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Table of Contents

Dunkler noch als Schatten

Was dir bevorsteht

Post

Brücke

Schwalbenschwanz

Begierde

Kehle

Spion

Todesboten

SM

Schauer

Satan

Skalpell

Ex

Kälte

Origami

Zwilling

Schmetterlinge

Doppelleben

Psychopath

Monster

Macht

Trauma

Shadoe

Erinnerung

Wenn dir die Geschichte gefallen hat,

Außerdem empfehlen wir dir …

Kris B. …

Impressum

Dunkler noch als Schatten

/ London Crimes

Psycho-Krimi

von Kris B.

 

Was dir bevorsteht

 

Joy Canova ist eine bekannte Spezialistin für Angsstörungen. Als ihre Patientinnen Post mit dem Absender »Shadoe« erhalten, erfüllen sich die schlimmsten Befürchtungen. Die junge Tote unter der Eisenbahnbrücke ist nur das erste Opfer, das Rick London in Welten voller Furcht entführt.

Ein durchtriebenes Katz- und Maus-Spiel in Londons Nobelviertel Hampstead beginnt.

Post

 

Alison Dale-Frost war der letzte Mensch, den Shirley Ryan an einem Montagmorgen sehen wollte. Oder auch an einem Dienstagmorgen, einem Mittwochmorgen, schlicht an jedem Morgen. In schwarzer Lederjacke, schäbigem schwarzem Minikleid und Plateauschuhen kam Alison ins Vorzimmer von Dr. Canovas Praxis gestürmt.

»Ich muss die Canova sehn.«

Missbilligend beäugte Shirley die junge Frau, die sie schon bei ihrem ersten Termin in der Praxis ausgesprochen unangenehm gefunden hatte. Ihre patzige Art passte geradezu grotesk gut zu den neonlila gefärbten Haaren, dem Nasenring und der Totenkopftätowierung auf dem Unterarm. Die Menschen, die Alison erdulden mussten, hatten eine Therapie sicher nötiger als Alison selbst.

»Doktor Canova«, antwortete Shirley, »kommt um neun. Wenn Sie ein dringendes Problem haben, hat sie sicher ein paar Minuten Zeit für Sie.«

»Sie schnallen das nicht, was? Es geht um Leben und Tod.«

»Warten Sie da drüben«, sagte Shirley streng.

Alison ging im Stehen die Zeitschriften und Kataloge durch, die Shirley jeden Morgen sorgfältig auf dem Rauchglastisch auffächerte. Als sie genug Durcheinander geschaffen hatte, starrte sie Shirley an, der es immer schwerer fiel, so zu tun, als würde sie es nicht bemerken.

Alison öffnete eine Packung Kaugummis und steckte sich einen in den Mund. »Ach, zum Teufel, ich muss jetzt mit ihr sprechen. Wenn ich abkratze, sind Sie schuld, weil Sie mich nicht zu ihr gelassen haben. Es geht um diesen fiesen Brief.« Sie nahm einen braunen Umschlag aus ihrer abgewetzten Sporttasche und ließ ihn flattern wie einen Flügel.

Shirley tippte weiter. Sie hatte ihr Horoskopprogramm geschlossen und bearbeitete jetzt die Patientendatei. Alison würde keine Skrupel haben, Dr. Canova zu erzählen, dass ihre Sekretärin während der Arbeit ihrem Hobby nachging.

»Hey, sind Sie taub oder was?«

»Halten Sie den Mund!«, fuhr Shirley sie an. »Wenn Sie keine Zeit haben zu warten, dann können Sie ja gehen und ein andermal wiederkommen.«

»Stellen Sie sich nicht so an. Holen Sie die Canova her.«

Shirley durchfuhr ein Schauder, als sich Alison den Kaugummi in die hohle Hand spuckte und ihn mit dem Daumen auf Shirleys Schreibtisch pappte. Der Schock kostete Shirley wertvolle Sekunden. Während sie belämmert auf den Kaugummi starrte, hörte sie Getrampel auf der Treppe. Alison war bereits auf dem Weg nach oben in Dr. Canovas Wohnung.

 

 

Montagmorgens fühlte Joy Canova sich meistens verletzlich, denn ihre Wochenenden gestalteten sich für gewöhnlich sehr anstrengend. Entweder sie hatte einen Migräneanfall oder einen One-Night-Stand.

Die Migräneanfälle kündigten sich meist Samstagvormittag mit blauen und gelben Blitzen am Rand ihres Gesichtsfelds an. Diese Vorwarnung ließ Joy gerade genug Zeit, um den Anrufbeantworter anzuschalten, alle Vorhänge zuzuziehen und sich ins Bett zu legen. Der Schmerz war so heftig, dass ihr die Tränen herunterliefen. Später wurde er dumpfer und Übelkeit stieg auf. Manchmal schaffte sie es, den ganzen Anfall hindurch zu schlafen.

Wenn die gefürchteten Warnzeichen am Samstag ausblieben, konnte sie Pläne für den Abend machen. Ihre Jagdgründe waren schicke Bars, in denen Männer leichte Beute für sie darstellten. Sie suchte keine feste Bindung, sondern kurze, wilde, lustorientierte Begegnungen.

Joy stand unter der Jet-Dusche, atmete tief ein und stieß sich von den Schachbrettfliesen ab. Jeden Morgen durchlebte sie zwei Minuten Panik, während ihr das Wasser über den Kopf strömte. Sie litt an einer offenbar nicht therapierbaren Hydrophobie. Seit sie denken konnte, war Wasser etwas Grauenhaftes für sie, eine tödliche Bedrohung. Doch genau diese Schwäche hatte ihr beruflich den Weg gewiesen. Es war eine Herausforderung, sich dem Thema Angst zu stellen. Und so tauchte sie täglich ein in die Tiefen angstzerrissener, gequälter Seelen und versuchte, sie aus ihren Gefängnissen zu befreien.

Joy schnappte nach Luft, stellte das Wasser ab und öffnete den Duschvorhang. Im nächsten Augenblick kreischte sie auf, weil jemand in ihrem Bad stand. Sie unterdrückte den Impuls, ihre Blöße zu bedecken oder »Gott, haben Sie mich erschreckt« auszurufen. Beides würde ihre Autorität untergraben.

»Raus!«, befahl sie knapp. Sie war mit Alison geduldig und verständnisvoll gewesen, aber ein Eindringen in ihre Privatsphäre konnte sie nicht tolerieren. Wütend rubbelte Joy sich trocken. Als Alisons vor Geld strotzender Vater darauf bestanden hatte, dass Joy seine Tochter behandelte, hatte sie nicht geahnt, was ihr bevorstand. Alison wollte keine Therapie und hatte das gleich klar gemacht. Es wäre in Ordnung, sich vor Brücken zu fürchten, hatte sie behauptet, während sie sich den Dreck unter den Fingernägeln rauspulte, man könne Brücken ja immer irgendwie umgehen. Joy bezweifelte, dass man Alison ambulant behandeln konnte. Sie brauchte eine stationäre Therapie. Sie hatte zwei Abtreibungen hinter sich, war drogenabhängig und litt an einer bipolaren Störung.

Joy zog sich an, wickelte sich ein Handtuch als Turban um die nassen Haare und ging ins Wohnzimmer, wodem Alison auf und ab lief. »Es stört Sie doch nicht, dass ich Sie nackt gesehen habe, oder?«

»Sagen Sie mir, worum es geht.«

»Ich hab einen Brief gekriegt. Hat mich zu Tode erschreckt, wissen Sie.« Sie hielt einen braunen Umschlag hoch, auf dem in Großbuchstaben ALISON geschrieben stand.

