Cover

Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete erst in Davos und dann im Kanton Schwyz. Von Jugend an widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Kommunikations- und Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und wohnt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Am Ende befindet sich ein Glossar.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: fotolia.com/fotoember

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-295-3

Originalausgabe

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Ungeheuer gibt es wirklich, und Geister gibt es auch.
Sie leben in unserem Inneren, und manchmal gewinnen sie.

Stephen King

 

Er ist ein Engel. Ein gefallener Engel. Der Sohn der Verdammnis. Der Höllenfürst. Jeder, der ihn schon gesehen zu haben glaubt, beschreibt ihn gleich: ein unmenschliches Wesen mit einem Ziegenbockkopf und Hörnern sowie Füssen, die an Hufe erinnern.

Sein Zuhause ist die Hölle, die heisse Glut jenseits von Himmel und Erde. Tiefer als das Fegefeuer.

Doch sporadisch kehrt er ins irdische Leben zurück. Zurück zu denen, die ihn gerufen haben …

Der Fluch begann damit, als die Urner in der Schöllenen eine Brücke über die Reuss bauen wollten. Allen voran Bauer B. aus Göschenen, der ein eigenwilliger Mann war.

In jener denkwürdigen Nacht stand er auf der Talseite, zusammen mit einer Herde Ziegen, die er vom Dorf aus hierhergeführt hatte. Es hatte geregnet. Noch hingen Wolkenschlieren über dem Tal. Durch die enge Schlucht rauschte das Wasser wild und bedrohlich. Bauer B. überlegte sich einmal mehr, wie man eine Brücke über den Fluss bauen könnte. Seit Tagen hatten er und seine Freunde Bäume gefällt, sie in der Mühle zersägt und die Latten nach oben getragen, wo sie noch immer lagen. Links und rechts ragten die Felswände steil in den Himmel. Seine Freunde aus dem Urnerland waren sich nicht einig. Zu schwierig das Projekt. Zu aufwendig und schweisstreibend. Und wer, bitte schön, sollte die schweren Steine aufeinanderschichten? Die Hölzer? Zudem sassen sie lieber in der Beiz und liessen sich volllaufen. Auf seine Freunde war in solchen Dingen kein Verlass.

Bauer B. setzte sich ins nasse Gras und grübelte. Steine hatte es hier genug für das Fundament. Trotzdem: Allein würde er es nicht schaffen.

«So mir Gott nicht hilft, soll es der Teufel tun!»

Totenstille.

Bis ein Blitz durch die Wolken schoss, ein Feuerball so hell wie nie. Der darauffolgende Donnerschlag liess die Erde erzittern. Und unter lautem Getöse fuhr der Satan auf der gegenüberliegenden Flussseite aus dem Felsen. Ein schwefliger Gestank begleitete ihn.

«Eine Brücke also willst du bauen?»

Bauer B., vor Schreck erblasst und vom Blitz geblendet, rappelte sich auf. Ein Steg über die Reuss wäre schon etwas. Was würden seine Freunde sagen, wenn er allein das Problem lösen könnte? Vielleicht mit Hilfe des Teufels. Er verwarf den Gedanken sogleich wieder. Versündige dich nicht, hatte schon seine Mutter gesagt.

«Ich kann dir zur Hand gehen», bot ihm der Teufel an.

Gott steh mir bei, dachte Bauer B. und versuchte, den Traum zu zerstören.

Doch er hatte nicht geträumt.

Ihm war nicht wohl bei der Sache. Trotzdem lockten die Worte des Leibhaftigen. Eine Brücke. Und sie könnten die Ware von Göschenen bedenkenlos nach Andermatt bringen. Auf Eseln und Karren. Die Ziegen würden weiter oben viel mehr Kräuter finden. Die Kraxelei hätte endlich ein Ende. Und das bange Warten bei Regen.

«Welchen Lohn würde ich dir bezahlen müssen, wenn du mir hilfst?» Bauer B. ahnte, dass der Teufel nichts umsonst tat.

«Das ist ganz einfach», sagte dieser. «Sobald die Brücke fertig ist, schick mir die erste Seele rüber. Die gehört dann mir.»

Bauer B. zögerte. Schaute ins Wildwasser, stellte sich den Steg bereits vor und seine Freunde, die ihren Mund nicht mehr zubekamen. Er würde bei ihnen hoch im Kurs stehen.

«Gut, ich gebe dir mein Ehrenwort. Die erste Seele, die über die Brücke geht, soll dir gehören.»

Bestimmt würde der Teufel sein Versprechen vergessen, sobald die Brücke gebaut war. Bauer B. schätzte ihn als nicht sehr intelligent ein.

Er legte sich zurück ins Gras, denn Müdigkeit übermannte ihn. Bald schlief er tief und fest und nahm nichts mehr von dem wahr, was um ihn herum geschah.

Als er erwachte, stand da das schönste Bauwerk, das er je gesehen hatte. Eine Brücke aus Stein und Holz. Und ein Weg, der darüberführte. Breit genug für Esel und Wagen.

Auf der andern Seite wartete der Teufel. «Jetzt bekomme ich meinen Lohn, den du mir versprochen hast.»

Bauer B. dachte nicht daran, sich selbst zu opfern. Und nein, zum Teufel wollte er nicht gehen, obwohl er einen Pakt mit ihm geschlossen hatte.

