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Vorschau

Dorian Hunter Band 89: Tick Tock

Die Fronten sind nun eindeutig geklärt: Auf der einen Seite stehen Hunter und Irene, die der Existenz aller Dämonen ein für alle Mal ein Ende setzen wollen. Auf der anderen setzen Asmodi und seine neue Schiedsrichterin Salamanda Setis alles daran, die Uhrmacherin mit ihren Lebensuhren aufzuhalten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

 

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Totentanz

 

 

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Band 88

 

Totentanz

 

von Simon Borner und Christian Schwarz

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

 

© Zaubermond Verlag 2017

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Und die Umstände wollen es, dass ausgerechnet Coco Zamis die neue Schiedsrichterin wird. Das Dämonenkiller-Team droht zu zerfallen, Dorian stirbt. Die Dämonen scheinen gesiegt zu haben.

Aber mit vereinten Kräften gelingt es Dorians Freunden, ihn ins Leben zurückzuholen. Das Team formiert sich neu, und Coco Zamis nimmt zum Schein den Posten als Schiedsrichterin der Schwarzen Familie an, um aus dem Inneren heraus gegen die Dämonen zu kämpfen.

Gerade als sich alles wieder eingependelt zu haben scheint, taucht die Uhrmacherin auf, Dorians lang verschollene Tochter Irene. Sie behauptet einen Weg zu kennen, wie man die Schwarze Familie ein für alle Mal ausrotten kann. Aber kann man ihr trauen?

 

 

Erstes Buch: Der Prozess

 

Der Prozess

 

von Christian Schwarz

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

 

Kapitel 1

 

Wien

Coco Zamis schlenderte durch die Ringstraßen-Galerien, die feinste Wiener Shopping-Adresse. Über ihrer linken Schulter hing eine prallgefüllte, buntbedruckte Einkaufstasche, während die rechte für ihre Handtasche reserviert war.

Die Hexe lächelte, als sie ihr Spiegelbild in der Scheibe einer Parfümerie erblickte. Der ältere Modefachberater fiel ihr wieder ein, der wissen wollte, ob ihre dunkelgrünen Augen tatsächlich echt waren oder ob »diese grandiose Farbgebung« dem Einsatz von Kontaktlinsen zuzuschreiben sei.

Natürlich war ihre Augenfarbe echt.

So wie alles an mir. Außer meiner Loyalität zur Schwarzen Familie …

Dieser Gedanke kam ihr einfach so – und versetzte ihr einen jähen Stich ins Herz. Asmodi wusste längst, dass sie ihr Versprechen gebrochen hatte und seit ihrer Einsetzung als Schiedsrichterin weiter mit Dorian Hunter zusammenarbeitete. Er hatte es ihr ins Gesicht gesagt. Und ihr versichert, dass er es bis zu einem gewissen Grad dulden werde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er allerdings ihre Hilfe benötigt, um seine Lebensuhr in einem Zeitfeld einzuschließen und sie so vor dem Zugriff der Uhrmacherin zu schützen. Deshalb traute sie ihm bezüglich dieser Aussage nicht über den Weg.

Garantiert erledigt war sie, wenn Asmodi erfuhr, dass sie den Schiedsrichterposten nur zum Schein angenommen hatte, um von innen heraus gegen die Dämonen zu arbeiten.

Und Salamanda Setis wusste das alles! Da die Rabisu von Dorian aus dem Dämonenkiller-Team geworfen worden war, bestand nun die latente Gefahr, dass sie sich rächen würde, indem sie Coco bei Asmodi anschwärzte.

Coco seufzte. Die Ungewissheit zehrte an ihren Nerven. Aber sie wollte sich so verhalten wie immer, mit der Einschränkung, den Kontakt zu Dorian in nächster Zeit zu meiden. Zu ihren normalen Gewohnheiten gehörten auch ausgedehnte Shopping-Bummel durch die Modemeilen der Stadt. So einen hatte sie gerade hinter sich. Ein kurzzeitiger Wintereinbruch hielt Wien in seinen eisigen Klauen, aber der würde nicht ewig währen. Immerhin war es bereits März. Und so hatte Coco beschlossen, dass es höchste Zeit war, sich mit Frühlingsfummel auszustaffieren.

Ihr Beutezug war überaus erfolgreich gewesen. Sie flanierte an den im Kreis angeordneten Shops entlang zur Treppe und stieg mit vorsichtigen Schritten ins Erdgeschoss hinunter. Mit ihren hochhackigen roten Stiefeletten geriet das zu einem regelrechten Balanceakt. Weil sie die mehrstündige Shoppingtour hungrig gemacht hatte, ging sie noch im Yalla vorbei, einem offenen arabischen Restaurant im Eingangsbereich. Sie ließ sich an einem der kleinen Tischchen nieder und aß mit großem Appetit. Dabei beobachtete sie die draußen vorbeigehenden Menschen. Plötzlich ertönte ein schriller Schrei, ein dumpfer Laut folgte. Coco fuhr hoch. Da draußen war jemand gestolpert und umgefallen! Im toten Winkel. Eine Frau. Vielleicht brauchte sie Hilfe.