»Von wem ist er?«

»Wie soll ich das zum Kuckuck denn wissen? Der Typ ist ein Fall für die Klapse, das steht schon mal fest.«

Regelmäßige, eckige Druckbuchstaben füllten die Seite. Diese Handschrift kam ihr so vertraut vor wie das Fliesenmuster in ihrem Bad, stellte Joy entsetzt fest, als Alison ihr den Brief reichte.

 

Alison, mein süßes Mädchen …

Angst ist eine einzigartige Empfindung.

So lebendig, so wild, so intim.

Kannst du fühlen, wie ich meine Hände in Gedanken nach deiner Angst ausstrecke und sie mit Worten zur Vollkommenheit forme?

Stell dir vor, du stehst am Ende einer Brücke.

Fühle die dunkle Anziehungskraft, die von ihr ausgeht.

Du bist vor Angst so gelähmt, dass deine Füße wie festgewachsen sind. Aber deine Augen kannst du nicht daran hindern, das furchterregende Gebilde anzustarren. Was nützt es dir schon, dass die Brücke von Pfeilern gehalten wird? Alles, was du siehst, ist eine Straße, die frei in der Luft schwebt. Und wenn der Wind weht, bekommt die Brücke ein eigenes Bewusstsein. Sie flüstert dir zu: »Komm, Alison, komm näher.«

Hat das Geländer nicht eben etwas nachgegeben? Und was ist das für ein dröhnendes Geräusch? Es ist ein Zug, der unter deinen Füßen hindurchdonnert. Jeden Augenblick wird die Brücke in sich zusammenfallen und dein Schrei wird sich mit dem Rattern des Zuges und dem Heulen des Windes vermischen. Ich werde da sein, unsichtbar. Ich werde dafür sorgen, dass du das Gleichgewicht verlierst.

In Angst vereint

Shadoe

 

Verstört ließ Joy den Brief sinken. Der Verfasser hatte die Essenz von Alisons Angst erfasst. Schlimmer noch: Er hatte auch in Joy etwas berührt, ein Gefühl, das tiefer und dunkler war als Angst.

»Was für ein grausames, wirres Hirn«, sagte sie. »Ich bin froh, dass Sie zu mir gekommen sind.« Es war wesentlich besser, als wenn Alison sich betrunken oder mit Drogen vollgepumpt hätte, so wie sie es sonst tat, wenn sie unter Stress stand. »Kennen Sie jemanden namens Shadoe?«

Alison fuhr mit den Handflächen an ihrem Kleid herunter. »Er wird mich töten, nicht wahr?«

»Er hat keine direkte Drohung ausgesprochen, aber sie sollten den Brief Ihren Eltern zeigen.«

»Und zwei Wochen Hausarrest riskieren? Die behandeln mich doch wie einen verdammten Teenager.«

»Dann schlage ich vor, dass Sie zur Polizei gehen. Vielleicht haben andere Frauen ähnliche Briefe erhalten.«

»Ich wusste doch, dass Sie mir nicht helfen können.« Alison riss Joy den Brief aus der Hand und zerfledderte ihn. »So!« fauchte sie trotzig. »Dieser kranke Typ kann mich mal.« Sie schnappte ihre Tasche und kurz darauf hörte Joy sie die Treppe hinunterflitzen.

Joy schüttelte ihren Kopf so heftig, dass der Handtuchturban sich abwickelte. »Alles umsonst«, murmelte sie und riss, um sich abzureagieren, den Umschlag, den Alison auf dem Tisch hatte liegen lassen, in kleine Fetzen.

 

 

Patricia bekam nur die letzten Worte mit von dem, was Daniel sagte: »… unter keinen Umständen anfassen.«

Er ging normalerweise aus dem Haus, wenn sie noch schlief, und hatte sich bisher nie dazu herabgelassen, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Sie öffnete die Augen einen Spalt breit und fand, dass er zum Fressen gut aussah in seinem blauen Anzug und dem frischen weißen Hemd. Sie streckte schläfrig die Hand nach ihm aus.

Er schob ihre Hand weg. »Trish, hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Irgendwas mit ›dich anfassen‹.«

»Nicht mich. Das Teleskop.«

Sie blinzelte.

»Letzte Nacht war die Luftfeuchtigkeit sehr hoch. Als ich heimkam, war das Teleskop beschlagen. Ich konnte es nicht einpacken. Es steht noch im Wohnzimmer.«

»Wenn es beschlagen war, warum hast du es nicht einfach trockengewischt?«

»Oh, Trish«, sagte er.

Sie zuckte zusammen. Vor Jahren, in einer sternklaren Nacht, als er sie damit beeindruckt hatte, dass er jedes mit bloßem Auge sichtbare Himmelsobjekt benennen konnte, hatte sie ihn zum ersten Mal darauf aufmerksam gemacht, dass sie den Spitznamen Trish nicht mochte.

»Man kann ein Teleskop nicht abwischen. Die Beschichtung der Linse würde … Schau, ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Es muss trocknen und sich langsam akklimatisieren, und du wirst es unter keinen Umständen anrühren. Mach einen großen Bogen darum. Und dreh die Heizung nicht zu weit auf.«

»Was ist mit Klavierspielen? Könnte die Resonanz die Optik zerstören?«

Ironie war an ihn verschwendet.

»Ich denke nicht. Versprich mir, dass du nicht in die Nähe kommst.«

Die Schlafzimmertür schloss sich mit einem leisen Klicken. Wie schon so oft hatte Danny ihre Zuneigung mit Füßen getreten. Rühr das Teleskop nicht an. Das reichte! Patty stieß ihre Füße in den Teppich, zerrte ihr Schlafanzugoberteil zurecht und stapfte ins Wohnzimmer.

Sie lebten in einer Drei-Zimmer-Wohnung über einem vegetarischen Restaurant in einer ruhigen Ecke Londons. Patty hatte sich das zweite Schlafzimmer als Arbeitszimmer eingerichtet, hell, in fröhlichen Farben, mit einem gelben Schlafsofa, einem Buchenholzschreibtisch und einem weißen Klavier.

Das Wohnzimmer war Dannys Reich. Die Tapete verschwand unter riesigen Abzügen seiner Aufnahmen von Galaxien und Sternennebeln. Auf dem Couchtisch stapelte sich astronomische Fachliteratur. Das Bücherregal bog sich unter Nachschlagewerken. Und jetzt stand hier auch noch das Rührmichnichtan von einem Teleskop, um zu trocknen. Ein Tubus auf einem dreibeinigen Stativ, schwarz wie die Nächte, in denen Danny das Ding in den Kofferraum packte, 30 Kilometer nach Norden fuhr und stundenlang Aufnahmen machte — während Patty alleine daheim im Bett lag und sich nach menschlicher Wärme sehnte.