Aus der Ziegenherde hatte sich der Bock gelöst, der am Brückenrand viel Gras gerochen hatte. Er trottete an Bauer B.s Seite. Und als hätte ihm der Himmel eine Eingebung gesandt, schickte Bauer B. den Ziegenbock über die Brücke.

«Hier hast du deine Seele», triumphierte er.

Mit dem Zorn des Teufels hatte er nicht gerechnet.

Wieder schossen Blitze. Diesmal von einem Donnern begleitet, dass einem Hören und Sehen verging.

Der Teufel fuhr runter in die Hölle, rauf über die Brücke und verschwand hinter dem Felsen, der über der Reuss thronte. Ein lautes Krachen, ein Bersten von Gestein. Der Fels löste sich, rumpelte ins Tal, immer weiter auf das Dorf zu.

In Göschenen sah es das Gritli und bekreuzigte sich. Der Felsbrocken blieb vor dem ersten Haus stehen und bewegte sich nicht mehr.

Weit oben in der Schöllenen bekreuzigte sich auch Bauer B. Da hatte er noch einmal Glück gehabt.

Als die ersten Fuhrwerke über die neue Brücke fuhren, war der Betrug aus dem Gedächtnis gelöscht.

Aber der Teufel … der Teufel vergisst nie!

Viele Jahre später holte er sich seine Opfer selbst.

EINS

«Sie ist eine Mimose.» Gemma knallte die unbeschriebenen Papierbögen auf das Pult. «Und eine Provokateurin obendrein. Sie hat genau gewusst, dass sie ihr Manuskript bis Ende dieser Woche abliefern muss. Die letzte Frist übrigens, nachdem sie sich schon im Sommer beschwert hat, nicht genug Zeit zu haben. Was macht sie? Sie hat die Frechheit, leere Blätter vorzulegen. Leere Blätter! Das heisst, dass sie mit dem Schreiben nie begonnen hat …»

«Beruhige dich.» Georg Evers fächerte nachdenklich das Schreibpapier auseinander, als müsste er sich erst vergewissern, dass da nichts stand. Weiss. Leer. Unbeschrieben. Ausser Zweifel eine Provokation. «Sie hat mir bereits im Juli mitgeteilt, dass sie unter einer Schreibblockade leidet.»

«Davon hast du mir nie etwas gesagt. Aber das musste ja so kommen. Verdient sich eine goldene Nase mit unserem Verlag und kann es sich leisten, unter einer Schreibblockade zu leiden.»

«Die goldene Nase haben eher wir mit ihr verdient.» Evers warf seiner Frau einen halb verachtenden, halb belustigten Blick zu. «Erinnerst du dich an die Anfänge unseres Verlags? Mit Sophie ist es uns gelungen, von uns reden zu machen. Wir haben von Anfang an an ihr verdient. Jedes Jahr beglückte sie uns mit einem neuen Bestseller. Jetzt ist sie ausgebrannt. Das kann selbst einem erfahrenen Autor passieren.»

«Hast du das Gefühl, da kommt in Zukunft noch etwas? Es ist alles geschrieben. Kein Wunder, sie ist ja schon fünfundvierzig.»

«Das bist du doch auch.»

«Das ist etwas anderes.» Gemma stöckelte zum Fenster, selbstbewusst, fast hochnäsig, als hätten die Jahre, die sie auf dem Buckel hatte, eine ganz andere Bedeutung als das Alter ihrer Autorin. Sie riss die Flügel auf. Sie lehnte über den Sims und zog tief Luft ein. Der Himmel wölbte sich aufgewühlt über Basel. Über dem Rhein dampfte es. Bis vor Kurzem hatte es geregnet.

Herbst – Zeit zum Umbruch, fand Gemma, was sie in den nächsten fünf Minuten lauthals kundtat. «Georg, wir sollten sie ersetzen», beendete sie ihre Ausführungen. «Es gibt junge Autoren, die sich zurechtbiegen lassen. Junge Typen, die wir auch werbemässig vorantreiben können. Oder Autorinnen, die gut aussehen.»

Letzteres wollte Evers nicht gehört haben. «Es liegen einige Manuskripte von solchen Typen auf meinem Arbeitstisch. Ehrlich gesagt war ich bei keinem über die fünfte Seite hinausgekommen. Heute glaubt jeder, der einen geraden Satz zustande bringt, er könne gleich ein Buch schreiben. Sie haben einfach nicht die Qualität, die wir uns gewohnt sind. Ja, ich gebe zu, mit Sophie waren wir verwöhnt. Sie lieferte, wir konnten produzieren. Sie war in dieser Hinsicht unkompliziert … eine Mimose ist sie nicht.»

«Ich habe diese Frau so satt. Seit Jahren macht sie auf Diva. Hast du ihre neue Karre gesehen? Ein VW Käfer wie anno dazumal. Sie muss immer auffallen … Ihr ist es in den Kopf gestiegen. Es wäre die Gelegenheit, sie in die Pampa zu schicken.»

«Kommt nicht in Frage. Zudem geht es uns nichts an, welches Auto sie fährt.»

«Was heisst das im Klartext?» Gemma lehnte sich an den Fenstersims und verschränkte ihre Arme.

