemanden atmen, war aber zu schockiert, um ihren Mann aufzuwecken

Für einen Augenblick trafen sich die Blicke der beiden Nachbarn, und Deloris vergaß den Artikel in ihrer Zeitschrift, um näher an die beiden heranzurücken.

»Da steht’s«, wisperte Elsie. »Neben der Eingangstür war eine Brieftasche, auch andere Wertsachen lagen herum, aber er hat nichts genommen. Wozu ist er dann gekommen?«

Stan hörte schweigend zu, während die Frau weiterlas. »Sie nennen ihn The Fox. Wie es scheint, bricht er ein und beobachtet die Menschen. Und dann verschwindet er ebenso schnell, wie er gekommen ist.«

»Wahrscheinlich bloß ein gelangweilter Jugendlicher«, mischte sich Deloris ein. »Harmlos.«

Elsie fiel die Kinnlade runter: »Wie bitte?«

»Das wollen wir mal hoffen«, sagte Stan rasch, »die Zeitungen bauschen die Dinge immer so grenzenlos auf.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, allerdings nicht ohne besorgt dreinzuschauen und beiden Frauen seine Begleitung auf dem Nachhauseweg anzubieten.

Seither wägt Deloris mit sich ab, was dafür und was dagegen spricht, sämtliche Fenster verriegelt zu halten. Soll sie den Ersatzschlüssel rausholen, der unter der Mülltonne auf seinen Einsatz wartet, falls sie sich mal aussperren sollte? Bislang hat sie alles unverändert gelassen – immerhin scheint die Polizei nicht allzu besorgt zu sein.

Deloris lauscht auf die Geräusche im Haus. Ist da ein Klicken zu hören, im oberen Stockwerk? Vielleicht ein Heizkörper, obwohl die ja seit März ausgeschaltet sind.

Sie geht nach oben und trampelt mit den Füßen gegen die Fußbodendielen. Die Badezimmertür ist einen Spalt weit offen; das Handtuch, das sie zum Trocknen aufs Geländer gehängt hat, ist perfekt ausgerichtet. Sie trampelt nochmal fester, um den Zauber zu brechen. Oder um wen auch immer wissen zu lassen, dass sie kommt. Aus dem Badezimmer lugt eine braune Schuhspitze zur Tür heraus. Ihr Atem stockt, ihre Wangen glühen kurz auf. Aber es ist nur ihr Hauspantoffel, auf dem Teppich vergessen, wie ihr jetzt lachend bewusst wird. Alles andere wirkt normal: die aufgereihten Toilettenartikel entlang der Badewanne, das pfirsichfarbene Zierdeckchen über dem Spülkasten.

Sie überlegt, wie schrecklich es wäre, jetzt zu sterben, wo sie noch so wenig erreicht hat. Zumindest wäre sie dann berühmt – ihr Foto in der Zeitung. Welches sie wohl nehmen würden? Hoffentlich eines von der Schulabschlussparty, nicht ihr Hochzeitsfoto, auf dem sie wie jemand anderer aussieht, eingepackt in Tonnen von weißem Stoff, und mit diesem Mieder, das ihr den ganzen Nachmittag in die Rippen gestochen hat. Deloris schüttelt den Kopf und macht ein paar Schritte über den Treppenabsatz. Ein Schritt, zwei Schritte, drei. Sie steht vor ihrer Schlafzimmertür und berührt unschlüssig mit den Fingerspitzen die Außenkante des Türrahmens. Dann drückt sie dagegen, der Teppich reibt an der Tür, die sich immer weiter auftut. Kein Widerstand. Sie drückt weiter, aber das Zimmer ist leer. Die Bettlaken an den Stellen ein wenig gekräuselt, wo sie sie nicht glatt bekommen hat, die Lamellentüren der Kleiderschränke geschlossen.

Der einzige Unterschied ist das Parfümfläschchen auf ihrer Frisierkommode, augenblicklich hat sie es bemerkt. Ein zartlila gesprenkelter Flakon, der mal ihrer Großmutter gehörte und den ihre Mum ihr überlassen hat. Laut Harvey altmodisches Zeug, also lässt sie es lieber in der Lade und wirft nur gelegentlich einen Blick darauf. Jetzt ist das Zerstäuberbällchen eingedellt, als hätten Finger dagegen gedrückt. Ist da Lavendel in der Luft? Ein Tröpfchenschleier auf dem Kiefernholz?

Deloris ist benommen, als sie, das Fläschchen lässt sie stehen, wie es ist, aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und zur hinteren Tür hinausrennt. Die Silberbirken verwandeln sich im Vorbeilaufen in einen Schwall aus leuchtendem Weiß. Luft füllt ihre Lungen, die sich in ihrem Körper ausdehnen, unerhört weit, als ob sie dazu ansetzte, sich wie ein Adler in die Lüfte zu schwingen.

Erst draußen auf der Straße wird Deloris langsamer. Abgesehen von ihrem eigenen Keuchen ist überall Ruhe, eine Elster sträubt auf dem Dach des Nachbarhauses ihre Federn. Wie scharf sich die Umrisse ihres Schnabels vor dem Himmel abzeichnen.