»Jetzt heißt es du oder ich«, sagte sie zu dem schwarzen Monstrum, das zwischen Dannys Schreibtisch und der Küchentür aufragte. »Es ist deine Schuld, dass ich in einer lieblosen Ehe dahinwelke und mich in sexuelle Fantasien flüchten muss, in denen die Männer begnadete Liebhaber sind und eine Supernova nicht von einem Blitz unterscheiden können. Kurzum: Einer von uns muss gehen.«

Auweia, wenn Danny sie jetzt hören könnte, wie sie seinem wehrlosen Teleskop leere Drohungen entgegenschleuderte. Mit einem Rest Aufsässigkeit stupste sie mit dem Finger gegen den Tubus, bevor sie sich auf den Weg in die Küche machte. Nach nur einem Schritt fuhr ihr ein stechender Schmerz durch den rechten Fuß. Sie kreischte und sprang zurück. Ihre Ferse stieß gegen eines der drei Stativbeine. Patty verlor das Gleichgewicht, versuchte, Halt zu finden, und griff dabei genau nach dem Gegenstand, über den sie gestolpert war. Für einen Augenblick schien sie schwerelos zu sein, dann knallte der Tubus gegen den Schreibtisch und Patty schlug sich den Kopf am Stativ an. Fluchend und zitternd rappelte sie sich auf. Sie konnte von Glück sagen, dass der schwere Tubus sie nicht getroffen hatte.

Dennoch war sie entsetzt über das, was eben passiert war. Fass das Teleskop nicht an. Sie hatte es nicht nur angefasst, sie hatte es umgeworfen. Würde Danny ihr abnehmen, dass es ein Missgeschick gewesen war und dass sie es nicht mit Absicht getan hatte?

Nach dem ersten Schock kam der stechende Schmerz in ihrem rechten Fuß umso heftiger zurück. Sie hob den Fuß und biss sich auf die Unterlippe, als sie einen Glassplitter in ihrem großen Zeh stecken sah. Mit einem entschlossenen Ruck zog sie ihn heraus und humpelte in die Küche, um das Blut abzutupfen und ein Pflaster über die Schnittwunde zu kleben.

Dann ging Patty wieder ins Wohnzimmer zurück und sah sich die Bescherung an. Behutsam versuchte sie, Dannys Lieblingsspielzeug wieder aufzurichten. Es war schwerer, als sie erwartet hatte. Sie klemmte ein Bein des Stativs zwischen ihre Schenkel, damit es nicht zusammenklappte, und richtete das Teleskop wieder auf.

Es sah in Ordnung aus. Aber was wusste sie schon über sein Innenleben, die kleinen Motoren, Spiegel und Linsen? Wenn etwas zerbrochen war, würde Danny völlig durch den Wind sein.

Natürlich konnte sie es sich leicht machen und ihm nichts von ihrem Missgeschick sagen. Je nachdem, wie das Wetter sich entwickelte, könnte es Tage, vielleicht Wochen dauern, bis er wieder auf eine Expedition ging. Wenn er dann merkte, dass etwas nicht in Ordnung war, würde er es auf Materialermüdung oder die Erschütterung während der Fahrt zurückführen.

Patty drückte eine Handfläche gegen die hämmernde Beule an ihrer Schläfe. Sie war kein Feigling und Drückeberger, und sie wollte Danny gegenüber auch nicht unfair sein. Sie hatte keine andere Wahl, als ein volles Geständnis abzulegen.

 

 

Patty verbrachte den Tag in einem Zustand wachsender Beklommenheit. Zwischen ihren Klavierstunden humpelte sie immer wieder ins Wohnzimmer und sah sich das Teleskop aus sicherer Entfernung an. Wenn sie nur irgendwie testen könnte, ob es noch funktionierte.

Als Danny endlich heimkam, war sie so aufgewühlt, dass sie förmlich über ihn herfiel. »Danny, es tut mir leid. Es gab einen Unfall.«

Er sah sie stirnrunzelnd an. »Wer hatte einen Unfall?«

»Ich. Aber es ist nur eine Schnittwunde. Dein Teleskop –«

Er drängte sich an ihr vorbei ins Wohnzimmer, noch bevor sie den Satz beendet hatte.

Patty zeigte ihm die Delle an der Ecke seines Schreibtischs und fing an, alles zu erklären, wobei sie große Betonung auf ihre eigenen Schmerzen legte. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie zart meine Füße sind. Und mein Kopf … Ich dachte, ich hätte eine Gehirnerschütterung.« Um wenigstens einen Teil der Schuld auf Danny abzuwälzen, führte sie aus, dass der Splitter von seiner Schreibtischlampe stammen musste, in der gestern die Birne explodiert war. Er hatte den Teppich nicht gründlich genug abgesaugt.

Er antwortete mit einer Reihe von Grunzlauten und untersuchte das Teleskop. Patty beobachtete ihn mit angehaltenem Atem. Es kam ihr vor, als würde sie auf das Ergebnis einer Biopsie warten.

»Nichts kaputt, soweit ich das beurteilen kann.«

»Gott sei Dank. Es war ein schrecklicher Schock für mich.«

»Das wird dich lehren, in Zukunft besser aufzupassen. Eine Reparatur wäre teuer geworden.«

»Danke für dein Mitgefühl. Deine Liebe zur Astronomie grenzt an Besessenheit.«

Danny fuhr mit einem Finger die Delle am Schreibtisch entlang. »Männer brauchen Hobbys.«

»Aber du lebst für dein Hobby. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen haben.«

Er zerlegte das Teleskop und verstaute es in der Kiste. »Ich wollte dich heute überraschen. Ich habe eine Reise für uns gebucht.«

Sie war zu verblüfft, um verärgert darüber zu sein, dass er sie vorher nicht um ihr Einverständnis gefragt hatte. Das würde ihr erster Urlaub seit der verheerenden Hochzeitsreise nach Paris sein. »Wann?«

»Ende Mai.«

»Toll. Wo fahren wir hin?«

»Ans Meer.«

»Cornwall? Der Lake District?«

»Portugal«, sagte er über die Schulter und schloss die Kiste.

»Portugal?« Sie wollte nicht zeigen, dass sie Angst vorm Fliegen hatte. Es war das erste Mal, dass Danny irgendeine Initiative gezeigt hatte, in die er sie mit einbezog, und sie wollte auf keinen Fall seine Begeisterung bremsen. »Wie lang ist der Flug?«, fragte sie beiläufig.

»Nur ein paar Stunden. Trish, wie wär’s, wenn du jetzt den Tisch decken würdest?«

»Wo in Portugal?«

Er streckte den Rücken durch. »Die Algarve. In der Nähe ist ein schöner Strand. Da gibt es ausgezeichnete Meeresfrüchte.«

»Fisch?« Machte er sich über sie lustig? Oder hatte er vergessen, dass sie Fisch hasste?

»Erwähnte ich schon die Wildblumen?«

Das war zu viel. »Wildblumen? Aber Danny, dann hat es dort auch Schmetterlinge.« Konnte es sein, dass das, was sie für ritterliche Toleranz ihrer Phobie gegenüber gehalten hatte, nichts Anderes war als ein weiteres Symptom von Dannys völligem Desinteresse an jedem Aspekt ihrer Persönlichkeit? »Du weißt, ich habe Todesangst vor Schmetterlingen!«

»Aber das sind so ziemlich die harmlosesten Geschöpfe, die es gibt.«

»Ich weiß, dass sie harmlos sind. Ich habe keine Kontrolle über diese Angst.« Und über ihre Stimme verlor sie auch gerade die Kontrolle.

Danny zuckte die Schultern. »Wenn du dich überwiegend am Strand aufhältst, wird es schon gehen.«

»Wir können nicht nach Portugal«, beschloss sie. »Ich kann nicht. Ich will nicht. Ich fliege da nicht hin.«

Brücke

 

Joy erhob sich von ihrem Drehstuhl, reckte sich und legte ihre Notizen auf Shirleys Schreibtisch. Shirley war schon in der Mittagspause, darum ging Joy ans Telefon, als es klingelte.

