Fußnoten

 

1 Die öffentlichen Mülleimer heißen im Wiener Raum so. Tatsächlich wurde diese Idee der metallenen, öffentlichen Mülleimer in den Dreißiger Jahren aus Köln importiert.

 

2 Verächtlich für »Kind«

 

3 Teppich auf Rumänisch

 

Lieb Schwesterlein, magst böse sein …

 

 

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Band 50

 

Lieb Schwesterlein, magst böse sein …

 

von Michael Marcus Thurner und Logan Dee

nach einem Exposé von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2017

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Für Ernst Vlcek,der in uns allen den Schwarzen Funken entzündet hat!

 

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(Foto © Uwe Voehl)

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco fZamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind.

 

 

 

Vorwort:

 

Coco Zamis wird 50. Zwar nicht nach Kalenderjahren (da hat sie wie die Serie noch ein paar Jährchen vor sich), aber immerhin nach Bänden. Und immer wieder, wenn Uwe Voehl während der letzten Monate mit diesem Thema auf mich zukam, überfiel mich irgendein Gefühl zwischen Freude, Erstaunen und – Panik!

Schon 50??

Natürlich, wir schreiben das Jahr 2017. Es ist über 40 Jahre her, dass DAS HAUS ZAMIS im Rahmen der »Dämonenkiller«-Serie mit den beiden Romanen »Hexensabbat« und »Die Stunde der Ameisen« das Licht der Welt erblickte. Damals ahnten die Autoren Ernst Vlcek und Neal Davenport wohl nicht einmal selbst, dass Coco dereinst noch viele weitere »Jugendabenteuer« erleben würde. Zehn Romane mit weitestgehend losem rotem Faden waren es schließlich, die Ende der Siebzigerjahre während bzw. nach Einstellung der Hauptserie innerhalb der »Dämonenkiller«-Taschenbuchreihe des Pabel-Verlags erschienen.

Danach kam lange nichts. Bis Zaubermond zwanzig Jahre später die Fortsetzung anpackte. Auch da stand natürlich zunächst der »Dämonenkiller« Dorian Hunter selbst im Vordergrund, aber schon schnell wurden die Rufe der Leser nach den Coco-Romanen laut. Und nach einer Fortsetzung. Trotzdem wäre es natürlich vermessen gewesen, damals schon an so etwas wie ein 50-Bände-Jubiläum zu denken.

So viele Wandlungen und Veränderungen hat die Serie seitdem durchgemacht. Da wäre natürlich als Erstes die Stabübergabe an die neuen Autoren zu nennen: Ernst Vlcek hat noch einige Romane beigesteuert, bis Uwe Voehl mit Band 14 endgültig das Zepter als Exposéautor übernahm. Das erste große Thema bildeten damals die Romane um Michael Zamis und seine Vergangenheit in Russland – ein Wegweiser für die Entwicklungen, die folgten und schließlich in die Umfirmierung der Serie in DAS HAUS ZAMIS mündeten. Längst ging es nicht mehr nur allein um Coco und ihre Erlebnisse, bevor sie Dorian Hunter kennenlernte. Immer mehr Figuren der über die gesamte Welt verzweigten Zamis-Sippe (einschließlich Verbündeter, Bekannter und Gegner) kamen hinzu und machten DAS HAUS ZAMIS zu einer Familiensaga, deren Handlung sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte.

Wie lange wird die Serie noch laufen?

Diese bange Frage stellten sich mitunter nicht nur die Leser, sondern auch wir Autoren – denn DAS HAUS ZAMIS zählt wohl zu den wenigen Serien, deren Ende seit Beginn bekannt ist: Eines nicht sehr fernen Tages nämlich würde Coco in Wien Dorian Hunter über den Weg laufen, sich in ihn verlieben und dafür aus der Schwarzen Familie verstoßen werden ... und die Handlung von DAS HAUS ZAMIS damit nahtlos in die von DORIAN HUNTER übergehen.

Auf unserem mittlerweile legendären Autorentreffen in Wien 2005 haben wir diese Frage natürlich auch mit Ernst Vlcek und Neal Davenport diskutiert. Ihre Ansicht zu dem Thema war klar: Solange die Leser DAS HAUS ZAMIS lesen wollten, würde dieser Tag eben niemals erreicht werden – und Coco die einzige Frau der Welt sein, die Zeit ihres Lebens 22 Jahre jung bleibt ... Damals ahnten wir alle nicht, dass es eines Tages doch ganz anders kommen sollte, weil mit den neuen Autoren auch neue Ideen Einzug erhielten und die Serie eine Entwicklung nahm, die vor zwölf Jahren einfach niemand hatte vorhersehen können.

Mein Dank für die vergangenen 50 Bände geht darum nicht nur an Ernst Vlcek und Neal Davenport, sondern inzwischen in fast noch größerem Maße an Uwe Voehl. Er war und ist Triebfeder, Ideengeber und Motor der Serie – spätestens seit dem Zeitpunkt, seit ich meinen letzten Roman beisteuerte (furchtbar, wie lange das nun auch schon wieder her ist). Natürlich habe ich die Serie als Verleger trotzdem verfolgt – und auch die weiteren Veränderungen: Mit Band 19 stieg Catalina Corvo als Co-Autorin ein und schrieb neben Uwe die meisten Romane. Zusammen bildeten sie lange Jahre ein großartiges Duo. Bis sich ein gewisser Logan Dee dazwischenmengte, der kürzlich von Besuchern einer »John Sinclair«-Convention als »exakter Doppelgänger von Uwe Voehl« beschrieben wurde ... und natürlich Michael Marcus Thurner, der mit Band 33, »Töte Dorian Hunter!«, den oben angedeuteten entscheidenden Wendepunkt beisteuerte: Mit diesem Roman emanzipierte sich DAS HAUS ZAMIS endgültig von DORIAN HUNTER und verfolgt seitdem konsequent seinen eigenen Weg – in eine ungewisse Zukunft ...