«Ich kann sie nicht einfach fallen lassen. Ich bin überzeugt, sie braucht eine Auszeit, um noch einmal durchzustarten.»

«Vergiss es!» Gemma drehte sich um und zog die Fensterflügel wieder zu. «Ich bin mir sicher, da wird nichts mehr kommen. Wir vergeuden nur unsere Zeit.»

«Ich werde sie nicht hängen lassen.» Georg hatte seinen Ton verschärft. «Über zwanzig Jahre lang hat sie uns Erfolg gebracht. Jetzt liegt es an uns, sie dafür zu entschädigen.»

«Papperlapapp!» Gemma verzog ihren Mund zu einer Schnute. «Ich glaube, mit den fünfzehn Prozent Honorar hat sie weit mehr verdient als manch ein anderer Autor.»

«Trotz allem ist sie … meine Lieblingsautorin geblieben.» Evers erhob sich, kam um das Pult herum, stellte sich frontal vor seine Frau und hielt sie an den Schultern fest. Er wusste genau, dass er Gemma mit dieser Aussage provozierte. «Wir sind es ihr schuldig.»

Gemmas Mimik nahm an Gehässigkeit zu. «Wir schulden ihr gar nichts. Zudem waren wir es, die ihre Lesungen organisierten. Sie konnte sich nie beklagen. Sie verdiente auch an uns.»

«Es ist immer ein Geben und Nehmen.»

«Hundert Prozent, Georg, hundert Prozent. Jeder Verleger beteiligt sich am Honorar von Lesungen, wenn er sie selbst aushandelt. Aber du mit deiner sozialen Ader …» Gemma schloss die Augen. «Du warst noch nie der geborene Geschäftsmann.»

«Das hat vielleicht etwas mit Fairness zu tun. Oder möchtest du mit unseren Autoren tauschen? Sie liefern schliesslich eine beachtliche Arbeit …» Evers sah seiner Frau an, dass seine Argumente sie nicht zufriedenstellten. Er kannte Gemma. Sie waren seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet und kinderlos. Ihr Baby war der Evers-Verlag, den sie kurz nach ihrer Hochzeit gegründet hatten. Dass sie mit dem Debüt von Sophie Mars gleich auf den ersten Platz im Ranking der zwanzig Besten des Schweizer Buchhandels gekommen waren, war vielleicht auch Glück. Die Medienlandschaft war dem neuen Unternehmen gut gesinnt gewesen. Mittlerweile hatte der Evers-Verlag knapp hundert Autorinnen und Autoren, mehrheitlich Kriminalschriftsteller. Allesamt im qualitativ oberen Segment. Aber keiner unter ihnen konnte bis anhin Sophie das Wasser reichen. Ihre Sprache war ein Faszinosum, zog die Leser fast magisch in den Bann. Sophie wurde vergöttert. Georg würde sie nicht aufgeben. Er fühlte sich ihr gegenüber verpflichtet, ob das seiner Frau passte oder nicht.

«Was willst du tun?» Gemma hatte sich ein wenig beruhigt.

«Wir werden sie nach Andermatt schicken. Sie soll sich während zweier Wochen im Hotel The Chedi erholen.»

«Nach Andermatt?» So entrüstet hatte er Gemma seit Langem nicht mehr gesehen. «Warum ausgerechnet nach Andermatt?»

«Hast du etwas dagegen?»

«Und ob ich etwas dagegen habe.» Sie schnaubte wie ein Rhinozeros. «Schick sie nach Klosters oder nach Ascona. Aber nicht nach Andermatt.»

«Ich habe bereits gebucht.»

ZWEI

Nach dem dritten Umsteigen wurde es ihr langsam zu bunt. Seit der Abfahrt in Luzern waren mehr als zwei Stunden vergangen. Sie hätte doch den Wagen nehmen sollen. Seit der Gotthard-Basistunnel den Norden mit dem Tessin verband, hatte man die direkte Verbindung von Luzern nach Göschenen gestrichen.

Im Dorf wehte ein Wind, der die Vorboten des ersten Schnees brachte: Nieselregen. Er fühlte sich wie Geschosse an. Es war November und eiskalt. Der Nebel, der sich schon den ganzen Morgen über Luzern ausgebreitet und die Stadt in ein diffuses Licht getaucht hatte, umwaberte auch hier zäh den Bahnhof, der so ausgestorben wirkte wie ein Ort in Sibirien. Beidseitig des Gebäudes schachtelten sich die Häuser von Göschenen den bewaldeten und felsigen Hang hinauf, den gewundenen Wegen entlang. Unterhalb des Viadukts rauschte die Reuss im nimmermüden Lauf.

Eine Handvoll Menschen begab sich auf die Rückseite des Bahnhofs, wo der Anschlusszug ins Urserental stand; sonst war da kaum jemand. Bei diesem Wetter liess man nicht einmal einen Hund nach draussen.

Georg Evers’ Vorschlag, sie solle den Koffer packen, hatte Sophie Mars als Flause ihres Verlegers abgetan. Eine Reise nach Andermatt. Ausgerechnet nach Andermatt. Einstweilen hatte er solche Einfälle, um ihr Stimmungstief zu heben. Nach dem ersten Schock hatte sie zuerst zwei Gläser Champagner getrunken. Danach war es ihr nicht besser gegangen. Er hätte sie an den Amazonas schicken können. Dort wäre es ihr wohler gewesen.