»Alison wird zu keinen weiteren Therapiesitzungen mehr kommen«, sagte eine Männerstimme.

»Mr Dale-Frost?« Nach dem Zirkus mit dem Brief war Alison nicht zu ihrer letzten Sitzung erschienen, darum war die Ankündigung ihres Vaters keine große Überraschung. »Was für ein Jammer. Wir hatten solche Fortschritte gemacht.« Alles Lügen. Wenn es Veränderungen gegeben hatte, dann waren es Rückschritte gewesen. Und Joy bedauerte sicher nicht, so eine unwillige Patientin zu verlieren.

»Sie ist tot.« Der Satz kam wie eine Ohrfeige, schnell, präzise, wütend.

»Das tut mir leid«, sagte Joy automatisch. Eine Überdosis?

»Sie wurde von einem Zug überfahren.« Wieder ein Hieb, diesmal in die Magengrube.

Mit leerem Blick starrte Joy auf die gegenüberliegende Wand.

»In Oxford«, fügte er hinzu, als sie schwieg.

»Oxford? Was hat sie da gemacht?«

»Haben Sie ihr gesagt, dass sie dort hinfahren soll?«

»Ich? Warum sollte ich das tun?«

»Sie starb unter einer Eisenbahnbrücke. The Devil’s Backbone.« Er legte auf.

Die Luft um Joy verdichtete sich zu reinem Entsetzen. Es konnte keinen Zweifel geben. Shadoe hatte Alison getötet. Joy besaß eine Abschrift des Briefes, den Alison ihr gezeigt hatte. Nachdem Alison gegangen war, hatte Joy alles aus dem Gedächtnis notiert.

Sie dachte an die vertrauten, breiten Druckbuchstaben des Originals, die wie eine der Handschriften ihres Vaters aussahen. Sie hatte es zunächst nur zu gerne als Zufall abgetan. Druckschrift wird in anonymen Briefen oft verwendet und ist nicht so variabel wie Schreibschrift.

Joy hatte ihren Vater nicht nach dem Brief gefragt, obwohl sie ihm seit dem Tod ihrer Mutter näher stand. Er hatte in seinem Verlag einen Ratgeber veröffentlicht, den sie geschrieben hatte, »Wege aus der Angst«. Jetzt bearbeitete Canova Press gerade ihr neues Werk »Das Immunsystem der Psyche«. Die frühere Spannung zwischen ihnen war fort, vielleicht weil sie jetzt erwachsen war und mit seinen Persönlichkeitsveränderungen umgehen konnte. Aus psychologischer Sicht war er ein interessanteres Studienobjekt als die meisten ihrer Patienten.

Joys Erinnerung an ihre Mutter Faith, die vor drei Jahren nach einem schweren Schlaganfall gestorben war, verblassten bereits. Faith war immer damit beschäftigt gewesen, die Möbel umzustellen oder das Haus neu zu dekorieren. Es musste eine Erbkrankheit sein, denn Joys ältere Schwester Gloria war so unstet wie Faith und weitete ihr Tätigkeitsfeld auf den Garten aus. Spaziergänger mussten den Eindruck bekommen, dass die Pflanzen der Canovas Beine hatten. In diesem äußerst beweglichen Mikrokosmos bildeten nur Joys Zimmer und das Arbeitszimmer ihres Vaters einen beständigen Hintergrund. Sie waren unantastbare Ruhezonen, in denen der Staub sich setzen durfte.

Einer der Gründe, warum Joy Psychotherapeutin geworden war, war der Wunsch, ihre gestörte Familie zu verstehen. Es gab ihr ein Gefühl der Selbstbestätigung, als sie bei Faith eine Zwangsneurose diagnostizierte, ausgelöst durch den schmerzhaften Verlust ihrer dritten Tochter, die an plötzlichem Kindstod gestorben war. Victor, Joys Vater, war schon schwerer einzuordnen. Er veränderte sich innerlich, als ob kleine Arbeiter in seinem Gehirn unablässig die Neuronen und Synapsen verschoben. Was die Angestellten von Canova Press als quecksilbrige Intelligenz bezeichneten, war für Joy ein Alptraum an Unvorhersagbarkeit. Seine Stimme umspannte alle Register von Bariton bis Falsett. Sein Verhalten war mal wild und aggressiv, dann wieder ausgeglichen und nonchalant. Seine breite Druckschrift änderte sich zuweilen zu länglicher oder auch rundlicher Schreibschrift.

Und nun war Alison unter der Eisenbahnbrücke gestorben, die South Hinksey mit South Oxford verband, The Devil’s Backbone, nur einen Steinwurf von Joys Elternhaus entfernt.

Andererseits: Wenn Shadoe so viel über Alison wusste, könnte er auch Informationen über die Canovas haben. Er könnte Alison absichtlich unter dieser Brücke getötet haben, genau wie er ganz bewusst Victors Handschrift nachgemacht hatte.

Augenblick mal. Warum war sie sich so sicher, dass jemand Alison umgebracht hatte? Vielleicht war es nur ein Unfall gewesen. Am besten war es, wenn sie mit der Polizei sprach.

 

 

Detective Inspector Clen Smithhaven saß Joy gegenüber in seinem ordentlichen Büro in der St. Aldates Polizeiwache in Oxford. Er trug einen grauen Anzug von schlichter Eleganz. Alles an ihm war unprätentiös, seine Bewegungen, seine Art zu reden, der Duft seines Rasierwassers, seine Angewohnheit, die Krawatte mit den Zeigefingern aufzurollen. Obwohl er nichts Geziertes oder Effeminiertes an sich hatte, stand für Joy absolut fest, dass er schwul war. Nach den Hunderten von Samstagabenden, die sie in Bars und Clubs verbracht hatte, konnte sie die sexuelle Identität eines Menschen präzise bestimmen.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Canova«, sagte Smithhaven. »Sie waren also Alison Dale-Frosts Therapeutin. Alisons Vater hat sich sehr darüber aufgeregt, dass der Unfall seiner Tochter in den Zeitungen als Selbstmord dargestellt wird. Halten Sie das für möglich?«

»Sie war bipolar, man sagt auch manisch-depressiv, aber sie hätte sich eher mit einer Überdosis umgebracht, als sich vor einen Zug zu werfen. Hat ihr Vater Ihnen gesagt, worum es in Alisons Therapie ging?«

»Nein.«

»Gephyrophobie. Das bedeutet, dass Alison Angst vor Brücken hatte. Nicht Angst im weitläufigen Sinn des Wortes. Eine Phobie ist so tief in der Psyche eines Menschen verwurzelt, dass es für ihn zur Besessenheit wird, den Auslöser der Angst zu meiden. Alison wäre nie in die Nähe einer Brücke gegangen. Nicht nur, dass sie niemals über eine Eisenbahnbrücke gegangen wäre, sie hätte sich auch nicht druntergestellt. Wenn sie unbedingt von einem Zug überrollt werden wollte, hätte sie das auf freier Strecke getan.«

Smithhaven ließ seine Krawatte los. »Wie lange war sie Ihre Patientin?«

»Ein halbes Jahr lang.«

»Konnten Sie ihr helfen?«

»Es ging immer zwei Schritte vor, drei zurück. Ich kam zu der Schlussfolgerung, dass sie ihre Phobie brauchte. Sie bewahrte sie davor, sich einer anderen, tieferen Angst zu stellen. Ich analysiere meine Patienten nicht. Ich glaube nicht, dass es bei der Überwindung einer Angst hilft, wenn man nach der Ursache forscht. Dabei besteht die Gefahr, dass der Patient während der Analyse dem Therapeuten zuliebe und ohne sich dessen bewusst zu sein, seine Kindheit neu erfindet. Meine Vorgehensweise ist eine schrittweise Desensibilisierung. Bei Alison war ich so weit, dass ich ihr Fotos von Brücken zeigen konnte. Ich habe sie dabei.«

Er nahm die Fotos und studierte sie ausgiebig. »Das sind alles Eisenbahnbrücken hier in Oxford. Aristotle Lane, Walton Well Road, The Devil’s Backbone. Genau die Brücke, unter der sie starb. Haben Sie die Fotos selbst aufgenommen?«

Joy nickte.