Des Weiteren danke ich, in alphabetischer Reihenfolge, allen weiteren Autoren: Simon Borner, Diana Dark, Oliver Fröhlich, Jörg Kleudgen, Christian Montillon (der übrigens mit Band 8, »Jagd auf die Paria«, seine erste Veröffentlichung überhaupt feierte und inzwischen Hauptexposéautor bei »Perry Rhodan« und »Die drei ???« ist), Peter Morlar, Ralf Schuder, Susan Schwartz, Christian Schwarz und Susanne Wilhelm. Hervorheben möchte ich aus dieser Riege – aus traurigem Anlass – Rüdiger Silber. Er ist, von den Serienvätern Ernst Vlcek und Neal Davenport abgesehen, der einzige DHZ-Autor, der bereits gestorben ist.

Darüber hinaus gibt es noch einige weitere Menschen, die entscheidend zum Gelingen der Serie beigetragen haben: Illustrator Mark Freier, der sämtliche Coverbilder gezeichnet hat, den Grafiker Sebastian Hopf, der mit seinen Entwürfen den Look der Serie entwickelt hat und bis heute für die Fertigstellung der Druckunterlagen eines jeden Buches verantwortlich ist. Sowie Jan Werner und Thomas Knip, die die Serie von redaktioneller Seite betreut haben bzw. bis heute betreuen.

Ihr alle habt DAS HAUS ZAMIS zu dem gemacht, was es ist – natürlich immer im Zusammenspiel mit euch, lieben Lesern! Auch euch gilt deshalb mein herzlicher Dank: für eure jahrelange Treue, für die wertvollen Rückmeldungen und die Leidenschaft, mit der ihr Cocos Erlebnisse verfolgt habt. Eine Leidenschaft, die wir wohl alle teilen!

So bleibt mir zum Abschluss nichts weiter, als dem HAUS ZAMIS weiterhin Erfolg zu wünschen – für hoffentlich noch viele weitere Jahre!

 

Dennis Ehrhardt (alias Dario Vandis)

Hamburg, April 2017

 

 

Lieb Schwesterlein, magst böse sein …

 

von Michael Marcus Thurner

nach einem Exposé von Uwe Voehl

 

 

1.

 

Ich besah mich im Spiegel. Ich war jung. Ich war schön. Und wenn ich nach den Blicken der Männer ging, war ich begehrenswert.

Äußerlichkeiten, alles nur Äußerlichkeiten!

Zumindest machte es mich nicht glücklicher. Nicht zufriedener. Was zählten schon Äußerlichkeiten?

Ich war an diesem Morgen in meinem Refugium unter dem Café Zamis erwacht und hatte gleich geahnt, dass der Tag nicht meiner werden würde. Ich war buchstäblich mit dem linken Bein aufgestanden.

Auch nachdem ich geduscht hatte, fühlte ich mich nicht besser. Vielleicht lag es ja auch an diesem Kellerloch. Selbst eine Hexe wie ich wünschte sich manchmal, von einem Sonnenstrahl geweckt zu werden.

Wenn man es so wollte: Im Moment fehlte die Sonne in allen Facetten meines Lebens.

Ich schaute erneut in den Spiegel, nackt wie ich war. Meine Haut war blass. Klar, wann hatte ich schon mal Zeit, ein Sonnenbad zu nehmen? Und mein Trip in die USA lag nun auch schon länger zurück.

Ich befahl dem Spiegel, meine Haut bräunen zu lassen. Natürlich war es nur mein Spiegelbild, das in der nächsten Sekunde tatsächlich so aussah, als käme es gerade von den Bahamas. Ich hätte auch einen Zauber wirken können, der meine eigene Haut gebräunt hätte, aber auch das wäre wieder nur äußerlich gewesen.

Mein Seelenleben erhellte diese Art von Kosmetik kein bisschen.

Leider, einen Zauber, der einen mit Glückhormonen überschwemmte, kannte ich zwar, aber er war mit Nebenwirkungen verbunden, die ich mir lieber ersparen wollte. Das letzte Mal, als ich der Versuchung nicht hatte widerstehen können, hatte ich die Dosis falsch eingeschätzt. Ich war in den nächstbesten Club gefahren und hatte mich gleich von mehreren Männern abschleppen lassen.

Dumm gelaufen!

Ich zeigte meinem Spiegelbild den Mittelfinger und machte die Bräune wieder rückgängig. Dafür befahl ich ihm, mein Spiegelbild altern zu lassen.

An irgendeinem musste ich ja meine schlechte Laune auslassen. Die Coco im Spiegel alterte. Aber selbst mit dreißig, vierzig und fünfzig sah sie noch blendend aus.