Aber nicht nach Andermatt.

Sie hatte den Vertrag gebrochen. Zum ersten Mal in zwanzig Jahren. Und es hatte ihr nicht einmal viel ausgemacht. Die Freude an der Vorstellung, wie Gemma Evers ihr Gesicht verzog und in Anwesenheit ihres Mannes über die arrogante Mars lästerte, war eine grosse Genugtuung gewesen. Sollte Evers die vertraglich vereinbarte Konventionalstrafe geltend machen, würde sie den Ausfall bezahlen. Öfters leistete sie sich Extravaganzen. In der Art war es ihre erste. Egal, ihr Vermögen – und das war nicht wenig – würde sie nicht mit ins Grab nehmen können. Vielleicht würde man es ihr hinterherwerfen, weil man sie grundsätzlich hasste.

Erfolg machte einsam.

Und kreierte Neider.

Ihre Tochter würde selbstverständlich alles bekommen. Sie und ihr Enkel. Und ihre Bibliothek zu Hause hatte sie auch schon testamentarisch einer Stiftung vermacht. Im Grunde war Sophie eine Chaotin – ihre Finanzen hatte sie jedoch im Griff und deshalb auch schon früh dafür gesorgt, wer nach ihrem Ableben was bekommen sollte.

Doch noch stand sie mitten im Leben, fünfundvierzig und so rastlos wie eh und je. Mittlerweile hatte sie sich mit der Tatsache versöhnt, keinen Partner an ihrer Seite zu haben. Eine befriedigende Beziehung, bei der sich ein Paar auf geistiger und körperlicher Ebene begegnet, war ihr bis heute verwehrt geblieben. Die Ursache suchte sie vor allem bei sich selbst. Mit ihr zusammenzuleben war nicht einfach, wenn nicht gar unmöglich.

Sophie hatte ihre Siebensachen zusammengesucht, ohne zu wissen, was sie in einem Luxushotel wie dem «Chedi» überhaupt gebrauchen würde. Eine Garderobe, wie sie vielleicht erwünscht war, besass sie zwar, aber diese schien ein wenig aus der Mode zu sein. Es war Jahre her, seit sie in einem Fünf-Sterne-Haus residiert hatte. Sie zog Strandferien dem Pomp vor, das Meer bot Erholung genug. Zudem konnte sie im Sand so herumgehen, wie es ihr passte. Und am Abend sass sie gern am Wasser, wo ihr Ideen von allein kamen. Jedenfalls bis zu ihrem letzten Kriminalroman war es so gewesen, dessen Erscheinungsdatum allerdings ein Jahr zurücklag.

Sophie kannte das Hotel nur aus dem Internet. Ein Fünf-Sterne-Haus mitten im Dorf, das in letzter Zeit viel von sich reden gemacht hatte.

Andermatt. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte sie den Ort nicht mehr besucht. Damals hatte sie eine Vergangenheit abgeschlossen. Etwas zurückgelassen, das sie zuerst in eine tiefe Sinnkrise gestürzt hatte. Doch von diesem Moment an hatte sie gewusst, dass sie ihr Leben hauptsächlich dem Schreiben widmen würde. Das Schreiben hatte sie letztendlich geheilt.

Hätte Evers ihre Vergangenheit gekannt, hätte er sie nicht dorthin geschickt. Obwohl sie eng miteinander befreundet waren, war ihre Geschichte ein Tabu. Vielleicht wollte es das Schicksal so. Sophie wusste nicht, weshalb sie gegen diesen Vorschlag nicht interveniert hatte. Evers hatte sich wie ein Kind gefreut, als er ihr die Einladung ins «Chedi» unterbreitete. Sie hatte ihn bereits mit dem leeren Manuskript geschockt. Eine weitere Niederlage hätte er nicht verkraftet.

Sophie stieg in den Zug, dessen roter Anstrich zwischen den grauen Hausfassaden und den Felsen herausstach – ein Farbtupfer an diesem trüben Tag. Sie war froh darüber, endlich wieder an der Wärme zu sein. Sie setzte sich. Ihren Koffer stellte sie in den Mittelgang und hielt ihn fest, als könnte ihn jemand stehlen. Ich könnte wieder aussteigen und umkehren, überlegte sie sich. Wie hatte sie auch so naiv sein und dieses Geschenk annehmen können? Ein Ruck ging durch den Wagen. Der Zug bewegte sich langsam vorwärts. Das ratternde Geräusch bezeugte das Einklinken der Zahnräder. Wesentlich schneller ging es nicht voran.

Ein permanentes Pfeifen hing in der Luft, das das Unheimliche des Augenblicks unterstrich. In der Galerie wirkte das Düstere des Nachmittags noch erdrückender. Es war einer jener Momente, die in Sophie Schwindel erzeugten.

Der Zug kroch die Schöllenen hoch. Mit jedem Höhenmeter nahm der Druck in Sophies Ohren zu. Sie versuchte, ihn durch ein ausgiebiges Gähnen zu beseitigen. Der Fahrgast schräg gegenüber beobachtete sie verstohlen, bevor er sich wieder in seine Zeitung vertiefte. Sie entdeckte ein flüchtiges Grinsen auf seinem Gesicht.