»Wann haben Sie die Fotos gemacht?«

»Letztes Jahr, Ende Oktober, kurz nachdem Alison meine Patientin wurde.« Sie konnte sich seltsamerweise nicht daran erinnern, The Devil’s Backbone fotografiert zu haben. Es war die letzte Brücke auf ihrer Runde gewesen. Was hatte sie hinterher gemacht? War sie gleich heimgefahren? Ach ja, sie hatte angehalten, um etwas zu trinken und dann -

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Ich fragte mich gerade, ob …« Was sie wirklich dachte, ging ihn natürlich nichts an. »… ob Alison hier herkam, weil ich ihr diese Bilder gezeigt habe«, improvisierte sie.

»Sie meinen, ob dadurch Selbstmordfantasien ausgelöst wurden?«

»Nun, wenn ich es recht bedenke … Alison hatte keine Fantasien. Sie war nicht besonders helle. Ich sagte ihr einmal, dass der Sinn des Lebens darin besteht, die letzte Wahrheit zu finden, nämlich dass das Leben keinen Sinn hat. Sie hat nicht mal gemerkt, dass das paradox ist.«

»So etwas zu jemandem zu sagen, der an Depressionen leidet, ist nicht gerade besonders einfühlsam.«

»Es sollte eine Provokation sein.«

Smithhaven nickte. »Könnte es sein, dass sie zu der Brücke ging, weil sie ihre Angstschwelle testen wollte, oder wie immer man das in Ihrem Fachjargon nennt?«

»Unwahrscheinlich. Sie wollte sich weder testen, noch ihren Zustand verbessern. Sie kam nur zu unseren Sitzungen, weil ihr Vater darauf bestand.«

»Wenn sie keinen Grund hatte, zu der Brücke zu gehen, warum tat sie es dann? Haben Sie ihr gesagt, wo diese Brücken sind?«

»Tja, das habe ich nicht. Das macht es umso schwerer zu erklären, warum sie dort landete. Könnte jemand …?« Joy breitete die Hände aus.

»Dieser Möglichkeit gehen wir nach. Jemand könnte sie vor den herannahenden Zug gestoßen haben. Wo waren Sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag?«

Joy ließ ihre Augen über das Bücherregal hinter ihm wandern. Sie hatte noch nie gesehen, dass Bücher so akkurat in Reih und Glied standen. »Ich war daheim.« Sie sah ihn wieder an und fügte hinzu: »Ich hatte Migräne.«

»Erwähnte Alison, dass sie sich vor jemandem fürchtete?«

Plötzlich fiel ihr ein, dass Alison den Brief womöglich selbst geschrieben hatte. Sie hatte Victors Handschrift vielleicht auf einer Notiz auf Joys Schreibtisch gesehen. Ja, das würde alles erklären. Das Mädchen hatte sich umbringen wollen und dabei noch eine Show abziehen. »Sie fürchtete sich doch andauernd. Sie war selbst ihr schlimmster Feind.«

»Bedauerlicherweise hat es seit einer Woche nicht geregnet. Wir konnten keine Fußspuren finden, die zu der Bahnlinie führten. Das könnte aber auch bedeuten, dass Alison von der Brücke gesprungen ist.«

»Undenkbar.«

»Auch nicht unter dem Einfluss von Drogen? Bei der Autopsie wurde festgestellt, dass Alison Kokain geschnupft und dazu Bier und Whisky getrunken hatte.«

»Das hätten Sie mir früher sagen sollen. Das ändert natürlich alles«, log Joy seelenruhig. Sie hatte Alison schon zugekokst erlebt, und ihre Angst wurde davon eher schlimmer. Angst ist eine einzigartige Empfindung. So lebendig, so wild, so intim. Das waren Shadoes lyrische Einsichten gewesen. Nein, Alison konnte den Brief doch nicht selbst geschrieben haben, denn ihr fehlte die nötige Vorstellungskraft, um solche Worte zu finden.

Smithhaven rückte seine Manschettenknöpfe zurecht. »Es erklärt, warum sie sich traute, der Brücke nahezukommen, aber es macht es umso schwerer sich vorzustellen, wie sie da hinkam. Niemand hat sie bemerkt. Kein Taxifahrer oder Busfahrer konnte ausfindig gemacht werden, der sich an sie erinnerte. Es hat sich niemand gemeldet, der sie per Anhalter mitgenommen hat. Um halb elf war sie zuletzt in einer Bar in Camden gesehen worden. Drei Stunden später wurde sie in Oxford von einem Zug überfahren. Wie gelangte sie von A nach B? Wie konnte sie in ihrem schwer berauschten Zustand so einen Ausflug planen?«

»Er war nicht unbedingt geplant. Vielleicht hat es sie ganz zufällig dorthin verschlagen.«

Smithhaven dankte ihr. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen …«, sagte er, als er sie zur Tür brachte.

»Dann melde ich mich.« Eine weitere Lüge. Sie hatte alles erfahren, was sie wissen wollte. Smithhaven würde nie wieder von ihr hören.

Schwalbenschwanz

 

Während der Fahrt vom Flughafen Faro nach Poio in einem billigen Mietwagen ohne Navi las Patty die Wegbeschreibung, verglich sie mit den Wegmarken und Straßenschildern und sagte Danny, wann er wohin abbiegen musste. Patty tappte immer noch im Dunkeln, was den Anlass für die Reise betraf. Danny hatte ihre Fragen mit einsilbigen Antworten abgewehrt.

Sie hatte den Flug genossen und war stolz darauf, dass sie sich schließlich doch getraut hatte. Während des Starts war ihr etwas schwindelig gewesen. Als sie London schnell unter sich kleiner werden sah, hatte es sie verblüfft, dass so ein großes, schweres Ding wie ein Flugzeug so rasch an Höhe gewinnen konnte. Sie hatte den Fehler gemacht, das zu erwähnen, und Danny hatte ihr daraufhin einen nicht enden wollenden Vortrag über Aerodynamik gehalten.

Sie nahmen die Umgehung von Portimão und überquerten die Hängebrücke des Arade-Flusses. Die untergehende Sonne strahlte in leuchtendem Orange zwischen den Pfeilern hindurch.

»Jetzt müssen wir dem Schild nach Lagos folgen. Und hier ist die Straße nach Torre Alcalar.« Sie verkniff sich eine Bemerkung darüber, dass das eine Abzweigung nach rechts war, weg vom Meer. Das sollte doch ein Strandurlaub werden.