Coco ging mit raschen Schritten vor das Restaurant, während sich die anderen Gäste gleichgültig verhielten. Auf dem mit hell- und dunkelbraunen Karos gemusterten Boden lag tatsächlich eine ältere, leicht dickliche Frau auf dem Bauch. Ihre Einkaufstasche lag neben ihr. Sie war aufgegangen, einige Äpfel rollten über den Boden. Auch das rote Hütchen hatte sich selbstständig gemacht. Während sich andere Passanten um die Gestürzte sammelten, ging Coco bereits neben ihr auf die Knie. »Sind Sie auf den Kopf gefallen? Haben Sie Schmerzen?«, fragte sie.

»Es geht schon, danke«, ächzte die Frau und krabbelte auf die Knie. Coco half ihr vollends hoch.

»Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

»Nein, danke, es geht schon wieder.«

»Wirklich?«

»Wenn ich’s sag.«

»Gut, wie Sie wollen, Frau ...«

»Baumgartner heiß ich, Trude Baumgartner.« Die Frau ordnete ihre Kleider und sah sich mit bösem Blick um. »Wo ist der Krüppel hin?«

»Welcher Krüppel?«

»Na der, über den ich gestolpert bin«, keifte Baumgartner. »Der war plötzlich da, ich hab den gar nicht kommen sehen. Direkt vor meinen Füßen war der plötzlich, und ich konnte nicht mehr ausweichen.« Sie musterte die Passanten, die einen massiven Halbkreis um sie gebildet hatten. »Hat einer von Ihnen den Zwerg gesehen? So ein ganz hässlicher, verwachsener mit einem riesigen Buckel und kurzen Beinen und viel zu langen Armen. Und Eiterbeulen im Gesicht. Und ein Auge war viel weiter unten als das andere …«

Coco spürte, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Redet die von einem Freak? Unauffällig sah sie sich um. Aber da war nichts.

Einige der Umstehenden schüttelten ratlos den Kopf. »Also ich hab keinen hässlichen Zwerg gesehen«, sagte eine junge Frau mit einem Baby in der Tragetasche und ging weiter. Auch die anderen Passanten zerstreuten sich kopfschüttelnd wieder, die Show war vorbei. Nur Coco blieb und half der Frau die Äpfel aufsammeln.

»Da war doch dieser hässliche Krüppel«, brabbelte die Baumgartner vor sich hin, während sie sich schwerfällig bückte, ihren Hut aufhob und ihn wieder aufsetzte. Schließlich bedankte sie sich noch einmal bei Coco und wackelte davon.

Die Hexe sah sich unauffällig um. Ohne Erfolg. Sie ging ins Yalla zurück, aß zu Ende und verließ das Restaurant wieder. Auf dem draußen vorbeiführenden Kärtner Ring tauchte sie ins Fußgängergewühl und den Straßenlärm ein. Es schneite leicht. Sie zog die Kapuze ihres schwarzen Mantels über den Kopf und steuerte die nächste Straßenbahnhaltestelle an. Zwei der roten Straßenbahnen näherten sich bimmelnd, während sich auf der Straße daneben die Autos stauten.

Coco bestieg die Linie eins und fuhr nordwärts. Bei der Haltestelle Schottentor stieg sie auf die Linie 37 nach Döbling um. Während sie auf die Tram wartete, sah sie plötzlich ein Flimmern am Ende des Bahnsteigs. Ein leichtes Luftflimmern nur, so ähnlich wie bei einer Fata Morgana in der Wüste, dann war es auch schon wieder verschwunden.

Also doch. Das ist ja jetzt wohl kein Zufall mehr, dachte sie angespannt.

Wäre Coco durch den Vorfall beim Yalla nicht misstrauisch geworden, hätte sie das Flimmern wohl gar nicht bemerkt. Sie sah auf ihre Armbanduhr und schlenderte unauffällig ein paar Schritte den Bahnsteig hoch, so wie man es eben macht, wenn man sich in der Kälte ein wenig die Beine vertreten will. Aber das Flimmern blieb verschwunden.

Die Tram kam. Coco stieg zu und fuhr nach Döbling. Dort, im 19. Wiener Gemeindebezirk, lag das Schiedsrichterbüro mit angrenzender Wohnung. An der Pokornygasse stieg sie aus. Es hatte stärker zu schneien begonnen, und Coco schaute, wie die anderen Passanten auch, dass sie schnell nach Hause kam. Als Hexe fror sie nicht, empfand das Wetter aber als äußerst ungemütlich, zumal jetzt auch noch ein eisiger Wind durch die Gassen pfiff.