Auf den ersten Blick sieht alles gut aus: vier Backsteinhäuser, darunter ihr eigenes – das größte. Wo man früher einen Blick auf die Wälder genoss, prangt jetzt ihre hohe Fassade, gänzlich ohne Efeu- oder Windenbewuchs, als hätten sie’s wie ein Spielzeughaus über Nacht hier hingestellt. Das Rasenstück und die Kieszufahrt gleichen denen der anderen Häuser, dahinter die älteren Bungalows und weißgetünchte Stein-Cottages. Das Gras ist vom letzten Regen noch nass, ein feuchter Sommer bisher, in der Luft da und dort Wolken von Mücken, die ihre Flügelchen vor dem farblosen Himmel wirbeln.

Deloris streift durch die Gegend, unsicher, was sie tun soll. Vielleicht sollte sie die Nachbarn warnen, dass möglicherweise jemand in ihrem Haus gewesen sein könnte, doch an wen soll sie sich wenden? Nur Cynthia auf Nummer drei ist zu sehen.

»Hallo.« Cynthia, die gerade aus ihrem Bungalow kommt, wirft ihr ein schlaffes Lächeln zu, ehe sie sich bückt, um die Milchflaschen vor ihrer Haustür aufzuheben. Es ist bereits Nachmittag, aber sie trägt noch immer ihren Morgenmantel mit einem Muster aus kleinen blauen Blumen und einem gebügelten Spitzensaum. Ihr Haar ist, wie immer, in eine makellose Dauerwelle gelegt, von ihrer Haut geht diese Aura von Talkumpuder aus.

»Hallo Cynthia, wie geht’s?« Eine Sekunde lang ist sie sich nicht sicher, ob sie eine Antwort bekommt. Ihr ist nicht ganz klar, ob Cynthia ihr ihren Auftritt letzten Monat hier an der Haustür verziehen hat. Harvey war vom Gemeindetreffen nachhause gekommen und hatte sich über seine Mutter amüsiert, die Cynthia den Rat gegeben hatte, sie sollten so lange sparen, bis sie sich ihr gemietetes Haus kaufen könnten. Ohne sich den Rest anzuhören, war Deloris rüber zu Hausnummer drei marschiert. Schon ihrem Dad waren die Leute ständig mit ihren Ratschlägen auf die Nerven gegangen, wie gut es sich anfühle, im eigenen Haus zu wohnen. Sie hatten auch nicht aufgehört, auf ihn einzureden, als er schon an der dritten Zigarette sog und vor sich hin murmelte, für ihn fühle sich das nicht richtig an. Immer diese Arroganz, dachte Deloris, als sie an der Haustür klingelte, um sich für ihre Schwiegermutter zu entschuldigen. Dann klingelte sie noch einmal. Cynthia öffnete die Tür einen Spalt weit, und unvermittelt stellte sich Deloris vor, wie sie beide sich bei einem guten Glas Gin über ihre Nachbarn auslassen würden. Wie sie darauf anstießen, dass sie sich von niemandem dreinreden ließen und taten, was ihnen Spaß machte, während der Alkohol über die Glasränder schwappte und ihre Finger klebrig machte. Aber die Frau war schroff und fragte bloß, was Deloris wolle. Im Wohnzimmer dahinter kauerte ein Mann an einer Wand, an der Reihen leerer Milchflaschen aufgestellt waren, mit Kartonblättern dazwischen, damit sie sich die Wand hoch und ums Fenster herum stapeln ließen. Das muss wohl ihr Mann sein, dachte Deloris und erinnerte sich daran, dass Ralph, so sagten die Leute, niemals das Haus verließ. Zwölf Jahre lebte das Ehepaar nun schon hier im Dorf, und in dieser Zeit hatte er sich kaum je blicken lassen. Höchstwahrscheinlich hatte er auch wenig Freude über Besucher, die um zehn Uhr nachts an ihrer Haustür klingelten.

»Geht schon«, sagt Cynthia jetzt endlich. Während sie Deloris mustert, drückt sie die Milch wie ein Kind gegen ihre Brust.

»Und wie geht’s dir?«

Ihr barscher Ton veranlasst Deloris, sich Gedanken darüber zu machen, wie Cynthia sie einschätzt. Das junge Ding, das in eine reiche Familie eingeheiratet hat? Und sich jetzt was drauf einbildet, zu ihnen zu gehören? Aber eigentlich gilt Cynthias finsterer Blick ihren Füßen: »Du hast keine Schuhe an.«

 

Anna öffnet ihre Haustür auch nach dreimaligem Klopfen mit dem gesprenkelten Löwenkopf nicht, und Deloris fühlt sich jetzt doch ein wenig verlegen angesichts der Kieselsteinchen, die sich in die weichen Teile ihrer Fußsohlen gegraben haben. Sie überlegt, ob sie umkehren soll, will aber nicht wieder an Cynthia vorbei. Das seitliche Tor klappert, als sie am runden Knauf zieht.

»Wer ist da?«, ruft eine Stimme.

»Ich bin’s. Deloris.«

»Oh, hi.« Hastiges Gewusel ist zu hören, dann öffnet Anna errötend das Tor. »Tut mir leid«, sagt sie atemlos. Ihr Blumenkleid sitzt nicht richtig gut auf ihren breiten Hüften.

»Was tut dir leid?«

Anna runzelt die Stirn: »Ich – ich weiß nicht.«

Beiderseits verlegenes Lachen, dann folgt Deloris ihr ins Haus.