Danny fuhr jetzt langsam. Die Klimaanlage war voll aufgedreht und Patty fröstelte. Sie beugte sich vor, um die Anlage abzustellen, und übersah dabei fast die nächste Wegmarke, ein Reliquienschrein am Straßenrand.

»Tut mir leid«, sagte sie, als Danny bremsen und ein paar Meter zurücksetzen musste. Sie fuhren über eine holprige, enge Straße. »COAA« stand auf einem Schild aus blau-weißer Keramik an einer niedrigen Mauer, die einen Garten einfasste mit einem sauberen, weißen Haus, das von Bougainvilleen umrankt war.

»So, da wären wir.« Danny sah gleichermaßen zufrieden und besorgt aus.

Die Zufahrt führte steil hinunter und endete an einem kleinen Parkplatz gegenüber vier weißen Halbkugeln aus gespanntem Segeltuch, die auf runden Betonblöcken standen. Patty brauchte einen Moment, bis sie kapierte, was sie da sah. »Wofür steht COAA eigentlich?«

»Centro de Observação Astronómica no Algarve. Wieso?«

»Du hast behauptet, es sei eine Ferienanlage«, sagte sie.

»Klar, das ist es ja auch«, antwortete er gelassen. »Eine Ferienanlage für Astronomen und ihre Familien.«

»Du hast mich angelogen.« Sie konnte den verletzten Tonfall nicht unterdrücken.

»Du wirst von den Beobachtungskuppeln hier gar nichts merken. Ich werde jede Nacht für etwa zwei Stunden Sterne fotografieren, das ist alles. Du kannst ja auch mal durch ein Teleskop schauen.«

Warum kam es ihr vor, als würde sie ein Rückzugsgefecht austragen? »Jetzt tu nicht so, als ob du plötzlich dein Interesse mit mir teilen willst.«

Danny stieg aus dem Wagen und sie ebenfalls. Nach der klimatisierten Fahrt traf die Hitze sie mit voller Wucht.

»Sollten wir nicht hineingehen und erst mal etwas trinken?«, schlug Danny vor.

Sie versuchte, irgendetwas zu finden, womit sie ihn ins Unrecht setzen konnte. »Du hast mich angelogen, weil du wusstest, dass ich nicht mitkommen würde, wenn du mir erzählt hättest, dass das hier kein Urlaub ist, sondern eine ausgedehnte astronomische Exkursion. Die Gäste hier werden Klone von dir sein, die den ganzen Tag nur von den Sternen schwärmen und sich endlos über ihre Polsucher und Okulare auslassen, oder wovon sie sonst eine Erektion bekommen.«

»Deine kleinkarierten Ansichten sind einem erholsamen Urlaub nicht gerade förderlich, Trish«, ließ er sie wissen.

»Hör endlich auf, mich Trish zu nennen!«

Ohne weiter Notiz von ihr zu nehmen, öffnete Danny den Kofferraum und lud das Gepäck aus. Patty sah ihn lächeln und nahm von weiteren Schimpftiraden Abstand. Sie wusste, dass er hier glücklich war, an einem Ort weit weg vom unzuverlässigen englischen Wetter. Ein Paradies für Astronomen.

Die Gastgeber begrüßten sie so herzlich, dass Pattys schlechte Laune keine Chance hatte. Als sie das Gepäck reintrugen, folgte ihnen der freundliche Familienhund die Treppe hinauf. Patty beschloss, dass sie ihre Eheprobleme auf Sparflamme stellen und das Beste aus diesem Urlaub machen würde.

Nachdem sie beide geduscht hatten, gingen sie auf die Gemeinschaftsterrasse, wo sie Jeremy trafen, einen Mann um die Dreißig, klein und drahtig, mit struppigem, blondem Haar. Innerhalb weniger Minuten war Danny mit ihm in eine innige Erörterung der hiesigen astronomischen Einrichtungen vertieft.

Ein weiterer Mann gesellte sich zu ihnen. »Reginald Baker«, bellte er. Sein hageres Gesicht und seine griesgrämige Ausstrahlung schüchterten Patty ein. Als alle ins Esszimmer gingen, wo jeden Abend ein dreigängiges Menü für die Hausgäste serviert wurde, war sie entsetzt, als er sich neben sie setzte.

»Woher kommen Sie?«, fragte er.

»Aus London.«

»Ich auch. Aber ich will Ihnen mal was sagen, England ist nicht der geeignete Ort für Astrofotografie.« Reginald sah Patty an, als wäre es ihre Schuld. »Viel zu hell. Ich bin schon überall auf der Welt gewesen, an all den einsamen, dunklen Orten, wo man das ernsthaft betreiben kann.«

Das erwies sich als die Einleitung zu einem ausführlichen Monolog, der keinen Zweifel daran ließ, dass er mit jedem, der sich leichtsinnig in seine Gesellschaft begab, ein Hühnchen zu rupfen hatte.

»Für mich sind die Sterne einfach nur freundliche, helle Punkte am Himmel«, sagte jemand fröhlich hinter Patty, umrundete den Tisch und setzte sich ihr gegenüber. Die Frau trug einen geblümten Kaftan, der mit ihren flinken Bewegungen mitschwang. »Hi, ich bin Misty.«

»Das ist Patricia«, stellte Reginald Patty vor. »Misty ist meine Frau.«

»Hat Reg dich mit einer seiner Schmähreden gelangweilt?«

Patty wusste nicht, was sie sagen sollte, ohne einen von den beiden zu beleidigen. Sie konnte nicht fassen, dass diese ungleichen Menschen ein Ehepaar waren. Misty hatte haselnussbraune Augen und unzählige Lachfältchen . Widerspenstige, braune Locken tanzten um ihr hübsches Gesicht.

»Wie ist das Essen heute?«, fragte sie, probierte von der Pilzpastete und seufzte entzückt. Sie streckte eine Hand aus und wackelte mit einem rosafarbenen Fingernagel. Wie auf Zuruf schoss eine getigerte Katze unter einem Stuhl hervor und versuchte, den huschenden Schatten ihres Fingers zu fangen. »Ist sie nicht süß? Sie liebt Schattenspiele. Weil sie taub ist.«

Im nächsten Augenblick gefror Patty das Blut. Flatternde Schatten glitten über die Wände. Ein Schwalbenschwanz landete auf dem geblümten Tischtuch. Seine Flügel schlossen und öffneten sich wie Augenlider.

Patty schrie und rannte wie um ihr Leben. Sie konnte erst wieder einen vernünftigen Gedanken fassen, als die Tür zu ihrem Zimmer hinter ihr zugeknallt war. Keuchend und zitternd stand sie da. Sie hatte es wieder zugelassen. Sie hatte die Kontrolle verloren. Aber wie konnte sie es verhindern, wenn ihr Körper schneller reagierte als ihr Verstand? Sie ließ sich aufs Bett fallen und schluchzte.

Erst als Misty sie berührte, wurde sie sich ihrer Gegenwart bewusst, ihrer sanften Stimme. »Schon gut. Ist ja gut. Er ist weg. Ich habe ihn gefangen und rausgelassen. Du kannst jetzt wieder zurückkommen. Kein Grund zur Sorge.«

Patty drehte sich langsam um. Selbst ihre Mutter hatte nie so verständnisvoll mir ihr geredet.

»Du hast ihm doch nicht wehgetan?« Mit unaussprechlichem Grauen erinnerte sie sich, wie ihr Vater einmal eine dieser zerbrechlichen Kreaturen versehentlich zerquetscht hatte. Bitte tu ihm nicht weh, Dad, bitte. Bring ihn einfach hinaus.