Das Häuschen mit kleinem Gartengrundstück lag an einem normalerweise belebten Platz. Im Moment allerdings sah sie nur eine Frau, die mit Schneeschippen beschäftigt war, und einen Mann, der seinen Hund Gassi führte. Der Terrier blieb plötzlich stehen, knurrte und kläffte dann mit aufgestelltem Nackenfell etwas an. Als sein Herrchen an der Leine zog, stemmte er die Vorderbeine in den Schnee.

Durch dieses Verhalten bemerkte Coco das Flimmern erneut. Es befand sich nur etwa vier Meter von dem Hund entfernt.

Na warte …

Coco wechselte in den schnelleren Zeitablauf. Schlagartig erstarrte alles um sie herum. Sie ging zu dem Flimmern und tastete es mit ihren Hexensinnen ab. »Tatsächlich ein magisches Unsichtbarkeitsfeld«, murmelte sie. »Wie ich es mir gedacht habe.«

Das Feld war nur schwach und stellte kein Problem für sie dar. Mit einem einzigen Zauberspruch zerstörte sie es. Der von Trude Baumgartner beschriebene Freak schälte sich aus der Unsichtbarkeit. Er stank wie die Hölle nach Eiter, Schwefel und anderen Ausdünstungen.

Coco besah ihn sich kurz, dann trat sie hinter ihn und berührte ihn an der Schulter. Dadurch holte sie ihn auf ihre Zeitebene. Erschrocken fuhr der Freak herum. Er bewegte sich dabei sehr viel schneller, als Menschen es ihm zugetraut hätten. Coco wusste jedoch, wie flink selbst die Missgestaltetsten unter ihnen sein konnten.

Die Augen des Freaks weiteten sich voller Entsetzen. »Du …«, krächzte er.

Coco ließ sich auf nichts ein. Ein scharfer Blick genügte, um ihn zu hypnotisieren. Sein Blick wurde starr.

Weil sie den Unsichtbarkeitszauber des Freaks zerstört hatte, wäre er auf der normalen Zeitebene aufgefallen. Deswegen löste sie die Berührung nicht und verblieb im schnelleren Zeitablauf. Sie fasste seine Hand, die auf dem Tentakel saß. »Los, mitkommen«, befahl sie und zog ihn mit. Der Freak stolperte willenlos hinter ihr her. Erst im Schiedsrichterbüro wechselte sie wieder in den normalen Zeitablauf. Danach war sie so erschöpft, dass sie sich erst einige Minuten ausruhen musste.

»Wie heißt du?«, fragte sie ihn schließlich.

»Guido Burgstaller«, antwortete der Freak ohne wesentliche Modulation in der Stimme.

»Beschattest du mich?«

»Ja.«

Obwohl sie es längst gewusst hatte, verursachte die Antwort ein extremes Gefühl des Unwohlseins bei Coco. Sie räusperte sich.

»Wer ist dein Auftraggeber, Guido?«

»Der Fürst der Finsternis.«

»Asmodi?«

»Ja.«

»Bist du mein einziger Schatten? Oder gibt es noch andere?«

»Drei andere.«

»Beschattet ihr mich gleichzeitig?«

»Nein, wir wechseln uns ab.«

Coco nickte langsam. Sie schaute auf den Eidesstab, der in der Ecke stand. Zum ersten Mal verlieh er ihr kein Gefühl der Sicherheit. »Was sollt ihr für Asmodi herausfinden?«

»Wir sollen jeden deiner Schritte überwachen und herausfinden, ob du noch Kontakt mit dem Dämonenkiller hast. Oder ob du irgendwelche Taten begehst, die dir als Verrat an der Schwarzen Familie ausgelegt werden können.«

Coco schluckte ein paarmal schwer. In ihrem Magen hatte sich längst ein Knoten gebildet, der nun beträchtliche Dimensionen annahm. Auch wenn Asmodi von ihrer Zusammenarbeit mit Dorian wusste – oder war es einfach nur ein Schuss ins Blaue gewesen? – schien er doch keinerlei Beweise zu haben. Die versuchte er sich nun zu beschaffen.

Ich lag also doch richtig mit meinem Misstrauen. Er will mich tatsächlich eliminieren, um seine Lebensuhr auf ewig zu schützen und um eine Mitwisserin loszuwerden …

Coco fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl. »Und? Habt ihr bereits etwas in diese Richtung herausgefunden?«, fragte sie mit krächzender Stimme.

»Nein.«

Sie atmete innerlich auf. »Gut. Wie lange beschattet ihr mich schon?«

»Einen Monat.«

»Warum ist die Frau über dich gestolpert?«

»Weil ich unvorsichtig war.«

»Und warum hat Asmodi gerade euch Freaks auf mich angesetzt?«

»Weil du eine dämonische Aura in deiner Nähe intuitiv spüren kannst. Wir Freaks haben diese dämonische Aura nicht mehr.«

Hätte ich auch selber drauf kommen können …

»Was hat Asmodi euch im Erfolgsfall versprochen?«

»Dass wir wieder zu vollwertigen Dämonen werden können.«

»Stammt dieser Unsichtbarkeitszauber von Asmodi?«

»Nein, den beherrschen wir selber. Er ist nicht schwarzmagisch.«

Coco überlegte kurz. Konnte sie den Schnüffler laufen lassen? Schwerlich, denn dann musste sie die Hypnose aufrechterhalten, damit er sich nicht an diese Begegnung erinnerte. Das aber würde Asmodi beim nächsten Briefing sofort erkennen. Und wissen, dass sie gewarnt war.