Die Küche ist eine Kochnische mit einem kleinen runden Tisch an der Rückwand. Deloris ist erst einmal in diesem Haus gewesen – um sich für eine Party einen Stuhl zu leihen –, und sie bereut jetzt, hergekommen zu sein. In dem Cottage, das vermutlich älter ist als alle anderen Häuser in der Straße, fühlt man sich um hundert Jahre zurückversetzt. Da gibt’s Haken an der Anrichte, von denen Teekessel herabhängen, und die unförmigen, mit gerahmten Stickereibildern behängten Wände sondern einen modrigen Geruch ab.

»Was führt dich zu mir?«, fragt Anna scheu. Auch ihre Augen blinzeln kurz hinunter zu Deloris’ bloßen Füßen, sie sagt aber nichts.

Deloris überlegt, ob sie ihr von den Geräuschen im ersten Stock erzählen soll. Dass sie wie ein Kind zur Hintertür hinausgestürmt ist, die sie – jetzt fällt es ihr ein – nicht mal abgesperrt hat.

»Ich dachte bloß, ich schau mal vorbei.«

»Ach ja?« Ein Lächeln überschwemmt ihr Gesicht, ihre Pausbacken bilden beiderseits Grübchen aus. Sie hat was sehr Mädchenhaftes an sich, obwohl sie bereits Ende zwanzig ist, ein paar Jahre älter als Deloris. »Das ist wirklich nett. Ich mach uns Tee, nein, warte – Eistee, auch wenn ich gar nicht weiß, wie das geht. Irgendwie mit Eiswürfeln, was meinst du?« Ihre Wörter fliegen nur so dahin, sich überschlagend. Sie schnappt nach Luft, sodass die Knöpfe ihres Kleides unter den Blumen nach außen gepresst werden. Orangefarbene Wirbelmuster auf altmodischem Stoff.

Das Wohnzimmer bietet eine noch größere Vielfalt an erstaunlichen Dingen: Bronzepfannen hängen von Deckenbalken tief herab, sodass Deloris sich bücken muss, als sie den Raum durchquert. Alles ist von einem Staubschleier bedeckt. Unter einer Glasplatte ist auf einem mit braunen Altersflecken gesprenkelten Foto Anna zu sehen, neben ihr eine Frau, die ihre Mum sein muss. Steif stehen sie nebeneinander, wie für eine Porträtaufnahme. Beide tragen cremefarbene, hundeförmige Broschen an ihren Revers. Anna hat das Haus geerbt, nachdem ihre Mum letzten Sommer gestorben war … vor fast einem Jahr (Deloris fährt der Schock in die Glieder, als ihr bewusst wird, dass sie schon so lange mit Harvey verheiratet ist).

Als Harvey zum ersten Mal mit ihr ins Dorf gefahren war, sagte er, sie könnten einen Spaziergang im Wald machen, und als sie antwortete, sie würde lieber ins Pub gehen, hatte er gelacht. Sie war überrascht über die Gesprächigkeit der Einheimischen, als sie im Hof des Lokals Platz genommen hatten. Aus Hängekörben tropfte Wasser auf den Asphalt, aber der Rest war auch nicht viel anders als zuhause im Nags Head – die Getränke wurden auf Plastiktabletts herausgebracht, und die Leute streckten ihre Beine den letzten Sonnenflecken entgegen. Erst als einer bemerkte, man habe Ruth schon längere Zeit nicht gesehen, kühlte die Stimmung ab. Als Deloris sich später bei Harvey erkundigte, wer sie war, legte er nur seine Stirn in Falten und wechselte das Thema.

Ruths Begräbnis fand an dem Tag statt, an dem sie von ihrer Hochzeitsreise auf die Bermudas zurückkamen. Im Taxi waren sie auf der High Street an dem Leichenwagen vorbeigefahren, der vor der Kirche wartete; rosa und weiße Nelken an einer Holztafel so angeordnet, dass sie das Wort Mutter ergaben.

»Wer nennt seine Mum Mutter?«, hatte Deloris gefragt, während sie die Dorfbewohner beobachtete, die vor dem Kircheneingang Schlange standen. Wie es aussah, waren alle gekommen. Herausgeputzt im Sonntagsgewand, gefaltete Taschentücher in den Brusttaschen, manche führten unablässig kleine Nickgesten aus, sodass ihre Kinne sich verdoppelten.

Harvey schien die Frage nicht gehört zu haben.

»Sie hat ein ehrwürdiges Alter erreicht«, sagte Sandra, seine Mum, als Deloris am nächsten Tag darauf zu sprechen kam. »Friedlich eingeschlafen.« Es hörte sich an wie von einer Todesanzeige abgelesen.

Indessen, während Deloris’ Sonnenbräune verblasste, hielt Annas Trauerschmerz den ganzen Sommer über und in den Herbst hinein an. Immer wenn Deloris Anna im Postamt oder auf der Straße begegnete, kam sie gebeugt daher, mit fleckiger Haut, geschwollenen, ewig wässrigen Augen, aus denen große Tropfen auf ihre Wangen zu fallen drohten. Im Winter hatte sie wieder angefangen, farbige Kleider zu tragen, allerdings mit Mustern, blumiges Zeug mit hohen Kragen und Cordbordüren. Deloris dachte, sie sei wohl noch immer in Trauer, aber vielleicht war das ja ihre ganz gewöhnliche Garderobe.