Unverschämter!

Seit Luzern hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt. War es Zufall, dass er schon wieder in ihrer Nähe sass? Verfolgte er sie etwa? Sie kannte ihn nicht. Nicht einmal vom Sehen. Er tat so, als wäre sie ihm nicht fremd. Hatte er sie wiedererkannt? Erst letzten Monat war im «Wochenblatt» ein Artikel über sie erschienen. Wie sie diese Medien hasste.

Vermaledeit! Das unheimliche Pfeifen flösste ihr noch mehr Unbehagen ein.

Sophie versuchte, dem keine Bedeutung beizumessen. Sie sah hinaus, gebot sich Entspannung. Liess die Bilder auf sich einwirken, die Landschaft ausserhalb der Galerie, welche ein Künstler weich gezeichnet zu haben schien. Die Reuss hatte sich weit unten einen Weg durch die felsige Landschaft gegraben – über Millionen von Jahren schon. Felsen, nichts als Felsen und dazwischen die weisse Gischt. Der Fluss, der oberhalb des Furkapasses seinen Ursprung hatte, tobte ungebändigt. Das schöne Bild einer archaischen Natur.

Sophie hatte fünf gescheiterte Beziehungen hinter sich. Fünf Männer und alle tot. Die Ermordung ihrer Männer war die logische Folgerung gewesen. Natürlich nur in ihren Büchern, in denen sie jedes eheliche Drama aufgearbeitet hatte. Über mehrere Seiten hinweg hatte sie gemeuchelt, zerstückelt, in Säure aufgelöst, gefoltert und erdrosselt. Immer mit dem Bild des jeweiligen Lebensgefährten vor Augen, der ihre psychische Existenz gerade zur Hölle gemacht hatte.

Nicht umsonst war sie Krimiautorin geworden. Und eine erfolgreiche obendrein. Dieser Umstand sei allein ihren kaputten Beziehungen zu verdanken, hatte sie Evers anvertraut. Sie hatte immer mehr geliebt als ihre Männer, jeder Ehe alles abgerungen, dadurch auch sehr gelitten, als sie zu Ende gewesen war und es absolut nichts mehr zu kitten gegeben hatte. Immer wieder von Neuem hatte sie an die Institution Ehe geglaubt und erst zu spät gemerkt, wie sie im Grunde ausgenommen und betrogen worden war.

Mit ihrer Tochter aus erster Ehe hatte sie sporadisch Kontakt. Sie war aufgrund eines Sprachaufenthalts nach Whistler in Kanada gereist. Aus den vier geplanten Monaten waren drei Jahre geworden. Die Liebe hatte ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt. Auch Sophies. Ihren Enkel hatte sie bis heute nicht kennengelernt. An Weihnachten hatte sie ein einziges Foto erhalten. Das lag in ihrem Portemonnaie und erinnerte sie daran, dass ihr Leben zwar vergänglich war und dennoch eine Zukunft hatte. Zumindest würden ihre Gene weiterexistieren. Andererseits verfolgte sie die Entwicklung des Kindes via Skype oder Videos, die ihr Cosima von Zeit zu Zeit schickte.

Von ihren Ex-Männern hörte sie nichts mehr. Dass sie bei allen fünfen auf Gütertrennung gepocht hatte, nahmen sie ihr wahrscheinlich heute noch übel. Nach der Scheidung hatten ohne Ausnahme alle fünf blöd geschaut. Unisono waren sie der Meinung gewesen, dass ihre Schreibsucht jeglichen Versuch für eine gute Ehe im Keim erstickt habe.

Sophie liebte ihre Parallelwelt. In ihr liess es sich oft besser leben. Schreiben hatte zudem den Vorteil, dass sie die Psychotherapeuten umgehen konnte. Schreiben war Therapie genug.

War ihr massloses Leben jetzt vorbei? Oder würde ihre Schreibblockade sie zu neuen Ufern führen? Sie wusste es nicht. Sie würde bald über die Bücher gehen müssen. Heute jedoch nicht. Andere Sorgen bemächtigten sich ihrer. Wie würde es sich anfühlen, nach so vielen Jahren nach Andermatt zurückzukehren? Je näher sie dem Ort kam, umso schneller wurde ihr Puls.

Der Klang der Bahn hatte sich verändert. Und wenn Sophie durch das Rechteck des Fensters sah, lagen die Felsen in einem seltsam schrägen Winkel zu den Schienen. «Warum bauen die Schweizer die Häuser in den Hang?», hatte einmal ein Kind seine Mutter auf dem Weg zur Rigi gefragt. Sophie erinnerte sich an die Antwort der Mutter. «Es ist besser, am Hang zu leben als im Flachland. Denn irgendeinmal wird die Flut kommen.» Sie hatte wohl geglaubt, was sie sagte.