»Natürlich nicht. Ich würde niemals einem Tier wehtun. Geht’s dir besser?«

Patty setzte sich auf und fuhr sich mit den Handrücken übers Gesicht. »Viel besser, danke. Woher wusstest du, warum ich so geschrien habe? Hat Danny etwas gesagt?«

»Kein Sterbenswörtchen. Aber ich habe gesehen, wo du hingestarrt hast.«

»Du musst mich für völlig bekloppt halten, weil ich mich wegen eines Schmetterlings so aufführe.«

»Nein, wieso denn? Es ist zwar ungewöhnlich, aber wenn man mal darüber nachdenkt, ist es genau so seltsam, sich vor Spinnen zu fürchten. Ein Paradebeispiel ist meine Tante Charlene. Einmal saß sie auf dem Klo und zog am Klopapier, als eine fünf Zentimeter große Spinne mit dicken haarigen Beinen zum Vorschein kam. Sie fuhr auf der Klopapierrolle wie auf einem Aufzug. Wenn man meinem Onkel glauben darf, kann man Charlenes Schreie heute noch im Bad widerhallen hören.«

Patty lachte, froh über die Ablenkung.

»Komm, gehen wir zurück, bevor das Essen kalt wird.«

»Ich glaube, ich bleibe lieber hier. Ich will nicht, dass alle mich anstarren und sich über mich lustig machen.«

»Keine Sorge, die starren doch immer nur in die Sterne. Was anderes haben die nicht im Kopf.«

Patty folgte ihr zögernd und sah sich die Wände im Esszimmer genau an, als ob jeden Augenblick Schmetterlinge hervorschlüpfen könnten.

Danny hob die Augenbrauen. »Geht’s wieder, Trish?«

»Also, dieses Verhalten eben«, sagte Reginald abfällig, »war ausgesprochen un-«

»Ausgesprochen ungezogen«, fiel ihm Misty ins Wort. »Und damit meine ich dich, Reg.«

 

 

Träge auf einem Handtuch unter einem Sonnenschirm ausgestreckt, sah Patty auf das weite, blaue Meer hinaus. Sonnenmilch glänzte auf ihrer Haut. Der Wind kämmte ihr Haar. Ein Hauch von Glückseligkeit umfing sie.

Danny und Jeremy spazierten über den nassen Sand. Während des Frühstücks hatten sie angefangen, sich eifrig über etwas zu unterhalten, das rätselhafterweise Messier Marathon hieß, was — dessen war Patty sich sicher — bestimmt nichts mit Laufsport zu tun hatte. Aber sie fragte lieber nicht nach, denn sie war schon zu oft mit überheblichen Belehrungen abgespeist worden.

Während sie ihren Mann in der Klippenlandschaft herumlaufen sah, überkam sie mit einem Mal ein tiefes Gefühl von Sinnlosigkeit. Es gab so wenig, was sie tun konnte, um ihre Ehe zu retten, und motiviert war sie nicht im Geringsten. Die Krise hatte sich langsam entwickelt, lähmende Langeweile im Schlepptau. Sie konnte das nicht für den Rest ihres Lebens aushalten. Das Einzige, was sie noch in dieser fadenscheinigen Ehe hielt, war die Tatsache, dass sie nicht wusste, wo sie mit ihrem Klavier hinziehen sollte.

Misty war diesen Morgen nicht am Strand. Gestern hatten sie zusammen Muscheln gesammelt und ihre Fundstücke mit kindlichem Ernst verglichen. Heute war Misty nach Portimão zum Einkaufen gefahren. Reginald stand am Strand und rief zwei Jungs etwas über die Gefährlichkeit von Unterströmungen nach. Patty lächelte. Dieser Mensch hatte seine wahre Berufung gefunden: andere runterzuputzen. Und doch schien Misty mit ihm glücklich zu sein.

Als die Jungs außer Rufweite waren, wandte Reg seine Aufmerksamkeit Patty zu.

»Du wirst einen Sonnenbrand kriegen. Was für einen Lichtschutzfaktor benutzt du?« Er hob die Flasche mit ihrer Sonnenmilch auf. »Dreißig. Rechnen wir das mal nach. Hauttyp: nordisch. Das bedeutet fünf Minuten Sonne in den ersten Tagen. Mal dreißig macht das zweieinhalb Stunden, wenn du eingecremt bist.«

»Ich sitze nicht in der Sonne.«

»Du musst auch die Reflexion der UV-Strahlen von Sand und Wasser miteinbeziehen. Dazu noch das Ozonloch.«

Patty sah mit zusammengekniffenen Augenlidern in den Himmel, als wolle sie ihn nach Löchern absuchen. »Stell dir doch mal vor«, meinte sie verträumt, »es gäbe ein Loch, das durch alle Luftschichten ginge, ein zylindrisches Vakuum, das uns an unsere Verletzlichkeit erinnert.«

Zu ihrer Überraschung machte Reg sich diesmal nicht über sie lustig. »Tja, irgendwie geht es immer um Verletzlichkeit, nicht wahr?«, sagte er seufzend und ließ sie verblüfft zurück. Was für einen magischen Knopf hatte sie da eben gedrückt?

 

 

Patty hatte lauwarm geduscht und cremte sich mit kühlendem Gel ein. Reg hatte mit seiner Warnung vor UV-Strahlen Recht behalten. Misty kam mit der Katze auf dem Arm ins Zimmer. »Die Luft ist rein«, sagte sie.

Patty griff nach ihrem Kleid. »Wie — rein?«

»Es sind keine Schmetterlinge im Haus, keine Motten, überhaupt nichts, was dich ängstigen könnte. Ich bin gekommen, um dir sicheres Geleit zum Esszimmer zu geben.«

Patty war so oft Ziel von Gespött und dummen Witzen gewesen, dass sie sich reflexartig ärgerte. »Jetzt fang du nicht auch noch an.«

»Ich will dir wirklich nur helfen. Ich habe mich nie vor irgendwas gefürchtet, aber das heißt nicht, dass ich nicht zu Mitgefühl fähig bin.«

Patty suchte in Mistys Lächeln nach einer Spur von Ironie, fand aber keine. »Danke.« Sie knöpfte ihr Kleid zu. »Morgen muss ich wohl drinnen bleiben.«

»Du wirst nicht allein sein. Wir werden eine Menge Spaß zusammen haben. Du könntest mein Mannequin sein.« Misty eröffnete demnächst eine Boutique in Primrose Village, nur eine Straßenecke von Pattys Wohnung entfernt. »Wir gehen meine Schätze durch. Fransenschals, Seidenstoffe, Batiken, Perlen. Mir schwebt ein besonderer Look vor, eine Mischung aus Secondhand und maßgeschneidert. Alte Klamotten mit flauschigen, glitzernden Accessoires oder Spitzenbesatz. So was nennt man Upcycling. Das liegt voll im Trend.«

»Ist es auch Upcycling, wenn ich dreigängige Menus aus Resten zaubere?«

»Na klar. Ich koche übrigens nie. Das macht Reg.«

»Versalzt er nicht alles?«, rutschte es Patty heraus.