Es dauerte bis zum Osterjahrmarkt, bis sie ihr erstes richtiges Gespräch hatten. Deloris sollte eigentlich Sandra bei deren Kuchenstand zur Hand gehen, verzog sich aber, nachdem sie den Eindruck bekam, ihre Hilfe sei gar nicht willkommen, in den hinteren Teil der Halle, wo sie sich auf einen leeren Stuhl setzte, unmittelbar neben Anna, die erklärte, sie fühle sich in der Menge nicht wohl. Flache Ledersohlen neben Deloris’ eigenen Keilpumps, die sie, sobald sie sich entspannt hatte, durch die Luft pendeln ließ. Zwanzig Minuten später wurde Deloris bewusst, dass nur sie geredet hatte. Sie befürchtete, unhöflich gewesen zu sein, aber Anna wollte immer noch mehr wissen über die Lehrabschlussprüfung ihrer kleinen Schwester als Friseurin oder über die Pellkartoffeln ihrer Mum. Seither begrüßten sie sich mit einem »Hi«, wenn sie einander auf der Straße begegneten, und Deloris überlegte, sie zu sich einzuladen, war sich aber nicht sicher, ob sie viel gemeinsam hätten.

Jetzt ruft Anna aus der Küche: »Nun also … Tee für zwei?«

»Eigentlich nicht, meine Liebe«, wehrt Deloris ab. »Ich sollte besser gehen, muss heute Abend eine Dinnerparty organisieren.«

»Echt wahr?« Anna taucht im Türrahmen auf.

Als Deloris durch die schummrige Küche zurückgeht, fällt ihr auf, dass der Tisch noch immer mit zwei Stühlen bestückt ist; auf der Tischplatte ein an den Rändern verschrumpelter Laib Vollkornbrot in Familiengröße.

»Wirst du zurechtkommen?«, fragt Deloris. Ein saurer Geruch liegt in der Luft – möglicherweise vom Milchtopf, der auf dem Herd steht und mit einer weißlich verdickten Schicht belegt ist.

»O ja, danke«, haucht Anna. »Aber ich hätt’ uns wirklich gern ein Schlückchen Tee gemacht?«

Deloris zögert. »Du könntest mir ja beim Kochen helfen?«

»Im Ernst?«

»Und selbstverständlich auch zur Dinnerparty kommen«, fügt sie rasch hinzu. »Wir haben Unmengen an Essen.«

 

Sie kehren zum Haus zurück wie zwei Schulschwänzerinnen. Anna hält Abstand von der Magimix-Küchenmaschine und von der Kochinsel, als hätte sie Angst, etwas kaputtzumachen. Zögernd greift sie nach dem Kochbuch, dessen Seiten sie vorsichtig umblättert. Das Angebot einer Limonade nimmt sie freudestrahlend an.

Als Deloris wieder die Treppe hochgeht, muss sie über sich lächeln, wenn sie daran denkt, wie sie sich zuvor gefürchtet hatte. Wie unterschiedlich sich die Dinge von einer Stunde auf die nächste anfühlen konnten. War ja gut möglich, dass sie die Parfümflasche selbst draußen gelassen hatte. Und was die Dinnerparty betrifft, könnte die ganz lustig werden, jetzt wo auch Anna kommt. Eine neue Freundin, denkt sie, und eilt zurück in die Küche.

»Hey, Anna?«

»Ja?« Sie lässt einen Finger im Buch, um die Rezeptseite nicht zu verlieren.

»Was meinst du, wie es in Dallas weitergeht?«

Anna hebt den Blick und lächelt. »Was ist Dallas

 

Sie stehen nebeneinander an der Küchentheke, während Deloris die verschiedenen Personen erklärt, obwohl Anna mit ihren Gedanken eher beim Kochen zu sein scheint. Sie bricht die Eier mit einer Hand auf und erkundigt sich nach Deloris’ bevorzugter Technik für einen Blancmange-Pudding. Deloris zeigt ihr die entsprechenden Seiten im Kochbuch und geht dann ein paar Radiostationen durch, um einen Song zu finden, der ihr gefällt. Sie landet schließlich bei Dan Hartmanns I can dream about you. Mit zunehmender Lautstärke verstärkt sich auch das Knistern, und der Text wird zerfleddert, sodass Deloris einfach laut darübersingt. Anna stimmt nicht mit ein. Auch als Deloris sich von der Arbeitsfläche wegdreht und die Ellbogen zur Seite schwingt, schlägt Anna weiter Eier auf und lässt die Gabel unablässig gegen die Schüssel klimpern.

»Guter Song, findest du nicht?«

Während sie so allein dahintanzt, denkt Deloris an ihre Freundinnen zuhause. Wie sie sich gegenseitig über ihre Tanzerei lustig gemacht hatten und sich freitagnachts auf der Tanzfläche im The Wag mit den Ellbogen mehr Platz zum Tanzen erkämpften. Aber wenigstens war es nie vorgekommen, dass eines der Girls allein tanzen musste. Erhitzt und verschwitzt kommt sie an der Küchentheke zum Stehen.

»Aber du solltest doch nicht mitten in der Nummer mit Tanzen aufhören«, sagt Anna, während sie sich von der Schüssel mit dem Eischnee wegdreht. »Das bringt Unglück!«, fügt sie lächelnd hinzu und gibt Deloris ein Zeichen, weiterzumachen. Die seufzt, fegt aber dann doch wieder übers Linoleum und ist froh, noch den Chor zum Mitgrölen zu erwischen.

Eine Stunde später muss Deloris feststellen, dass Anna das Essen fast allein zubereitet hat. Sie besteht darauf, sich um das Rindfleisch und die Kartoffeln nun selbst zu kümmern.