Erst die siebzigjährige Coco zeigte ein paar Falten, doch auch die standen ihr. Die vormals schwarzen Haare waren jetzt weiß. Es verlieh ihr eine ungeahnte Würde.

Ich hatte plötzlich Spaß an dem Spiel. Und tatsächlich ging es mir allmählich besser. Mir wurde bewusst, wie wenig mein momentanes Empfinden zählte. Das Leben setzte sich aus unzähligen Augenblicken zusammen. Aus Augenblicken wurden Tage, Wochen, Jahre … Was zählte da schon mein Tief an diesem Morgen?

Ich beschloss, an diesem Tag einfach mal fünfe gerade sein zu lassen und mich zu entspannen. Einfach mal durch die Stadt bummeln, mich in einen Biergarten setzen und mich ausnahmsweise mal bedienen zu lassen anstatt in meinem eigenen Café Mädchen für alles zu spielen. Oder ich …

Mein Handy klingelte. Ich lief ins Wohnzimmer, wo ich es am Abend zuvor auf den Tisch gelegt hatte, und sah aufs Display. Mein Bruder Georg hatte Sehnsucht nach mir. Wenn das mal nicht meinen Tagträumen einen Strich durch die Rechnung machte. Meistens war Georg der Überbringer schlechter Nachrichten. Auf gute hoffte ich meistens vergebens.

Ich setzte trotzdem ein Lächeln auf, denn irgendwo hatte ich mal gelesen, dass man damit auch gleich anders klänge. »Bruderherz, seit wann hast du so früh am Morgen schon Sehnsucht nach mir?«, begrüßte ich ihn.

Zwei, drei Sekunden herrschte Stille, dann antwortete er misstrauisch: »Wie bist du denn drauf? Diesen aufgesetzten Frohsinn erträgt ja kein Mensch!«

»Ich bitte doch um etwas mehr Sensibilität! Ich habe gerade erst meinen morgendlichen Tiefpunkt mit ein paar mentalen Imaginationsübungen erfolgreich überwunden …«

»Hör gefälligst auf mit dem Quatsch. Ich muss mit dir reden!«

»Aber das tun wir doch bereits!«, flötete ich. Das Gefühl, dass mein Tag gelaufen sein würde, verstärkte sich.

»Schluss jetzt! Es ist ernst! Vater hat mich gebeten, dich anzurufen. Du sollst sofort in die Villa kommen.«

»Soso: Dich bittet er, mir befiehlt er!«

»So war das nicht gemeint. Nun lass dich nicht so gehen, es ist wirklich dringend.«

 

Als ich vor dem Tor zu unserem Grundstück stand, hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis. Wie oft seit meinem Auszug hatte ich hier schon geklingelt, um hineingelassen zu werden? Natürlich besaß ich keinen Schlüssel mehr. Keinen magischen Schlüssel. Als ich vor einem Jahr ausgezogen war, hatte mein Vater als Erstes die magischen Codes geändert, die uns Zamis jederzeit den Zutritt zum Grundstück und zum Haus gewähren. Seitdem musste ich vor dem Tor stehen und anklingeln wie jeder Besucher auch.

Immerhin war ich nur Besucherin, und darüber war ich wie immer froh. Meinen Auszug, meine Trennung von der Familie und die damit verbundene Selbstständigkeit hatte ich noch keinen Augenblick bereut.

Noch ehe ich jedoch überhaupt den Klingelknopf drücken konnte, schwang das Tor bereits lautlos nach innen auf. Nanu, hatten mich die meinen etwa bereits erwartet? Dann musste der Anlass tatsächlich dringend sein.

Wie meistens.

Ich betrat den Garten und hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst. Aber ich konnte es nicht sagen. Als ich mich umdrehte, schloss sich das Tor von selbst. Okay, das war also irgendeine hübsche Zauberei, aber nichts, was mich hätte irritieren sollen. Diesen Trick beherrschte ich mit einem Fingerschnipsen.

Stirnrunzelnd schaute ich zur Villa und suchte mit den Blicken die Fensterfront ab, konnte aber niemanden dahinter erblicken.

Ich zuckte die Schultern und ging den Kiesweg, der zum Haus führte, weiter. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wurde mit jedem Schritt stärker. Ich blieb stehen, drehte mich einmal um die eigene Achse und inspizierte die Umgebung. Da war nichts, was ich nicht kannte. Jeder Busch, jeder Baum war mir von Kindheit an vertraut. Ebenso die magischen Fallen, die überall auf unvorsichtige Besucher und vor allem unerwünschte Eindringlinge lauerten. Diese hatte mein Vater zum Glück nicht nach meinem Auszug verändert. Vielleicht waren ein paar wenige hinzugekommen, aber ich gehörte zur Familie. Mir konnten sie nicht gefährlich werden.

Die Ahnung, dass etwas anders war als sonst, verstärkte sich. Unwillkürlich schaltete ich in den Verteidigungsmodus. Meine Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Sollte mich jemand angreifen, würde ich augenblicklich reagieren.

Aber wer immer dieser Jemand oder dieses Etwas war – er oder es zeigte sich einfach nicht.

Also setzte ich meinen Weg fort.

Und dann hörte ich ihn! Es war nur ein leises Geräusch gewesen – so leise, dass ich zunächst dachte, ich hätte es verursacht: durch meine Schritte, die den Kies leicht bewegten.