Sophie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wenn das Leben nur so einfach wäre. Sie hätte ihrer Tochter tausendmal solche Sachen erzählt, die nicht der Wahrheit entsprachen, wohl aber dem kindlichen Gemüt. Aber das hatte sie verpasst. Geschichten erzählen war nicht ihre Stärke. Geschichten schreiben schon. Bereits als Kind hatte sie eine blühende Phantasie gehabt, die sie, sobald sie die ersten Buchstaben verstand, auf Papier kritzelte. Ihre Mutter hatte dabei etwas Übersinnliches gesehen, der Vater bloss ein Hirngespinst. Erst Georg Evers hatte ihr literarisches Talent entdeckt. Aber da war sie schon zweiundzwanzig gewesen, hatte eine Lehre als Verkäuferin, eine Anstellung in einem Modegeschäft und eine Abtreibung hinter sich gehabt.

Der Zug fuhr über eine Brücke. Sophie drückte das Gesicht an die beschlagene Fensterscheibe, sah hinab in die Schlucht, die sich im nebligen Grau abzeichnete. Tief und unheimlich. Dort lag die Teufelsbrücke, die sie durch die Sage kennengelernt hatte. Ihr Vorstellungsvermögen blieb an diesem Tag zu beschränkt, als dass sie den Teufel in der Schlucht entdeckt hätte. Überdies war die alte Brücke längst nicht mehr in ihrem Originalzustand.

Der Kanton Uri gehörte zu den Urkantonen, war für Sophies Dafürhalten aber immer auch abseits vom Rest der Schweiz. Er lag auf der Nord-Süd-Achse, diente der Durchquerung des Gotthards für den Verkehr und drohte nach der Erstellung des Basistunnels noch isolierter zu werden. Er war dünn besiedelt, gebirgig und im Winter sehr kalt. Nicht gerade das Klima, das Sophie sich wünschte. Auch einer der Gründe, warum sie Andermatt verlassen hatte. Dies suggerierte sie sich manchmal ein, um nicht über die wahren Ursachen nachdenken zu müssen.

Der Zug verschwand in der Galerie. Betonpfähle, Zündhölzern gleich, jagten vor Sophies Augen dahin. Wie hatte sie auch Evers’ Einladung annehmen können? Tausendvierhundertsiebenundvierzig Meter über dem Meer. Kalt und grausig in dieser Jahreszeit.

«Perfektes Wetter zum Entspannen», hatte Evers gesagt. Gefordert hatte er nichts. Forderungen würden früh genug eintreffen. Nicht von Evers, aber von seiner Frau. Sophie war sich ziemlich sicher. Dass Gemma sie nicht mochte, war nichts Neues. Das hatte sich auch mit dem Erfolg nicht geändert. Gemma war der Meinung, dass Sophie zu viel verdiene. Sie hatte es ihr mehr als einmal deutlich gesagt, es aber trotzdem nicht gewagt, daran etwas zu ändern. Gut möglich, dass Evers’ Meinung mehr gewichtete als ihre.

Andermatt.

Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein. Der Fahrgast vis-à-vis musste ihren Herzschlag hören. Doch der Mann war bereits aufgestanden und wartete schon vor der Tür. Auf den ersten Blick sah alles gleich aus wie damals. Einzig die Baustelle, die sich rechts der Schienen bis zum Depot ausdehnte, deutete auf eine Veränderung hin. Das penetrante Dröhnen von Presslufthämmern drang durch die geschlossenen Fensterscheiben. Nicht nur auf dem Bahnhofareal wurde gebaut, auch daneben. Dort entstanden neue Hotelkästen, in einer Dimension, die Sophie völlig fremd erschien.

Das Hotel The Chedi lag direkt gegenüber. Eine beruhigende Tatsache. Sophie fror, kaum hatte sie ihren Fuss auf das Perron gesetzt, und sie bedauerte, dass sie nicht ihren eigenen Wagen mitgenommen hatte. Vor einem Jahr hatte sie sich einen VW-Käfer gekauft, der seit Jahren schon zu den Oldtimern zählte. Ihr persönliches Statussymbol, welches sie an die Zeit nach ihrer Ausbildung erinnerte. Damals hatte sie Grossvaters Auto gefahren, das er später, zu ihrem Leidwesen, gegen einen feudaleren Ford eingetauscht hatte. Diesen hatte sie nicht mehr ausleihen dürfen, der Gefahr wegen, sie könnte ihn zu Schrott fahren.

Vom Nätschen her wehte ein ungemütlicher Wind. Nein, der Spätherbst war nicht ihre Jahreszeit. Sie würde sich im Hotel verkriechen. Evers hatte das schon richtig gesehen. Und sie würde sich endlich verwöhnen lassen und das nachholen, was sie in den letzten Jahren versäumt hatte.

Das Dorf hatte sich kaum verändert. Häuser mit Giebeldächern säumten die Hauptstrasse, älter jetzt und doch mit jenem nostalgischen Charme, den Sophie so mochte. Ein sonderbares Gefühl des Heimkommens bemächtigte sich ihrer. Hier hatte sie drei Jahre ihres Lebens verbracht, gearbeitet, gelitten, geliebt und gezweifelt. Festgefahrene Wege verlassen, neue, unbekannte eingeschlagen. Sophie blieb stehen. Weiter oben Richtung Oberalppass fielen ihr die grauen Betonklötze auf, die einander in der Art glichen, als hätte sie der Architekt geklont. War der Dorfkern der alte geblieben, schien ausserhalb von Andermatt auch das Moderne angekommen zu sein. Die Gemeinde war grösser geworden und anonymer.