Coco tat es nicht gerne, aber es ging nicht anders. Sie nahm den Eidesstab, gab ihm den Tötungsbefehl und schlug ihn gegen Burgstallers Kopf. Die Wirkung war frappierend. Die blutroten Bahnen, die sich um den mannsgroßen, pechschwarzen Ast zogen, leuchteten für einen Moment grell auf. Dann rollte Burgstallers abgeschlagener Kopf auf den Boden. Weil der Körper so verwachsen war, blieb er stehen. Ein Schwall dunkelroten Bluts schoss aus dem Hals.

Coco verzog das Gesicht und stoppte die Blutfontäne, indem sie den Eidesstab dagegen hielt. Wieder leuchteten die roten Bahnen grell auf. Zu Cocos Verwunderung saugten sie das komplette Blut in den Eidesstab. Nicht ein Tropfen blieb zurück. Anschließend zerfiel der Körper des Freaks zu Staub. Auch diesen saugte der Eidesstab auf.

Coco gruselte es ein bisschen. Noch immer hatte sie nur wenig Ahnung von der wahren Macht dieses unglaublichen magischen Instruments, bei dem es sich eigentlich um einen verformten Feuerschädel handelte, der durchaus seinen eigenen Willen besaß.

Coco versuchte keinen weiteren Gedanken an den toten Freak zu verschwenden. Sie hatte ihm einen gnädigen Tod gewährt. Asmodi hätte Burgstaller für sein Versagen ungleich grausamer ins Jenseits befördert, auch das rechtfertigte ihr Tun. Mochte sich der Fürst der Finsternis ruhig Gedanken machen, wo der Freak abgeblieben war. Das Schiedsrichterbüro war magisch so gut abgeschirmt, dass auch Asmodi keinen Einblick bekam, geschweige denn unerlaubt eindringen konnte.

Ab jetzt darf ich mir keinen Fehler mehr erlauben, dachte Coco, während sie in die nebenan liegende Wohnung ging. Schon als sie den kleinen Flur betrat, hörte sie plötzlich einen klagenden Laut aus der Wohnung. Er war so schrecklich, dass er ihr durch Mark und Bein ging.

Phillip!

Coco warf sich förmlich gegen die links abzweigende Tür und fiel fast ins Zimmer dahinter. Sie konnte sich gerade noch an der Türklinke festhalten. Erleichtert atmete sie auf, als sie den Hermaphroditen am Wohnzimmertisch knien sah. Vor ihm stand der Laptop. Phillip Hayward hatte irgendeine Seite aufgerufen.

Cocos Erleichterung hielt nur einen Moment an. Die zarte engelsgleiche Gestalt mit den langen blonden Locken wandte den Kopf. Blutunterlaufene Augen, aus denen Tränen rannen, schauten Coco an. Nun bemerkte sie auch, dass Phillip weibliche Geschlechtsmerkmale ausbildete. Kleine spitze Brüste wölbten das weiße Nachthemd, das er trug.

»Coco«, flüsterte er. »Coco.«

Sie ließ sich neben ihm nieder und drückte seine Hand. »Phillip, was hast du?«, fragte sie. »Was ist mit dir?« Dabei wusste sie es doch allzu genau. Phillip hatte wieder eine Vision, er wollte sie auf etwas Wichtiges aufmerksam machen.

Phillip legte den Kopf in den Nacken und heulte erneut so klagend wie ein Wolf. Coco lief es eiskalt über den Rücken. Sie schaute sich die Website an. Es handelte sich um Katakomben-Bilder.

Die Wiener Katakomben!

Coco wollte Phillips Kopf an ihre Brust drücken. Er riss sich unwirsch los und begann zu schluchzen. Wieder liefen ihm die Tränen in wahren Sturzbächen aus den Augen.

»Coco!«, schrie er nun schrill und wälzte sich plötzlich über den Boden. Sein ganzer Körper zuckte dabei. Die Schiedsrichterin warf sich über ihn und fixierte ihn. »Ruhig, ganz ruhig«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Hörst du mich, Phillip? Ich bin bei dir. Verstehst du?«

Er entspannte sich tatsächlich. Sie ließ ihn wieder los. Phillip kniete erneut vor den Laptop und deutete auf ein Katakombenbild, auf dem Tausende aufgeschichteter Knochen zu sehen waren. Dabei schien sich sein Blick in unendlichen Fernen zu verlieren. »Knochen, Coco«, flüsterte er. »Ungerechte Knochen.«

Wie fast immer ergaben seine orakelhaften Worte wenig Sinn. Aber taten sie das in diesem Fall wirklich?