Aber da war noch jemand, der über den Kiesweg ging.

Und zwar direkt hinter mir!

Ich blieb stehen.

Drehte mich langsam um.

Und sah niemanden.

Also schön! Spielte ich das Spiel eben mit. Aber auf meine Weise. Und nach meinen Regeln.

Ich wandte mich erneut dem Haus zu und ging weiter. Nach zwei Schritten versetzte ich mich in den schnellen Zeitablauf. Neben mir beherrschte mein Bruder Georg diese Spezialität der Zamis am besten. Daher vermutete ich, dass er es war, der sich den Spaß mit mir erlaubte. Er war hinter mir hergegangen und hatte sich in dem Moment, als ich mich umgedreht hatte, in den schnelleren Zeitablauf versetzt.

Also hätte ich ihn jetzt sehen müssen.

Aber nach wie vor blieb mein Verfolger unsichtbar!

Und wenn ich es recht bedachte, sah so ein schlechter Scherz auch gar nicht nach Georg aus. Aber wer legte es dann darauf an, mich zu foppen?

Ich versetzte mich wieder in den normalen Zeitablauf. Als ich weiterging und meine Ohren spitzte, hörte ich erneut, dass jemand hinter mir herging.

Nun, zumindest schien er es nicht auf mich abgesehen zu haben. Aber eines hatte er zumindest erreicht: Ich war sauer.

Und ich war es erst recht, als das Spielchen weiterging und sich die Haustür, erneut ehe ich überhaupt klingeln konnte, wie von selbst öffnete und eine Stimme aus dem Nichts mich begrüßte: »Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Zamis! Oder darf ich Sie Coco nennen? Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr erschreckt …«

»Schluss mit dem Unsinn!«, sagte ich verärgert. »Wer sind Sie?«

»Oh, Sie aufzuklären steht mir nicht zu. Das überlasse ich Ihrem Herrn Vater!«

Was sollte das? Und vor allem diese gestelzte Sprache!

»Wo steckt mein Vater?«, wollte ich wissen.

»Im Wohnzimmer. Ihr Herr Bruder und die gnädige Frau erwarten Sie dort ebenfalls.«

Herr Bruder? Gnädige Frau? Diese neuen Töne im Hause Zamis waren ja fast noch merkwürdiger als die Schritte des Unsichtbaren!

»Darf ich vorangehen?«

»Nein, den Weg finde ich selbst!«, sagte ich brüsk und ließ meinen unsichtbaren Begleiter stehen.

Tatsächlich erwartete mich das Empfangskomitee bereits im Wohnzimmer. Mein Vater, gewandet in seinem seidenen Hausmantel, saß in dem englischen Chesterfield-Sessel, von dem aus er das ganze Zimmer im Blick hatte. Die Beine lässig übereinandergeschlagen, ein Glas Whisky in der Hand, begrüßte er mich. »Schön, dass du endlich da bist.« Wie immer klang es ein wenig vorwurfsvoll.

Meine Mutter Thekla schritt auf mich zu und drückte mich kurz zur Begrüßung. Dann trat sie wieder einen Schritt zur Seite. Sie erschien mir ungewöhnlich blass.

Mein Bruder Georg nickte mir nur zu. Er saß auf dem Sofa, ebenfalls ein Glas Whisky haltend.

»Seit wann trinkt ihr schon am frühen Morgen?«, fragte ich. »Und seit wann beschäftigt ihr einen Spaßvogel als Diener?«

Mein Vater zog eine Augenbraue hoch. »Meinst du etwa Oskar?«

»Ich habe vergessen, es dir am Telefon mitzuteilen«, schaltete sich Georg ein. »Oskar ist unser neuer Hüter des Hauses. Zu seinen ersten Lebzeiten hatte er zweiunddreißig sadistische Morde auf dem Gewissen. Seine Spezialität war es, sich als Butler in betuchte Häuser einzuschleimen und die Bewohner grausam zu foltern und schließlich zu töten, um an ihr Vermögen zu kommen.«

»Ich verstehe, und jetzt hat er sich bei euch eingeschlichen?«

»Red keinen Unsinn!«, brauste mein Vater auf. »Und setz dich endlich! Es macht mich ganz nervös, wie du auf mich herabschaust!«

»Am Ende seines Lebens geriet Oskar an den Falschen«, fuhr mein Bruder unverdrossen fort. »Er erschlich sich unter falscher Identität eine Anstellung in einem Dämonenhaushalt. Dort setzte man seinem Treiben ein jähes Ende und versteigerte ihn auf Debay …«

Es gab nicht nur das Dark Net. Es gab auch das Deep Net, zu dem nur Mitglieder der Schwarzen Familie Zugang hatten. Auf der Internetplattform Debay, oder Demonbay, gab es so gut wie alles zu kaufen oder zu ersteigern, was das Schwarze Herz begehrte. Vom Menschenherz bis zum Haushüter.

»Ich hoffe nur, ihr habt nicht zu viel für ihn bezahlt«, sagte ich. »Und wieso ist er eigentlich unsichtbar?« Ich nahm meinem Vater gegenüber in einem Sessel Platz.