»O ja, okay«, sagt Anna. »Ich werd’ mal schauen, ob ich was zum Anziehen finde für später. Nicht, dass ich mit dir mithalten könnte, das natürlich nicht.«

»Sei kein Dummerchen.« Sie bemerkt, wie zart Annas Hände sind, als sie sie an ihrem Kleid abwischt. »Übrigens – ich glaube, ich hab was für dich, das könnte dir gefallen.«

Die lila Spitzenhandschuhe hat sie mal in einem C&A-Laden aus einem Wühlkorb neben der Kasse gefischt; zuhause ist sie dann draufgekommen, dass sie ihr zu eng sind. Sie findet sie ganz hinten in ihrer Unterwäschelade und bringt sie runter.

»Bist du dir sicher?«, japst Anna. »Das macht dir gar nichts aus?«

»Aber nein. Du wirst phantastisch aussehen.«

 

Harvey kommt knapp nach fünf Uhr nachhause und geht gleich nach oben, um sich zu duschen. Deloris wischt die Arbeitsflächen mit zu viel Reiniger ab, sodass er Blasen wirft, die zu schäumen beginnen und platzen, als sie mit dem Wischtuch drüberfährt.

»Alles fertig für heute Abend?«, fragt er zehn Minuten später in der Küche. Um die Mitte hat er ein Handtuch gewickelt, über den Muskeln seiner Brust wölbt sich Fett.

»Hi Honey.« Sie verpasst ihm trotzig einen Kuss auf den Mund, obwohl er es eigentlich vorzieht, sich zuerst einen Wodka mit Diätlimo zu genehmigen.

»Keine Pannen, hoffe ich?«

»Alles gut gelaufen, eigentlich.«

Er geht zum Kühlschrank, um den Pudding zu inspizieren, der zwar wackelt, aber seine rosa Form hält. »Bin beeindruckt.«

»Und ich …«, sie hebt ihr Kinn, »ich hab Anna eingeladen, die da vorn die Straße runter wohnt.«

Harvey schließt schwungvoll die Kühlschranktür. »Ach ja?«

»Mhmm.«

»Find ich gut, dass du Freundschaften schließt – aber warum ausgerechnet die?«

Deloris ist sich nicht sicher, was sie antworten soll. Das macht aber insofern nichts, als Harvey ohnehin bereits dabei ist, sich zu überlegen, wie er eine gerade Gästezahl zuwege bringt. Er muss, sagt er, Anna mit Brian ergänzen, den er auch gleich in der Polizeidienststelle anruft. Wenn wir Glück haben, so Harvey zu Brian, kriegen wir was Anständiges zu futtern. Dolly hat gekocht – Gott schütze uns! Im oberen Stockwerk tupft Deloris ihren Make-up-Pinsel ins Döschen mit blauer Schminke, dann betupft sie ihre Lider. Wahrscheinlich zu dick aufgetragen, aber es fühlt sich einfach gut an. Sie entscheidet sich für ein Kleid, das sie an allen denkbaren Stellen kneift, mit Schulterpolstern wie scharfe Gebirgsgrate.

»Ist das das neue Kleid, das ich dir gekauft hab?« Harveys Atem ist vom Wodka aufgeheizt, als er ihr den Nacken küsst. »Hübsch, eigentlich. Wie machst du dir die Haare?«

Deloris dreht sich um, um ihn zu küssen. »Ist das wichtig?«

Sie lassen sich aufs Bett fallen, und Deloris beginnt sich aus dem Kleid zu schälen, doch Harvey meint, sie solle es anbehalten, es gehe jetzt erstmal darum, die Eiswürfeltasse zu befüllen.

 

Seine Eltern kommen verfrüht, mit einem Bucks-Fizz-Champagnercocktail als Geschenk, auf dessen französische Herkunft sie beide verweisen – zuerst Sandra, als sie ihn Deloris in die Hand drückt, dann Michael, der sich dabei langsam unterhalb seines Ledergürtels kratzt. Sie wohnen an der High Street, ein paar Häuser nach dem Postamt und der Kirche; Michael hat dennoch den Wagen genommen, falls es zu regnen beginnt, und seinen Jaguar mit einem Reifen auf dem Rasen geparkt, als würde er darauf Anspruch erheben. Und sie haben ihnen ja auch tatsächlich bei der Anzahlung fürs Haus geholfen – mehr als Deloris’ Eltern dazu imstande waren. Sandra ordnet jetzt die verschlungenen Perlen, die auf ihrer Brust aufliegen, während sie den Küchenboden bewundert, obwohl sie den schon gesehen hat. »Genau das Richtige, nicht wahr?« Sie ist die einzige Person, die ihre Schuhe nicht auszieht, und Harvey bittet sie nicht darum, weshalb sie beim Hin-und-Herstöckeln zwischen den Küchenkästen eine Spur kleiner Einkerbungen zurücklässt.

Michael bummelt hinterher und wirft trägen Auges einen Blick auf Deloris’ Kleid. Schmuddelflecken verunzieren sein Hemd, er kommt zweifellos direkt von seiner Teppichfabrik, wo er meistens bis abends arbeitet. Offenbar bringt ihm Sandra sein Abendessen in einem Tupperware-Behälter an den Arbeitsplatz, und die beiden essen an seinem Schreibtisch. Schwer vorzustellen, diese gepflegte, buchfinkenhafte Frau inmitten der rasselnden Maschinen der Fabrik, aber sie meint, es sei eben die Aufgabe von Eheleuten, Zeit miteinander zu verbringen. Harvey ist da längst zuhause, um Deloris zu sehen, wie er sagt, aber in Wahrheit geht er oft gleich die Treppe hoch in sein Arbeitszimmer, wo – in der alten Aktentasche versteckt – das GQ-Heft und sein Automagazin auf ihn warten.