Schon jetzt war alles auf die kommende Wintersaison ausgerichtet. Das Geschäft auf dem Weg zum Hotel bot Skier und farbige Skibekleidung an und lockte die frühen Gäste mit Prozenten.

«The Chedi». Das Hotel in Andermatt. Mit einem Küchenchef, der es zu Punkten und Sternen gebracht hatte. Der Eingang wirkte in der Breite schmal, im Gegensatz zur Höhe, und düster. Doch das lag an diesem Novembertag, der einfach nicht aus dem Nebel herauskam.

Sophie trat ein, wurde augenblicklich von einem sonderbaren Gefühl eingeholt. Auch der Geruch schreckte sie ein wenig ab. Und die Grösse im Innern, die verschlungenen Räume und die gekachelten Wände, die sie mit einem Blick wahrnahm.

Sophie steuerte die Rezeption an. Einen langen Tresen, auf dem ein Samowar stand und sicher ein Dutzend verschiedene Teesorten in farbigen Schälchen. Sie musste damit rechnen, dass man sie im Hotel kannte. Wie oft war sie in den Medien präsent gewesen, hatte sich auf dem Titelblatt zum Affen machen müssen – das Mediengerangel gefiel ihr nicht. Aber Evers fand, auch das gehöre dazu. Sie sei eine Autorin zum Anfassen. Man wolle Einblick in ihr Privatleben haben. Sophie hatte sich immer zurückhalten können. Was sie nach Buchvernissagen und Lesungen machte, ging wirklich niemanden etwas an.

An der Rezeption stand ein Spargel, der den Mund nicht mehr zubekam. Gross, jung und Deutscher. Unter anderen Umständen hätte er die Rolle eines Statisten in einem ihrer Krimis bekommen. So ein Exemplar hatte sie noch nie gesehen. Er war sichtlich nervös, was vielleicht von ihrer Erscheinung herrührte. Klar, sie hätte sich eine Perücke aufsetzen sollen oder zumindest eine dunkle Brille. Kein Zweifel: Er kannte sie.

«Guten Tag, Frau Mars.» Der Empfangssekretär himmelte sie an, als stünde er vor einer königlichen Hoheit, die hier wohl zahlreicher buchten als eine Krimiautorin. «Wie war Ihre Anfahrt? Sind Sie gut gereist?»

«Ja, ja, danke.» Zu mehr Konversation war Sophie nicht gewillt.

«Dann muss ich Sie bitten, Ihre Unterschrift auf das Formular hier zu setzen. Nur ein kleines Autogramm … aber das sind Sie sich sicher gewohnt.»

Sophie rang sich endlich ein Lächeln ab, griff nach dem Stift und unterschrieb.

«Schön, dass ich Sie persönlich kennenlerne. Ich bin ein bekennender Fan von Ihnen.» Er reichte ihr die Hand über den Tresen. «Ich bin Bernhard Eibisch und stehe zu Ihren Diensten.»

Das konnte ja heiter werden. Fehlte noch, dass er sie ob seiner Euphorie umarmte. Sie kannte sich aus mit deutschen Anhängern. Im Gegensatz zu den Schweizern gingen sie gern auf Tuchfühlung. Sass der Schweizer während einer Lesung von der Mitte der Bestuhlung an bis nach hinten, drängte der Deutsche fast auf die Bühne. Trotz der nordischen Kühle zeigte er manchmal viel Herzlichkeit.

Eibisch nahm die unterschriebene Anmeldung entgegen, ohne dass Sophie die Angaben geprüft hatte. «Ich werde Sie sogleich in Ihr Zimmer begleiten. Ihr Verleger hat eine wirklich schöne Suite ausgesucht.»

Suite! Das sah Evers ähnlich. Warum musste er auch immer so protzen? Ein einfaches Zimmer hätte es auch getan, obwohl Sophie daran zweifelte, in diesem Luxushotel ein einfaches Zimmer zu finden.

«Das Gepäck wird Ihnen auch gleich hochgebracht», sagte Eibisch.

Sophie sah sich um. Alpenromantik par excellence. Fast alles aus Holz. Heimelig und trotzdem von erlesener Eleganz. Das letzte Mal hatte Sophie Ähnliches in Colorado gesehen. Doch da war etwas, was sie schwindlig machte. Erklären konnte sie es sich nicht.

Sophie nahm sich auf dem Weg zum Lift Zeit. Sie liess die Bilder auf sich wirken, verspürte so etwas wie Glück. Sie würde hier zwei Wochen entspannen können. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war und wie sprunghaft ihre Empfindungen sich anfühlten.

Die Suite sah überwältigend aus. Ihr Wohnzimmer hatte nicht annähernd dieses Ausmass.

Sophie blieb unter dem Türrahmen stehen, während ihr Blick durch den Raum wanderte. Hier hatte man offensichtlich versucht, einheimische Tradition mit einem Hauch von Asien zu mischen. Dunkles Holz dominierte. Darin eine exquisite Landschaft von Ledersesseln rund um ein offenes Cheminée. «Haben Sie nicht etwas Grösseres?», fragte Sophie.

«Was meinen Madame mit etwas Grösseres?» Eibisch ging verlegen zu einem der Fenster. «Das ist unsere grösste Suite, die uns bei der Buchung zur Verfügung stand. Die andern sind zurzeit belegt.»