»Nun ja«, mischte sich meine Mutter ein. »Oskar ist nicht wirklich eine Augenweide. Seine ehemaligen Besitzer bestraften ihn, indem sie ihn bei lebendigem Bewusstsein in Salzsäure badeten. Wenn du ihn sehen würdest, wärest du geschockt.«

»Mich kann nichts mehr schocken«, erklärte ich, verzichtete jedoch auf einen Beweis.

»Darf ich dem Fräulein auch einen Drink servieren?«, fragte Oskar.

»Schleich dich schon!«, befahl mein Vater. »Den Rest übernehme ich selbst«

»Sehr wohl«, ließ sich die Stimme des Unsichtbaren vernehmen. Er klang leicht beleidigt.

»Kommen wir endlich zur Sache!«, fuhr mein Vater fort. Er wedelte mich einem Schreiben, dass neben ihm auf dem Sideboard gelegen hatte. »Wir haben geerbt.«

»Erfreulich. Und was springt für mich dabei heraus?«

»Das ist alles, was dich interessiert?«, fragte er empört. »Willst du nicht wissen, was es mit der Erbschaft auf sich hat?«

»Ich höre«, seufzte ich. Es interessierte mich tatsächlich nur wenig. Andererseits wuchs meine Befürchtung, dass ich nicht ungeschoren davonkommen würde. Der Tag hielt bestimmt noch einige Überraschungen für mich bereit. Und ich sollte recht behalten.

»Meine Großtante, die Fürstin Bredica, ist gestorben.«

»Mein Beileid«, murmelte ich.

»Kein Grund zur Trauer. Sie hatte schon vor mehr als einem Jahrhundert ihren Zenit längst überschritten. Ehrlich gesagt, ich hatte schon fast vergessen, dass sie überhaupt noch existiert.«

Ich versuchte mich an den Namen zu erinnern. Bredica … Ja, meine Eltern hatten die Fürstin ab und an erwähnt, aber nie mir gegenüber, sondern immer dann, wenn sie miteinander gestritten hatten. Das war lange her …

»Jedenfalls werden wir von ihrem Notar gebeten, uns auf der Temeschburg einzufinden …«

»Wo soll das sein? In den Karpaten?«

»Du hast es erraten, Schwesterchen. Die Temeschburg liegt ganz in der Nähe vom legendären Schloss Dracul. In der Tat ist die Fürstin mit dem legendären Dracul um sieben Ecken verwandt. Und das heißt, wir auch! Hey, wir sind Draculas Verwandte und ich wahrscheinlich sein Urururgroßneffe oder so was in der Art!«

»Hör auf mit dem Geschwätz!«, wies ihn mein Vater zurecht. »Aber es stimmt, die Temeschburg liegt im westlichen Rumänien. Es sind keine fünf Stunden Fahrt bis dorthin. Wir werden mit dem Bentley reisen. Oskar hat ihn schon klargemacht.«

»Moment mal!«, protestierte ich und hob abwehrend beide Hände. »Das hört sich so an, als hättet ihr schon die Reisetaschen gepackt! Und was habe ich damit zu tun?«

»Du wirst mich und deine Mutter begleiten«, erklärte mein Vater.

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Er kapierte einfach nicht, dass er nicht mehr über mich zu bestimmen hatte. Oder er wollte es einfach nicht kapieren? Ich hatte mich nicht umsonst seit Jahren von meiner Familie losgesagt, war zwischenzeitlich sogar von ihnen geächtet und für Freiwild erklärt worden, war aus der Villa gezogen und hatte mit dem Café Zamis mein eigenes Refugium geschaffen.

»Ich kenne diese Fürstin Bredica noch nicht einmal«, widersprach ich.

»Sie ist, wie gesagt, tot, also tut das nichts zur Sache.«

»Und warum fahrt ihr nicht alleine? Oder nehmt Georg mit?«

»Nun, einer muss auf die Villa aufpassen«, sagte Georg. »Oskar ist noch nicht lang genug bei uns, um ihm allein das Haus anzuvertrauen.«

»Und was ist mit Lydia?«

»Sei nicht zynisch, Coco!«, wies mich ausgerechnet meine Mutter zurecht. »Du weißt genau, dass sich Lydia noch immer in einer Spezialklinik in der Schweiz befindet, damit man ihre Brandwunden behandelt.«

Nein, das hatte ich nicht gewusst. Mir erzählte ja nie jemand etwas, wenn man nicht gerade meine Hilfe benötigte. »Du meinst wahrscheinlich eine Schönheitsklinik«, antwortete ich ätzend.

»Es ist so etwas in der Art, ja«, antwortete meine Mutter ausweichend.

Der Gedanke, dass Lydia es sich in der Schweiz auf irgendeiner Promi-Schönheitsfarm gutgehen ließ, ihr Zucker in den Hintern geblasen wurde und sie wahrscheinlich einen Lover nach dem anderen vernaschte, während mir eine stinklangweilige Reise in die Karpaten bevorstand, machte mich noch wütender.

»Ich fahre nicht!«; sagte ich kategorisch.

»Und wenn ich dich darum bitte?«, sagte meine Mutter.

Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Meine Mutter hatte mich noch nie um etwas gebeten. Niemand in der Familie. Jeder hatte nur über mich bestimmt. Vor allem mein Vater.

»Dann – dann ist es natürlich etwas anderes«, sagte ich verwundert. Und damit war mein Schicksal besiegelt.