Oder will ich nur, dass sie keinen Sinn ergeben? Werden meine Knochen auch bald modern wie diese dort? Sieht Phillip das als ungerecht an?

Coco wurde fast übel. Sie zitterte plötzlich. Doch dann erwachte ihr alter Kampfgeist wieder.

Egal, was passiert, ich werde meine Haut so teuer wie möglich verkaufen.

 

 

Amsterdam

Petronella Jong verharrte einen Moment vor der geschlossenen Tür. Sie schnupperte. Es roch wunderbar nach Blut, menschlichem Angstschweiß, Fäkalien und verschiedenen Kräutern. Die alte Hexe stieß ein leises, zufriedenes Kichern aus und betrat die Küche.

Die nackte junge Frau hing mit ausgebreiteten Armen und Beinen und durchgebogenem Körper im Blutgestell, das in rund zwei Metern Höhe schwebte und mit menschlichen Sehnen an der Decke befestigt war. Jasper, das Faktotum des Hauses Jong, hatte es so geschickt konstruiert, dass der Kopf des jeweiligen Opfers automatisch ins Genick gedrückt wurde. Eine deutliche Verbesserung zum Vorgänger-Gestell, bei dem man den Kopf noch extra hatte fixieren müssen …

Es sah ein wenig aus, als würde die Frau fliegen und dank des leicht geneigten Gestells gerade zum Sturzflug ansetzen. Aber das Opfer war längst tot. Der Schädel war fachgerecht aufgebrochen, die obere Hirnschale mit den langen schwarzen Haaren lag auf dem Boden. Die klaffende Halswunde gab längst keinen Tropfen Blut mehr her. Dafür hingen die Gedärme aus dem aufgeschlitzten Bauch bis fast auf den Boden. Jasper, über und über mit Schleim bedeckt, saß direkt darunter und fraß genüsslich daran herum. Als er seine Herrin sah, grinste er.

»Schmeckt’s?«, fragte sie.

»Oh ja.« Er nickte eifrig.

»Wie weit ist die Blutsuppe?«

»Ein Viertelstündchen noch, dann ist sie fertig.«

»Gut. Das passt.« Petronella trat an den Herd, auf dem ein großer Topf stand, während Jasper seine Mahlzeit fortsetzte. Was nicht für die Hauptmahlzeit verwendet wurde, gehörte ihm. Sein Schmatzen regte sie an, verstärkte ihren Appetit. Sie hob den Deckel des Topfs und starrte hinein. Die Blutsuppe blubberte friedlich vor sich hin. Oben drauf schwammen die bereits mundgerecht zugeschnittenen Gehirnbrocken. Petronella nahm einen Kochlöffel und stocherte vorsichtig in der Suppe. Jetzt kamen auch Herz, Nieren und Leber nach oben, zeigten sich kurz und sanken dann wieder in das mit Hexenkräutern und Urin vermischte Blut.

»Was fehlt noch?«, murmelte sie. »Ah ja.« Sie ging zu der Toten, strich kurz über ihre schneeweiße Haut, bohrte dann Zeige- und Mittelfinger in die Augenhöhlen und zog die toten Augen heraus. Die Sehnerven biss sie mit ihren scharfen Zähnen durch. Sie warf die Augen in die Blutsuppe. »Jetzt ist sie perfekt.«

Petronella verließ die Küche und ging durch das weitläufige alte Herrenhaus. Drei Dienstmädchen waren gerade dabei, den Tisch zu decken. Ehrerbietig neigten sie den Kopf vor der Hexe. Petronella beachtete sie nicht weiter und stieg in den ersten Stock hoch. Aus einem Zimmer tönten schrille, angstvolle Schreie. Hein, ihr Neffe, schien gerade zum Höhepunkt zu kommen. Er verging sich mit Vorliebe an jungen, ein wenig feminin wirkenden Männern, und so einen hatte Petronella ihm höchstpersönlich besorgt. Die Amsterdamer Discos waren voll davon.

So zuvorkommend war die Hexe ihrem Neffen gegenüber sonst nicht. Sie hielt ihn für einen Schwächling. Allerdings schien er sich in den letzten Wochen voll reingehängt zu haben, um ihren Auftrag auszuführen. Und wie es schien, brachte er gute Nachrichten mit. Er würde sie nachher am Tisch verkünden.

Petronella konnte einen Angst- ganz genau von einem Todesschrei unterscheiden. Und das da war gerade einer! Hämisch grinste sie, als er sich mit dem lauten Keuchen und Grunzen Heins mischte. Abrupt brach der Todesschrei ab, während sich das Grunzen fortsetzte.