»Sag mal, was hältst du eigentlich von dieser Madonna-Geschichte?«, wendet sich nun Michael an Deloris. Dabei blickt er sie unverwandt an und legt sich eine Hand auf die feiste Hüftpartie. Immer wieder eine Herausforderung, diese spielerischen Provokationen.

»Ihr Musikvideo ist ganz schön wild«, sagt sie, fest entschlossen, nicht zu erröten.

»Du siehst heute aus wie sie.«

Da schnellen jetzt aber Sandras feine Augenbrauen hoch. »Ziemlich nuttig, findest du nicht?«

»Wer?«, fragt Deloris, zu ihrer Schwiegermutter hingewandt. Die beiden Frauen haben nie viel Zeit miteinander verbracht, und Deloris nimmt ein wenig Farbe an, als sie auf das Stück blanken Oberschenkel schielt, das ihr Kleid freigibt.

»Madonna natürlich«, sagt Sandra lächelnd. »Du bist viel hübscher, als die jemals sein wird.«

 

Bei der Dinnerparty geht’s darum, den neuesten Auftrag zu feiern, den Harvey für die Fabrik an Land gezogen hat.

Es kommen die Morgans, Freunde von Michael. Mrs. Morgan drückt Harvey, nachdem dieser ihr ein Kompliment für ihre Kaschmirweste gemacht hat, auf beide Wangen je einen orangen Kuss. Wie die meisten älteren Damen, bleibt sie vor ihm stehen, ihre runzeligen Hände in die seinen vergraben, bis er sich höflich entschuldigt, er müsse sich um die Gin Tonics kümmern. In diesem Augenblick tritt endlich ihr hinter ihr stehender Ehemann in Erscheinung, der seinen kleinen Körper gleich mal in einen der Polstersessel plumpsen lässt.

Mister Morgan ist Vizepräsident des Golfklubs und bekommt Einladungen zu allen möglichen Veranstaltungen, wie diese Politiker, bei denen sich alle einschmeicheln wollen. Deloris betrachtet die zwei knittrigen Gäste und versucht, ihnen beim Servieren der Pasteten nicht zu nahe zu kommen. Sie fühlt sich an den Kellnerinnenjob erinnert, den sie mit sechzehn bei Mario’s Pizzas im Croydon Shopping Center hatte – gelegentlich ein gemurmeltes Danke, während sie eifrig bedient, bloß findet sie hier beim Abräumen kein Trinkgeld auf den Tellern. Sandra bietet ihre Hilfe an, bleibt aber am Fenster stehen, das auf die Straße hinausgeht, wo der Regen glänzende Pfützen hinterlässt.

Deloris ist erleichtert, als Anna kommt, aufgeregt, mit rosa Wangen und einem bereits geöffneten Karton Tomatensaft. Die Spitzenhandschuhe sind an den Rändern abgewetzt, doch Annas Freude scheint das nichts anzuhaben. Sie zieht sie aus, um ein paar Gläser zu spülen, und danach mit großer Behutsamkeit wieder an.

Die Unterhaltung plätschert mit gerade eben ausreichend Gesprächsstoff zwischen den Gästen dahin, doch als sie erfahren, dass Brian kommt, lauschen im Grunde alle nur noch auf die Türklingel. Es wird halb neun, Michael kratzt die letzten Reste des Spinataufstrichs aus der Schüssel, um sich gleich bei den Morgans dafür zu entschuldigen, die die ganze Zeit mit versteinerten Mienen dagesessen haben – zu alt, um sich noch einmal einzulassen auf ein Gespräch über den bevorstehenden Ball des Golfklubs oder über die Schwierigkeiten, gutes Personal zu finden, obwohl die jungen Leute doch alle auf Jobsuche sind …

Am langgestreckten, ovalen Esstisch serviert Deloris die Krabbencocktails in den Glasschalen, die ein Hochzeitsgeschenk waren. Sie wollte sie eigentlich für eine besondere Gelegenheit aufbewahren, aber inzwischen ist ihr klargeworden: Dies ist die Gelegenheit! Alle stochern im Essen herum und schlürfen durstig den Wein, den nachzuschenken Michael sich nicht nehmen lässt. Nur Anna leckt schließlich ihren Löffel ab und sagt, wie wunderbar die Krabben geschmeckt haben. Ist Deloris nicht eine vielversprechende Köchin? Alle stimmen halbherzig zu, abgesehen von Harvey, der vollkommen darauf fokussiert ist, Mr. Morgan eine Liste von Teppich-Fertigungstechniken vorzutragen. Der alte Mann neigt ein Ohr in seine Richtung, lässt aber die für eine Reaktion vorgesehenen Pausen in Harveys Monolog verstreichen, ohne zu nicken oder zu murmeln. Deloris ist mit dem Thema allzu gut vertraut, namentlich mit den Preisen unterschiedlicher Arten synthetischer Stoffe, die angeblich leichter zu reinigen sind als Wolle. Michael leert den letzten Rest seines Weines und rollt mit den Augen wegen Sandras gezierten Getues, jede Karotte einzeln aufzuspießen und gründlich durchzukauen. Das Beef Wellington ist zu sehr durchgegart, das Kartoffelpüree klumpig. Annas Pudding ist dafür ein voller Erfolg, da wird so lange mit dem Besteck geklimpert, bis die Teller wieder weiß und glänzend sind.