 

 

Vergangenheit

Hansi hatte es wieder einmal auf sie abgesehen. Er trat nach ihr, hetzte sie durch die Gänge der Kanalisation, ließ Steinsplitter auf sie herabprasseln.

»Ich erwisch dich, du hässliches Balg, und wenn ich dich habe, zerdrück ich dich!«

Hansi atmete schwer, Florentina konnte sein Schnaufen hören. Wie er es geschafft hatte, bei der Magerkost im Hause Badgruber derart viel Fett anzusetzen, war ihr ein Rätsel.

»Ich zerquetsch dir den Schädel und zerreibe deine Knochen! So lange, bis von dir nur noch eine schwabblige Masse übrig ist, die ich Papa zum Essen vorsetze.«

Etwas fuhr auf Florentina hinab. Ein Steinsplitter bohrte sich in ihren rechten Oberarm, sie schrie laut auf. Schneller, feuerte sie sich selbst an, schneller! Er meint es diesmal ernst!

Sie nahm den Weg nach links und packte den Handlauf einer Leiter, die in die Tiefe führte. Die Sprossen waren mit glitschiger, stinkender Masse überzogen. Von oben, von der Oberfläche, drangen durch einen Kanaldeckel Menschenstimmen zu Florentina herab. Je weiter sie nach unten stieg, desto leiser wurden sie. Auch das Licht wurde diffus. Dieser Bereich der Kanalisation wurde kaum begangen oder gereinigt.

»Bleib stehen, Schwesterlein!«, rief Hansi. »Du weißt ganz genau, dass ich dich erwischen werde. Du ärgerst mich, und je ärgerlicher ich werde, desto schmerzhafter wird das Spiel für dich.«

Er trat ebenfalls auf die Leiter, etwa zehn Meter über Florentina. Das Gestänge ächzte. Staub rieselte auf sie hernieder. Eine der rostigen Schrauben drohte, aus dem Stein gerissen zu werden. Hansi war wirklich fett.

»Ich hab dir nichts getan!«, rief sie. »Lass mich in Ruhe!«

»Du lebst, du atmest, du isst! Du nimmst uns Platz weg in der Wohnung.«

Wie alt war Hansi? Vierzehn oder fünfzehn? Florentina wusste es nicht. Doch er war schon immer sonderbar gewesen, noch sonderbarer als die meisten ihrer Geschwister. Und jetzt, da er erwachsen wurde, verschlimmerte sich seine Blödheit weiter.

Sie lugte in einen Gang, der vom Schacht abzweigte. Er war völlig dunkel. Er mochte fünf Meter voraus enden oder aber mehrere Kilometer durch die Wiener Kanalisation führen – sie wusste es nicht zu sagen.

»Ich hab dich gleich!«, hörte sie Hansi frohlocken.

Sie durfte nicht nachdenken, musste handeln. Ihr Bruder hatte sie beinahe erreicht. Sie stieg in den Gang ein, die Arme weit von sich gestreckt und mit den Beinen vorsichtig über den Boden tastend.

»Du entkommst mir nicht, Schwesterlein.«

Neben Florentina brach ein Gesteinsbrocken aus der Wand. Er fiel unmittelbar neben ihr zu Boden und kullerte in die Dunkelheit. Der Weg führte leicht abwärts.

Florentina atmete so flach wie möglich und achtete darauf, nur ja kein Geräusch zu machen. Ab und zu tastete sie nach links und rechts oder blieb stehen und schnupperte nach frischer Luft. Hinter Florentina war nichts mehr zu hören. Hatte Hansi aufgegeben, war er umgekehrt? Wagte er sich nicht in die Dunkelheit vor?

Nein. Wenn er einmal so richtig zornig war, dauerte es Stunden oder gar Tage, bis er sich wieder beruhigt hatte. Außerdem liebte er die Schwärze, wie die meisten ihrer Geschwister.

Also weiter.

Der Gang wurde enger und niedriger. Immer wieder stieß sie sich den Kopf an Stalaktiten. Es stank nach Fäkalien, aber das war ein Geruch, den sie kaum mehr bemerkte. Er war allgegenwärtig im Bauch Wiens.

»Hab dich gleich!«

Hansi war da! Wie hatte er es bloß geschafft, ihr derart nahe zu kommen, ohne dass sie es bemerkte?

Florentina fühlte etwas und reagierte instinktiv. Sie duckte sich, eine Hand wischte knapp oberhalb ihres Kopfes durch die Luft. Krallen schlugen in die Mauerwand und scharrten dort entlang, schrill und laut.

Sie konnte Hansi fühlen. Ihn riechen. Diesen Gestank nach Scheiße, Schweiß und Fäulnis.

Florentina tastete über feuchtes Mauergestein und schleimige Masse, die alles Mögliche sein konnte. Mit dem Finger zerdrückte sie etwas, das sich bewegte und normalerweise zu Mittag in der dünnen Suppe trieb.

Hansi hieb erneut nach ihr. Florentina schaffte es ein weiteres Mal, sich wegzuducken. Die zentimeterlangen Krallen ihres Bruders würden sie aufschlitzen.

Hansi schnaufte und grunzte. Schweißspritzer trafen sie im Gesicht und auf dem Körper. Sie fühlten sich ölig an.