Die Hexe, die seit dem fürchterlichen Tod ihres Neffen Ruud die Familie Jong führte, wollte gar nicht im Detail wissen, was Hein mit der Leiche alles anstellte. Sie ging weiter. Aus Arjens früherem Zimmer drang ebenfalls Lärm. Petronella stieß die Tür auf. Obwohl sie genau das sah, was sie erwartet hatte, stieg die Wut in ihr hoch.

Ihr völlig missratener Sohn Lucas hockte auf dem fleckigen TV-Sessel, auf dem sich einst sein Bruder Arjen mit Vorliebe Gewaltpornos und Snuff-Filme reingezogen hatte. Lucas tat genau das Gleiche, schien aber in Gedanken völlig woanders zu sein. Er starrte an die Decke und drehte nicht mal den Kopf, als Petronella neben ihn trat.

Die Hexe schaute auf den Bildschirm. Dort war der grausame Mord einer Rockerbande an zwei jungen Frauen zu sehen. Sie schienen zuvor vergewaltigt worden zu sein. Ständig grinsten und feixten die Rocker während ihrer Tat in die Smartphone-Kamera. Petronella wartete ab, bis die Taten vollendet waren und die Frauen ruhig lagen. Dann erst wandte sie sich an ihren Sohn. »He, hast du überhaupt registriert, dass ich hier bin?«, zischte sie ihn an.

»Ja, Mutter«, murmelte er.

»Hast du nichts Besseres zu tun, als deinem Bruder hinterherzutrauern?«

Lucas erwiderte nichts, starrte nur weiter an die Decke.

Zur Wut gesellte sich nun auch noch Verachtung bei Petronella. Drei Söhne hatte sie geboren. Edwin, vom Dämonenkiller ermordet, war ihr Liebling und ein überragender Hexer gewesen. Nicht so seine Brüder Arjen und Lucas, die ständig zusammengesteckt hatten. Beide dumm und unfähig, war Arjen von der Uhrmacherin gekillt worden. Und Lucas stellte sich nun auch noch als weinerliches Weichei heraus. In diesem Moment hätte sie ihn am liebsten in ein Schwein verwandelt und genüsslich geschlachtet. Aber sie beherrschte sich.

»Wie blöd bist du eigentlich?«, reagierte sie sich auf andere Weise ab. »Wenn er dir fehlt, dann erschaff doch einfach eine Projektion von ihm. Das müsstest sogar du noch hinbekommen. Aber auf diesen Gedanken müsste man erst mal kommen.«

»Das ist nicht dasselbe«, murmelte Lucas.

»Ach ja? Wie klug du doch bist. Sollte ich dich tatsächlich unterschätzt haben?« Sie lachte höhnisch. »Gut, wenn das so ist, dann vertraue ich dir doch noch eine anspruchsvolle Aufgabe an. Aber nur, weil ich gerade niemand anderen dafür habe, du Versager.«

Nun schaute er sie doch an. Ängstlich und unsicher. Denn Lucas wusste genau, wie sie reagierte, wenn jemand aus ihrer näheren Umgebung schmählich versagte. Gerade Lucas wusste das, denn er versagte fast immer. »Und was?«, fragte er mit krächzender Stimme.

»Ein Vögelchen hat mir etwas von gewissen Behemoth-Protokollen geflüstert. Die muss ich unbedingt haben. Und du wirst herausfinden, wo ich sie finden kann.«

Lucas schaute unglücklich drein. »Nie davon gehört. Was sind die Behemoth-Protokolle?«

»Coco Zamis wurde als junge Hexe auf Schloss Behemoth ausgebildet. Cyrano von Behemoth war Cocos Patenonkel, hat aber ihre magische Ausbildung weitgehend der erfahrenen Hexe Sandra Thornton überlassen. Nun habe ich gehört, dass die Thornton über Cocos Ausbildung ganz genau Protokoll geführt haben soll. Über jeden einzelnen Tag, über jede einzelne Schandtat. Was man so hört, soll Coco damals schon einige Regeln der Schwarzen Familie gebrochen haben. Aber niemand weiß etwas Genaues …«

»Dann frag die Thornton doch selbst.«

»Wie denn? Die ist längst tot«, zischte Petronella. »Und Graf Behemoth auch. Diese Protokolle könnten aber weitere Beweise enthalten, dass Coco Zamis eine Verräterin an der Schwarzen Familie ist. Was wir bisher über sie gesammelt haben, reicht noch nicht, um sie zu stürzen. Wir brauchen noch deutlich mehr. Deswegen will ich die Behemoth-Protokolle unbedingt haben. Lass dir was einfallen.«

»Ja, Mutter«, erwiderte er lahm.

»Dann komm jetzt mit zum Essen. Jasper hat leckere Blutsuppe gemacht.«

»Ich hab keinen Hunger.«

»Du kommst trotzdem mit.«

»Warum?«

»Weil ich es so will.« Petronella wusste nur zu genau, dass Lucas seinen Cousin Hein schon von jeher hasste, weil dieser fast zwei Meter groß und unverschämt gutaussehend war, während es ihr missratener Sohn mit seinem Hang zur Fettleibigkeit und zum Haarausfall deutlich schlechter erwischt hatte. Sie würde sich ein wenig an seiner Wut ergötzen, eine andere Motivation hatte sie nicht.