Misty grinste. »Du meinst, weil er so ein Misanthrop zu sein scheint? Weißt du, Reg ist nur eine harte Schale um einen unglaublich weichen Kern. Er spielt mit der Verletzlichkeit anderer Menschen, um seine eigene zu kaschieren. Wie ist es mit dir? Hast du Angst vor Schmetterlingen, weil sie verletzlich sind? Befürchtest du, du könntest ihnen wehtun?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann die Angst nicht analysieren. Sie scheint nicht einmal zu mir zu gehören. Sie überfällt mich einfach aus heiterem Himmel.«

Misty hakte sie unter und sagte mit einem Augenzwinkern: »Das hört sich für mich nach ganz miesem Karma an.«

 

 

Als Danny sich nach dem Abendessen für die nächtliche Observation vorbereitete, beschloss Patty, ihm noch eine letzte Chance zu geben, ihr zu zeigen, dass ihm etwas an ihr lag. »Danny, ich habe über die Atmosphäre nachgedacht.«

Er faltete eine Sternkarte zusammen. »Wir haben eine völlig klare Nacht.«

»Stell dir doch mal vor«, fuhr sie unbeirrt fort, »es gäbe ein Loch, das durch alle Luftschichten ginge, ein zylindrisches Vakuum, das uns an unsere Verletzlichkeit erinnert.«

Er runzelte nachdenklich die Stirn und kam dann zu dem Schluss: »Trish, du hast einen Sonnenstich.«

»Oh, Danny, bitte, behandle mich doch nicht wie eine Idiotin. Ich bin ein menschliches Wesen. Ich bin nicht Millionen von Lichtjahren entfernt. Ich bin hier, direkt bei dir, und möchte geküsst und gestreichelt werden.«

An der Art, wie er sie ansah, gelassen und in sich gekehrt, merkte sie, dass er innerlich zu unbeteiligt war, um auf ihre Provokation einzugehen.

»Unsere Ehe beruht auf einem Missverständnis«, fuhr sie fort. »Du hast mir nur einen Antrag gemacht, weil du dachtest, ich sei schwanger.«

Während der Flitterwochen in Paris hatte Patty plötzlich Fieber bekommen. Von dem engen, durchhängenden Bett in dem Dachzimmer, das einem Freund von Danny als Atelier diente, hatte er durch das Glasdach den Mond beobachtet. Als sie sagte: »Danny, mir ist schlecht«, hatte er widerstrebend das Fernglas zur Seite gelegt und sie angesehen. Seine Augen schienen immer noch in die Unendlichkeit zu starren. »Nach dem dritten Monat wird das angeblich besser.« Aber ihr Zustand verschlechterte sich so drastisch, dass er sie noch in derselben Nacht ins Krankenhaus bringen musste. Ihre angebliche Schwangerschaft entpuppte sich als Eierstockentzündung.

Danny sah auf die Uhr. »Jeremy wartet auf mich.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Du hast mir keine gestellt.«

»Ich wollte wissen, warum du mich geheiratet hast.«

»Ein Akt der Ritterlichkeit.«

»Ritterlichkeit? Wenn du besser aufgepasst hättest –«

»Trish, wir hatten nie ungeschützten Sex.«

»Was willst du damit andeuten?«

»Dass ein anderer Mann dich geschwängert hat.«

Patty schnappte nach Luft. »Das hast du damals gedacht? Aber das ist doch völliger Unsinn. Ich hatte mit Roy längst Schluss gemacht, Monate, bevor ich dich kennenlernte.«

Plötzlich hatte Danny es nicht mehr so eilig zu gehen. Er griff nach Pattys Hand. War das der Durchbruch? Nun, da alle Missverständnisse geklärt waren, könnte er sie jetzt lieben? Patty lächelte ihn an. Aber er lächelte nicht zurück. Sein Gesicht war blass und ernst.

»Du meinst, du warst von mir schwanger? Oh Gott.«

Was war denn jetzt schon wieder los? »Danny, ich war überhaupt nicht schwanger.«

Er schluckte und machte ein komisches Geräusch, wie die Zikaden im Garten. »Natürlich. Für einen Augenblick dachte ich … Vergiss es. Ich habe heute wohl auch zu viel Sonne abgekriegt.«

Begierde

 

Joy Canova hatte nur ein einziges Mal in ihrem Leben ihre eherne Regel verletzt, keine festen Bindungen einzugehen. Als sie an diesem sonnigen Morgen Rosslyn Hill, die Verkehrsader in Hampstead, hinunterspazierte, speiste Joys fotografisches Gedächtnis sie mit der trivialen Tatsache, dass es genau zwei Jahre her war, dass sie im Supermarkt am Chiller-Automaten Leo Croft begegnet war. Genau dorthin war sie gerade unterwegs.

Der Chiller-Automat ist eine tolle Erfindung für Leute, die plötzlich Lust auf Champagner oder Weißwein bekommen. Man wählt eine Flasche, stellt sie in eine der fünf zylindrischen Öffnungen, drückt einen Knopf, geduldet sich vier Minuten und entnimmt die Flasche auf Trinktemperatur gekühlt. An jenem denkwürdigen Tag hatte Joy Scampisalat fürs Abendbrot gekauft und wartete gerade darauf, dass ihre Flasche Pale Cream Sherry abkühlte.

»Der Mensch ist das einzige Tier, das errötet. Oder es nötig hätte«, hatte eine sonore Stimme hinter ihr rezitiert. »Das hat Mark Twain gesagt. Und hatte er etwa nicht Recht?«

Joy, die tatsächlich rot geworden war, fand diese Anmache zwar nicht besonders originell, aber der dazugehörige Mann hatte Klasse. Später feierten sie Leos Geburtstag, indem sie sich in seinem Schlafzimmer den Scampisalat und den Weißwein teilten. Das Schlafzimmer war der einzige möblierte Raum, weil er gerade erst eingezogen war, nachdem er sich von seiner Familie getrennt hatte.

Gegen ihre Überzeugung hatte Joy angefangen, sich regelmäßig mit Leo zu treffen. Männer mit seinem Charisma und dieser unermüdlichen sexuellen Energie waren nun mal Mangelware. Der Ärger fing an, als Lydia, Leos zukünftige Ex-Frau, immer wieder aufkreuzte, entweder um Leo in Litaneien zu ertränken über das Unrecht, das er ihr getan hatte, oder um ihn anzuflehen, zu ihr zurückzukommen.

Joy versuchte, sich nicht einzumischen, obwohl sie wusste, was sie an Leos Stelle tun würde: die großzügigen Unterhaltszahlungen einstellen, bis Lydia gelernt hatte, sich zu benehmen.

Dann, an einem Sonntagmorgen im September, war Lydia hereingestürmt, als sie gerade frühstückten. Sie war außer Atem und nicht so sorgfältig geschminkt wie sonst. Ihr Sohn Cameron war in der Nacht verschwunden und hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er seine Eltern beschuldigte, sein Leben ruiniert zu haben. Joy zog sich ins Bad zurück und schlüpfte in ihre Sachen, aber der Zank im Esszimmer war zu laut, als dass sie ihn hätte überhören können.

»Wenn du bei uns geblieben wärst, wäre das nicht passiert«, warf Lydia Leo vor.

»Du hattest die Wahl und du hast die falsche getroffen. Keine weiteren Diskussionen. Ich habe dich verlassen, nicht unseren Sohn. Er ist bei mir jederzeit willkommen.«

»Pass auf, was du sagst. Keine billigen Tricks. Wenn du versuchst, das Sorgerecht zu kriegen, dann werde ich ihm die Wahrheit über dich erzählen.«