»Ich sagte doch, dass ich dich erwischen würde, Schwesterlein.«

Ein Gesteinsbrocken schob sich aus dem Gemäuer, dann noch einer. Sie klemmten Florentina ein, nahmen ihr immer mehr ihrer Bewegungsfreiheit. Hansi konnte Dinge bewegen. Seine Gabe war nur schwach ausgeprägt. Doch je zorniger er wurde, desto besser vermochte er sie einzusetzen.

»Lass mich in Ruhe, Hansi. Bitte! Ich hab dir doch nichts getan!« Stein drückte gegen ihre Schläfen, links und rechts. Sie war wie in einem Schraubstock gefangen.

»Ich mag dich nicht, Florentina. Du nimmst mir Platz weg am Esstisch. Und weißt du was? Papa hat mich vor wenigen Tagen in etwas eingeweiht, das mir richtig gut gefällt.«

Florentina hörte die Krallen ihres Bruders über Stoff scharren. Er nestelte an seiner Hose umher und versuchte, die Knöpfe aufzubekommen. Irgendwann rutschte Stoff zu Boden. Auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, so reichte Florentinas Fantasie doch dafür, sich vorzustellen, dass er nun halbnackt vor ihr stand, mit seinen dicken, von der Krätze befallenen Beinen.

»Papa hat mir gezeigt, wie das mit dem Pudern ist. Er hat mich zur alten Lintschi gebracht. Du kennst sie doch, oder? Die Vettel aus der Vorstadt, die all die Zuckerln verkauft. Und stell dir vor: Sie bietet nicht nur Süßigkeiten an, sondern auch sich selbst.«

Florentina erinnerte sich an die alte Lintschi: Sie war klein und kugelrund, die Schlauchbrüste fielen ihr schlaff über den Bauch. Zähne hatte sie kaum mehr im Mund, dafür aber einen stachligen Bart.

»Sie hat mir das Ding zwischen den Beinen gerieben«, fuhr Hansi fort. »Fest und grob war das – und schön. Du glaubst gar nicht, wie sehr es mir gefallen hat. Und dann hat sie mir gezeigt, was sie zwischen den Beinen hat. Behaart und schmutzig war’s, aber trotzdem schön.«

Florentina hörte, wie er Luft durch die Nase einsog, laut und stoßweise.

»Du hast auch so was zwischen den Haxen, Schwesterlein. Es ist sicherlich nicht so faltig und dreckig. Aber ich werde es jetzt angreifen. Und dann steck ich dir mein Ding rein, ganz tief, während du da hängst, eingeklemmt zwischen den Steinen. Ich werd dich pudern, dein kleines Locherl, und gleichzeitig deinen Schädel immer enger umfassen, so lange, bis er platzt und alles wegspritzt, dein Blut und deine Schädelteile und dein Gehirn, und ich werde mich darin baden …«

»Nein! Bitte nicht! Hansi, ich …«

»Scht, Schwesterlein. Du wirst sehen – es wird dir gefallen. Die alte Lintschi hat mir gesagt, was ich machen muss, damit es einem Mädel gefällt. Glaub mir, ich hab sehr geschickte Finger.«

Etwas berührte Florentina. Kaltes Fleisch. Eine Hand, die über ihre Knie glitt und den Rock hochschob, immer weiter, über ihre Schenkel glitt, sie da und dort kniff und dann wieder streichelte.

Er streichelte sie an jener Stelle, die Mama immer Brunzbuschn nannte.

Mama … warum schützte sie Florentina nicht? Sollte sie nach ihr rufen?

»Hier unten kann dich niemand hören, Schwesterlein«, sagte Hansi, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Es interessiert sich auch niemand für dich. Nur ich bin für dich da. Ich, ganz allein …«

Ihr Bruder stöhnte. Seine Hand begann zu zittern, immer hektischer und gröber streichelte er sie.

Dann fühlte sie etwas anderes. Hansi war näher an sie herangekommen. Immer mehr Steine klemmten sie ein und umfassten sie. Ihre Hände, ihre Schultern, ihr Kopf waren eingepackt. Sie konnte sich kaum noch bewegen. Selbst um die Knöchel legte sich Fels, gesteuert vom Geist des dämonischen Bruders.

Sie reichte Hansi bis zur Brust. Am liebsten hätte sie in sein Fleisch gebissen und Stücke davon rausgerissen. Doch sie kam nicht an ihren Bruder heran. Trotz seiner Gier blieb er vorsichtig und stets außerhalb der Reichweite ihres Mundes.

Das kalte, schleimige, wurstähnliche Etwas stieß gegen ihre Brunzbuschn. Zuerst sachte, bald heftiger. Es tat weh. Das Ding bahnte sich den Weg in ihr Inneres, Millimeter für Millimeter. Es war Florentina, als müsste jetzt und jetzt etwas zerreißen in ihr …

Sie öffnete den Mund und begann, Töne auszustoßen. Zu schreien. Sie ergaben keine Melodie, keine Musik, und sie waren auch nicht zu hören. Florentina verstand nicht, was mit ihr vor sich ging – und dennoch gab sie dem Gefühl aus ihrem Innersten nach.

»Lass das bleiben!«, rief Hansi. »Das tut weh!«

Sie fühlte und roch, dass er vor ihr zurückwich. Und dass er Schmerzen hatte.