Lucas wagte keinen weiteren Widerspruch. Es wäre ihm auch schlecht bekommen. Er stand auf und trottete hinter ihr her. Als sie Heins Zimmer passierten, flog die Tür auf. Ein grinsender, blutbesudelter Hein trat heraus. Petronella warf einen flüchtigen Blick an ihm vorbei ins Zimmer. Der blutige Fleischklumpen auf dem Bett erinnerte sie nur noch ganz entfernt an einen Menschen.

Kurze Zeit später saßen sie an dem großen Tisch im Speisesaal und löffelten Blutsuppe. Auch Jen, Heins Bruder, war zu ihnen gestoßen. Er sah so gut aus wie Hein, ohne auch nur annähernd dessen Größe zu erreichen.

»Berichte«, forderte Petronella ihren Neffen auf.

Hein räusperte sich. »Wirklich ein köstliches Blutsüppchen, Tante.«

»Das weiß ich selber. Was für Neuigkeiten bringst du also?«

»Nun, es ist mir tatsächlich gelungen, mit Olivaro in Kontakt zu kommen, so wie du es mir aufgetragen hattest, Tante …«

Ein freudiger Impuls durchzuckte Petronella. Sie fixierte ihren Sohn mit einem Blick, der nur eines sagte: Siehst du, es gibt auch Leute, die was auf die Reihe kriegen.

»Und?«

»Nun, ich hatte ein längeres Gespräch mit Olivaro. Er hörte sich alles an und war gar nicht abgeneigt, uns zu unterstützen. Er sagte, dass es immer auf den Preis ankäme.«

»Ja, sicher. Und sonst noch?«

»Olivaro sagte zudem, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, den Eidesstab so zu beeinflussen, dass er einen selber auswählt. Wer das will, muss sich einem ganz bestimmten magischen Ritual unterziehen und dann in Sichtweite des Eidesstabes siebenhundertsiebenundsiebzig magische Formeln vor- und rückwärts aufsagen. Wenn er mit dir über die Gegenleistung einig wird, wäre er bereit, dich dem Ritual zu unterziehen und die Formeln zu lehren.«

Petronella konnte nicht mehr an sich halten. Sie stieß einen Triumphschrei aus. »Ich bin zu fast allen Schandtaten bereit. Wenn ich tatsächlich Macht über den Eidesstab bekommen kann, ist nicht nur Coco Zamis Geschichte. Dann werde ich über kurz oder lang auch Asmodi damit angreifen können, wenn ich es nur geschickt genug anstelle …«

Sie legte eine kleine dramaturgische Pause ein und schaute in die Runde. »Und wenn ich erst Fürstin der Finsternis bin, haben wir es geschafft. Dann stellen die Jongs die Herrscherfamilie. All die schmählichen Niederlagen wären mit einem Schlag vergessen, wir hätten wieder wirkliche Macht. So große, wie noch nie zuvor in unserer Familiengeschichte.« Sie lachte schrill.

»Äh, was hat denn dieser Olivaro mit dem Eidesstab zu tun?«, fragte Lucas.

Petronella nahm einen Löffel Suppe zu sich. Dass sich Hein die gewohnte hämische Bemerkung von oben herab verkniff, machte sie misstrauisch. »Olivaro hat den Eidesstab neu geschaffen, nachdem Asmodi den ersten zerstört hatte«, dozierte sie. Und an Hein gewandt: »Wann kann ich mit Olivaro verhandeln?«

Hein wand sich unbehaglich. »Nun, das ist so eine Sache. Nach unserem Gespräch sagte Olivaro, dass er sich innerhalb von achtundvierzig Stunden bei mir melden werde, um die Verhandlungen aufzunehmen. Aber … nun, seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

Petronella bekam plötzlich kaum noch Luft. »Wie – lange – ist – das – her?«, fragte sie gefährlich leise.

»Äh, lass mich mal nachzählen … heute ist Montag, nicht wahr?«

»Ja.«

»Es war am letzten Dienstag. Dann … äh, ist das jetzt sechs Tage her.«

»Was?«, brüllte Petronella außer sich. »Dann hat Olivaro den Kontakt also abgebrochen. Und das wagst du mir als Erfolgsmeldung zu verkaufen?«

»Ich hab ihn ja immerhin gefunden«, krächzte Hein kleinlaut.

»Und dafür hab ich dir das Bürschchen kredenzt?«, geiferte sie. »Das wirst du mir büßen!« Sie richtete Mittel- und Zeigefinger der linken Hand auf ihn. Aus ihren Fingerkuppen schossen Blitze. Sie zuckten knapp an Heins Kopf vorbei und schlugen in die dahinter stehende Vitrine. Die zersprang, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Hein brüllte entsetzt und duckte sich weg.