 

Brian taucht auf, nachdem Anna alle Teller abgeräumt hat.

»Uuhhh – tut leid, Leute. Ich dachte, das ist ein lockeres Treffen hier.« Er reibt seine Reeboks ein paarmal auf dem Schuhabstreifer und winkt zur Tür herein. Ohne Uniform sieht er ganz anders aus, denkt Deloris zum x-ten Mal, seit sie ihn kennt: weniger attraktiv, aber immer noch schnuckelig. Er trägt dasselbe gestreifte Hemd, das ihr vor einer Weile im Pub aufgefallen ist. An dem Abend, als sie gemeinsam an der Jukebox standen und über seinen Vorschlag lachten, Barbra Streisand aufzulegen. Froh über die ungezwungene Plauderei mit einem Nachbarn, stupste sie ihn in die Seite. Das tat sie immer mit den Boys in der Schule, wenn sie sie wegen ihrer Frisuren neckte, oder wegen der verkehrt herum angelegten Krawatten. Aber der überraschte Ausdruck in Brians Gesicht ließ sie zurückweichen. Ohne ein weiteres Wort war sie zu Harvey und dessen Eltern zurückgekehrt, um Michael zu versichern, dass sie ganz sicher kein weiteres Glas Weißwein wolle.

Anna beeilt sich, ein Glas Wasser zu bringen. »Bitte sehr, Brian.«

»Oh, bedanke mich.«

Sie blicken sich an und sind beide eine Sekunde lang still.

»Wie geht’s Beattie?«, fragt Anna. Deloris hatte vergessen, dass Brian noch einen älteren Bruder hat, der bei ihm wohnt. Laut Sandra kommt zweimal am Tag ein Pfleger in einem Van mit einer Hebebühne oben drauf und sieht nach dem Rechten.

»Gar nicht so schlecht, er …«

»Schön, dass du’s noch geschafft hast«, unterbricht Harvey und legt Brian einen Arm um die Taille, um ihn ins Wohnzimmer zu geleiten. Von Anna bleiben nur die Fingerabdrücke auf Brians Glas.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragt Sandra von ihrem Fensterplatz aus.

»Neuigkeiten?«

»Na, über den Fox natürlich«, sagt Michael, der seinem Sohn den dritten Wodka des Abends einschenkt.

»Ah, der Eindringling. Ja.« Brian sieht sich nach einem Sitzplatz um, Deloris bietet ihm ihren Sessel an. »Bedanke mich, sehr freundlich.«

»Also – was gibt’s Neues?«, setzt Sandra nach.

»Ich darf ja eigentlich keine Informationen nach außen geben«, sagt Brian mit bedauerndem Schulterzucken.

»Hey, komm schon, von uns erfährt niemand was.« Michael drückt Brian grinsend ein Glas Whisky in die Hand. Der schnüffelt unschlüssig daran und hält die braune Flüssigkeit in einigem Abstand von sich.

»Wir leben in diesem Dorf, wir haben ein Recht darauf«, sagt Sandra.

Alle nicken, ausgenommen Anna, die sich noch im Eingangsbereich aufhält. Ihr Gesicht ist blass, die Lippen einwärts gesogen.

»Immobilienpreise«, sagt Michael.

»Und unsere persönliche Sicherheit«, ergänzt Sandra. Sie schüttelt den Kopf über ihren Mann, muss aber doch auch ein Lächeln unterdrücken, als wäre sie stolz darauf, wie er immer gleich das Finanzielle im Blick hat. »Ich hab gehört, der streift seit Wochen durchs Dorf. Versteckt sich in den Wäldern und zieht in den Häusern die Schuhe aus, damit er keine Abdrücke hinterlässt.«

»Nun ja, richtig. Aber die Zeitungen neigen schon auch zu Übertreibungen.«

»Ihr macht also keine Streifengänge in der High Street?«, sagt Sandra mit schrillerer Stimme.

»Nein, nein.«

»Aber warum denn nicht?«

Brian redet lauter. »Ich hab die notwendigen Berichte erstattet, aber der Typ hat genau genommen keinerlei Schaden angerichtet.«

Sandra, etwas wackelig in ihren Stöckelschuhen, lässt nicht locker: »Wir haben aber keine Ahnung, was der will. Wenn er nichts mitnimmt, keinen Schaden verursacht, dann muss es doch irgendwas anderes sein.«

»Zugegeben, es ist beunruhigend, aber …«

»Ich wette, er ist einer von diesen Perversen«, sagt Sandra, einen Zeigefinger auf Brian gerichtet, der tiefer in seinen Sessel versinkt.

»Ich hab auf BBC einen Bericht darüber gesehen«, sagt sie, ihrem Mann zugewandt, damit er ihre Aussage bestätigt. »Das sind die Auswirkungen der Pornografie, die führen zu einem derart gesteigerten Bedürfnis nach Voyeurismus.« Die eintretende Stille schnürt allen die Lippen zu, auch Michael, der an seinem Drink schlürft, um ihren Blick zu meiden. »Abstoßend«, murmelt Sandra.