Florentina sang weiter. Die unhörbaren Töne machten, dass Mörtel aus den Fugen bröckelte und Gesteinsbrocken abbrachen. Rings um sie war auf einmal viel mehr Platz. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie sich vielleicht befreien.

Hansi jammerte, winselte und flehte, doch Florentina kannte kein Mitleid. Ihr Bruder hatte es verdient, diesen Schmerz zu erleiden. Wie oft hatte er sie gehänselt und gequält. Und das, was er heute vorgehabt hatte, ging weit über einen bösen Scherz unter Geschwistern hinaus.

Also sang sie und sang und sang …

Bis sie ein lautes, hässliches Geräusch hörte. Etwas fiel schwer zu Boden. Ein Etwas, das einstmals ihr Bruder gewesen war.

Florentina brach ab, völlig erschöpft und kaum noch dazu in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie bewegte ihren Kopf, dann die Hände. Mit vorsichtigen Bewegungen befreite sie sich aus der Umklammerung des Gesteins, das Hansi mit Hilfe seiner dämonischen Begabung rings um sie nach seinem Willen geformt hatte. Er war brüchig geworden. Florentina verstand zwar nicht, warum. Aber es hatte vielleicht auch mit dieser neuen Stimme und ihrem Singsang zu tun.

Sie befreite sich und tastete sich durch die Dunkelheit vorwärts, bis sie auf Hansis Körper traf. Florentina ging auf die Knie und tastete ihn ab.

Ja, er war tot. Das Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Sie glitt mit ihren Händen höher und höher über seinen Leib. Der Hals fühlte sich ledrig und nass an. Der Mund war bloß noch ein Loch, in dem Haut- und Fleischstücke steckten. Die Zähne waren ausgebrochen, die Nase aufgerissen, die Augen fehlten.

Florentina richtete sich abrupt auf, als sie raschelnde Geräusche hörte. War Hansi etwa doch noch am Leben, atmete er?

Nein. Es waren die sonst unsichtbaren Bewohner der Kanalisation Wiens. Käfer, Tausendfüßler, Würmer, Fliegen. Aasfresser, die das tote Fleisch gerochen hatten und sich nun an die Arbeit machten.

Florentina war versucht, die wenigen Habseligkeiten ihres Bruders an sich zu nehmen. Doch sie ließ es bleiben. Irgendeines ihrer Geschwister würde sie bestimmt verpetzen, wenn sie Hansis Feuerzeug bei sich trug oder das kleine Blechauto, das er vor einigen Wochen beim Spielen im Schlamm gefunden hatte.

Florentina rückte ihre Kleidung zurecht. Da unten juckte es ein wenig. Aber Hansi hatte es nicht geschafft, sein Ding in sie reinzustecken. Und er hatte für seine Gemeinheiten bezahlt. Er würde sie niemals mehr wieder angreifen.

 

Papa saß bereits am Tisch, ein wenig abseits vom Rest der Familie. Sein Gestank war schier unerträglich. Fliegen umtanzten ihn und das Blechgeschirr, aus dem er gierig löffelte.

»Hast du Hansi gesehen?«, fragte Mama, ohne sich nach Florentina umzudrehen. Wie so oft stand sie am Kohleherd, mit einer Zigarette im Mund und einer Hand am geschwollenen Bauch. Mit der anderen rührte sie in einem der vielen Töpfe.

»Nein«, antwortete Florentina und hoffte, dass Mama das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte.

»Sonst ist er immer der Erste, der zum Essen erscheint.« Mama ächzte und hob den Topf an, um ihn auf den wackeligen Tisch zu hieven. »Aber was soll’s? Bleibt für euch halt mehr.«

Acht Brüder und Schwestern umfassten ihr Holzbesteck und stürzten sich auf den Topf. Sie löffelten daraus, so rasch sie konnten. Dies war vermutlich die einzige Mahlzeit des Tages.

Oben herrschte Krieg. Die Menschen waren noch sparsamer als zuvor geworden. Es landeten kaum mehr Küchenabfälle in der Kanalisation.

Florentina wartete, bis der größte Ansturm vorüber war. Dann kostete auch sie vom Süppchen, das Mama bereitet hatte. Es war dünn, einige undefinierbare Fleischstücke schwammen darin. Und angefaultes Gemüse.

Nach wenigen Bissen war sie satt. Sie hatte noch nie sonderlich viel gegessen.

»Gibt’s was Neues?«, fragte Papa in die Runde, ohne von seinem Essensgeschirr hochzublicken.

»Das verdammte Balg in mir schmerzt«, sagte Mama.

»Das ist nichts Neues, Martha. Diese Leier höre ich Tag für Tag von dir.«

»Ich will es nicht mehr.«

»Auch das hab ich schon öfter mal gehört.«

»Sieh dich doch um, Bruno!« Mama tat eine weite Handbewegung. Sie deutete in Florentinas Richtung und in die ihrer Geschwister. »Acht von ihnen müssen wir ernähren! Sie großziehen und dafür sorgen, dass sie etwas lernen. Mit einer Zukunft im Bauch Wiens, wo sie eines Tages wie ihr verschissener Vater als Latrinenentleerer arbeiten werden.«

»Natürlich bin ich verschissen!«, rief Papa und lachte laut, als hätte er einen besonders guten Scherz gemacht.

»Vielleicht findest du das lustig, Bruno. Aber die Brut ist groß genug.«