»Aus meinen Augen, alle!«, schrie Petronella außer sich. Die Männer stoben in wilder Flucht davon. Lucas stieß den Topf um. Blutsuppe lief über den Boden.

Zwei verstörte Dienstmädchen kamen herein. Eines putzte die Sauerei auf, während Petronella ihren Frust am anderen ausließ. Gleich darauf gellten schrille Todesschreie durch das Anwesen. Die alte Hexe kannte keine Gnade.

 

 

Wien

Die nächsten Tage verliefen weitgehend ruhig. Phillips Orakelanfall wiederholte sich nicht mehr, und Coco ging ihrer Arbeit als Schiedsrichterin nach. Neben dem üblichen Kleinkram gab es zwei ernstere Fälle von Dämonenstreitigkeiten, in denen sie schlichten musste. Wenn sie sich draußen bewegte, sah sie immer mal wieder das leichte Luftflimmern in ihrer Nähe. Sie wurde also weiter beschattet, hatte aber auch nichts anderes erwartet.

Durch das Fenster des Schiedsrichterbüros beobachtete sie einen Mann, der sein Auto vom Schnee befreite, während sie über einem uralten Folianten brütete, der eine weitgehend vollständige Gesetzessammlung der Schwarzen Familie enthielt; die Modifizierungen und Ergänzungen waren in einigen eigenständigen Novellen niedergelegt. Die Schiedsrichterin besaß sie natürlich auch, war sich aber nicht sicher, ob es tatsächlich alle waren.

Coco seufzte. Wie verfuhr man mit einem Vampir, der in Notwehr zwei Mitglieder seiner eigenen Familie erledigt hatte, obwohl es die Gesetze strengstens verboten, Mitglieder der eigenen Familie zu töten? Genau dieser Fall war vor zwei Tagen im schottischen Edinburgh eingetreten. Laut Aussage des absolutistisch herrschenden Vampirs Peter Cushing hatten sein Sohn Mark und dessen Frau Sandra die Herrschaft über den Clan erlangen und ihn deswegen vorzeitig beseitigen wollen. Diese Version aber zweifelte die verfeindete Sippe der Duffields an und hatte den alten Cushing deswegen bei der Schiedsrichterin angeschwärzt. Die Duffields glaubten vielmehr, dass der Alte scharf auf seine Schwiegertochter gewesen war, von Mark und ihr eine Abfuhr kassiert und sie deswegen beseitigt hatte, weil er keinen Ungehorsam, gleich welcher Art, gegen sich duldete. Zunächst hatte Coco nun die Frage zu klären, ob eine Einmischung von außen in interne Familienangelegenheiten zwingend als offizielle Kampfansage gewertet werden musste oder ob es da Spielräume gab.

In diesem Moment klingelte Cocos Smartphone, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sie griff danach, erfreut über diese kleine Ablenkung. Die Freude schlug sogleich in Unsicherheit und Wut um. Wut darüber, dass die Dinge immer dann geschahen, wenn sie am wenigsten gelegen kamen.

»Dorian, ausgerechnet«, murmelte sie. Sie überlegte nur einen kurzen Moment, ob sie sich melden sollte oder nicht. Dann nahm sie das Gespräch an. Sie musste Dorian sagen, was Sache war. Das nächste Mal würde er sie vielleicht außerhalb des Schiedsrichterbüros erreichen, was für Asmodis Spione dann sicher ein gefundenes Fressen war. Sie atmete tief durch.

»Dorian? Hör zu, ruf mich lieber nicht mehr an.«

»Hallo? Dir auch einen schönen Tag«, kam es irritiert zurück. »Du weißt doch noch gar nicht, was ich von dir will.«

»Egal, worum es sich handelt«, zischte Coco unfreundlicher als beabsichtigt. »Ich kann dir gerade nicht helfen.«

Stille am anderen Ende.

»Bitte, nimm in nächster Zeit keinen Kontakt zu mir auf, ja?«

»Halt, warte! Leg nicht auf. Was ist los?« Er schien geglaubt zu haben, dass sie das Gespräch damit beendete.

»Nichts, was du wissen musst.«

»Steckst du in Schwierigkeiten?«

»Ja, aber du hilfst mir nicht, wenn du dich einmischst. Im Gegenteil.« Sie sprach leise und hastig, weil sie das Gefühl hatte, das Gespräch so schnell wie möglich beenden zu müssen. »Glaub mir, ich kriege das hin. Ich kann das regeln. Vorausgesetzt, du hältst vorläufig strikt Abstand zu mir.«

»Aber …«

»Ist es so schwer zu begreifen? Ich stehe im Moment unter spezieller Beobachtung, und der Verdacht, ich könnte weiterhin mit dir zusammenarbeiten, wäre fatal.«

Dorian räusperte sich. »Kann ich irgendwas für dich tun?«