Eine Weile herrscht allgemeines Schweigen. Es wäre eigentlich an Michael, was zu sagen, aber der blickt bloß prüfend in sein Whiskyglas, und Harvey steht in Gedanken versunken beim Kamin. Deloris bemerkt, dass Brian noch nichts gegessen hat, und bringt ihm einen Teller, nicht ohne sich darüber zu ärgern, dass das irgendwie zu ihren Pflichten gehört.

Anna hat in der Küche mit dem Abwasch begonnen, nachdem sie die Spitzenhandschuhe sorgsam aufs Fensterbrett gelegt hat. Obwohl Deloris in die Küche geht, um ihr zu sagen, sie solle die angebrannten Pfannen stehen lassen, bekommt sie noch das Ende von Harveys Bemerkung mit.

»… es scheint ihm nur darauf anzukommen, die Leute zu beobachten.«

»Genau meine Meinung«, sagt Sandra, erfreut über die Bestätigung. »Unser Leben ausspionieren, unsere privaten Angelegenheiten.« Die Morgans nicken kaum wahrnehmbar aus ihren Sesseln heraus.

»Was ist so schlimm daran?«, fragt Deloris. »Immerhin hat er niemandem wehgetan.« Sie ist draußen im Flur und macht kehrt, um zurück ins Wohnzimmer zu kommen. Auch die anderen blicken jetzt hoch, selbst Mrs. Morgan, mit ihrem Glas an den Lippen.

Harvey muss beinahe lachen. »Abartig ist das.«

Da fährt ihr plötzlich ein Hitzeschwall ein, ihre Stimme ist unsicher: »Es gibt Schlimmeres, was die Leute so tun.«

»Wir sprechen hier aber nicht von Fernsehserien«, sagt Harvey und blickt dabei finster in sein Glas, »Obwohl es dir sicher nicht schaden würde, weniger davon anzuschauen.«

»Warum?« Sie ist sich nicht sicher, woher ihr Zorn gekommen ist. Ihr schwirren die Sinne.

»Weil du dann mehr unterwegs sein könntest, um Freundschaften zu schließen. Dich im Dorf zu integrieren.« Harvey ignoriert den harschen Blick, den ihm seine Mum zuwirft, die es nicht mag, sowas vor Gästen auszutragen. Er legt in die folgende Frage jetzt sogar noch mehr Nachdruck: »Was findest du überhaupt an diesen lächerlichen Serien?«

Alle warten auf ihre Antwort.

»Ich weiß nicht«, sagt sie schließlich.

»Na also.« Und damit kippt er den Rest seines Drinks hinunter.

 

Im Schlafzimmerspiegel sieht Deloris, dass das Make-up in blauen Streifen über ihr Gesicht verschmiert ist. Sie lässt es so, gleichsam als Kriegsbemalung, und setzt sich aufs Bett. Das Abendlicht beleuchtet die geschwungene Form der Parfümflasche. Dieses Mal ist der Zerstäuberbeutel nicht gequetscht. Keine Finger dran gewesen.

Ein sanftes Klopfen an der Tür.

»Ich hab mir Sorgen um dich gemacht«, hört sie Annas Stimme vom Flur.

»Komm rein.« Deloris fängt an, sich die Augen sauberzuwischen, hält aber inne, weil ihr die Schmiere auf einmal wie ein Beweis vorkommt – nur wofür, das weiß sie nicht.

»Alles so weit in Ordnung?«

»Nicht wirklich.«

Zaghaft legt ihr Anna eine spitzenbehandschuhte Hand auf die Schulter. Deloris seufzt. »Ich bin aber auch wirklich dumm«, sagt sie und zieht Anna zu sich herunter, damit sie neben ihr Platz nimmt. »Es ist nur, Harvey kann so ein Schwein sein.«

Anna schweigt, den Blick auf ihre Knie geheftet.

»Manchmal weiß ich nicht, warum ich ihn geheiratet habe. Oder er mich.«

»O nein, Deloris«, sagt Anna. »Ihr beide seid doch perfekt, das sagt jeder. Keine Frage, dass er dich liebt.« Ihre Augen werden feucht und glänzend, während sie sich umblickt. »Und ihr habt dieses wunderbare Zuhause mit so viel Platz, euch noch zu vermehren.«

Jetzt ist Deloris an der Reihe, ihre Hand auf Annas Arm zu legen, den diese unbequem auf ihren Schoß gestützt hat, während sie mit durchgedrücktem Rücken dasitzt.

»Eine Familie«, platzt es aus Anna heraus.

»Ja, natürlich.« Deloris nickt. Wieder mal dieses vertraute Déjà-vu. Jedes Gespräch über Harvey scheint gleich zu verlaufen. Was für eine glückliche Frau sie doch ist. Ob ihr das nicht bewusst sei? »Jedenfalls danke, dass du gekommen bist, um zu schauen, wie’s mir geht.«

Anna schüttelt den Kopf und steht schnell auf, um nur ja nicht Deloris’ Gastfreundschaft über Gebühr zu strapazieren. Sie geht zur Tür. »Oh, deine Handschuhe.«

Deloris nimmt sie kaum wahr. Sie betrachtet die Parfümflasche. »Behalt sie«, sagt sie abwesend.

»Wirklich? Bist du sicher?«

Deloris gibt keine Antwort. Sie hält die Flasche ins Dämmerlicht und nimmt den Glasstöpsel ab, um am Lavendel zu riechen.