Sophies Blick fiel auf die eingezuckerten Hänge des Gemsstocks, die durch ein Loch in der Nebelwand zu sehen waren, dann auf die Badewanne mitten im Raum. Die Suite war unterteilt und aus edelsten Materialien. Holz und feine Stoffe harmonierten miteinander. «Das war ein Scherz. Sie ist wunderschön. Noch nie habe ich nur annähernd etwas so Exquisites gesehen.» Und sie stellte sich vor, wie sie vor dem Abendessen in der Wanne ein Bad nehmen und ein Glas Champagner trinken würde. Ich bin angekommen, dachte sie und dankte es Georg Evers. Ihre Hand fuhr über die Satinbettwäsche. Hier würde sie sicher gut schlafen können.

Eibisch informierte sie über die Essenszeiten und erklärte ihr den Safe. Als der Butler mit dem Gepäck kam, verabschiedete er sich. Sophie hatte ihn wahrscheinlich ziemlich vor den Kopf gestossen.

DREI

Sie musste eingedöst sein. Als sie die Augen aufschlug, herrschte draussen Dunkelheit. Etwas hatte sie aus dem Schlummern aufgeschreckt. Sophie erhob sich, schritt zum Fenster und sah hinunter auf das Dorf. Wenige Autos auf der Strasse, Leute diskutierten im Lichtkegel einer Laterne, um die feiner Nebel waberte. Ein Elfentanz im Dunkel der beginnenden Nacht. Vielleicht hätte sie Märchenschreiberin werden sollen. Weg vom Krimi, hin zum Mystischen. Phantasie hatte sie genug.

Da war es wieder. Stimmen aus dem Nachbarzimmer. Laut und erregt. Ein Mann und eine Frau, die sich offenbar stritten. Eine Geräuschkulisse, die nicht in dieses Hotel passte. Kamen die Stimmen aus einem Fernsehgerät? Etwas fiel zu Boden. Eine Frau schrie. Das klang nach einer echten Soap. Sophie ging zur Zimmertür und öffnete sie. Der Flur lag ruhig, war in ein angenehmes Licht getaucht. Der dezente Geruch nach einer exotischen Essenz kitzelte ihre Nase. Die Stimmen stammten eindeutig aus dem Zimmer nebenan. Sophie schlich zur Nachbarstür. Sie legte ihr Ohr ans Türblatt. Vielleicht würde sie etwas hören. Aufdecken, worum es bei diesem Streit ging. Stoff für einen neuen Roman? Warum musste sie immerzu daran denken?

Drinnen mussten die Fetzen fliegen. Sollte sie die Hoteldirektion anrufen? Vielleicht würde sie damit einen Mord verhindern. Sie lächelte. Immer sah sie das Allerschlimmste. Doch dann rief sie sich zur Raison. Im Grunde ging es sie nichts an.

Sie wollte wieder in ihre Suite zurückkehren, als die Tür aufging und ein Mann buchstäblich auf den Flur fiel. Eine fauchende Frauenstimme begleitete den Unseligen, bevor die Tür ins Schloss knallte.

«Oh mein Gott!» Sophie hielt die Hand vor den Mund.

Der Gestürzte rappelte sich fluchend auf. Sophie sah ihn nur von hinten. Ihr Blick fiel als Erstes auf die linke Schulter, wo das Tattoo einer Meerjungfrau eingestochen war. Die Flosse reichte bis über den Arm. Er war ein sportlicher, muskulöser Mann, was seine Lage grotesk erscheinen liess. Als er sein Gesicht ihr zuwandte, traf sie fast der Schlag.

«Lorenz! Was zum Teufel …»

Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Und während sie nach Luft schnappte, spielte sich in ihrem Kopf ein Film rückwärts ab. Es war, als würden fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens zurückgespult.

Zurück in die süssen Twenties, wo ihr Leben leicht und voller Träume gewesen war. 1992. George Michael und Elton John hatten sich in ihrer musikalischen Höchstform befunden. «Don’t Let the Sun Go Down on Me» war Sophies Ohrwurm gewesen. Double You – «Please Don’t Go» klang nach.

Sie war trotzdem gegangen.

Es war das Jahr, als Bill Clinton als zweiundvierzigster Präsident der USA gewählt wurde. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte Sophie Andermatt den Rücken bereits abgewandt.

Lorenz! Aus dem damals jungenhaften Gesicht war ein reifes geworden. Mit Spuren gelebten Lebens, von Wind und Wetter gezeichnet. Seine Augen waren dieselben geblieben. Grün und tiefgründig, mit einem Schalk, der auch jetzt, im Angesicht des Malträtierten, seine Wirkung nicht verlor. Im nächsten Augenblick durchlebte Sophie noch einmal jeden Tag in Andermatt. Es konnte unmöglich fünfundzwanzig Jahre her sein.

«Sophia?» Er bekundete mehr Mühe, sie auf Anhieb zu erkennen. «Bist du es, Sophia?»

Sie half ihm auf die Beine. Fünfundzwanzig Jahre wie weggepustet und Lorenz so präsent wie einst. Er hatte etwas Rührseliges an sich, das sie zum Lachen brachte. Er knetete sich den linken Arm und verzog beinahe schmerzvoll das Gesicht. «Dieses Biest.»

«Willst du darüber sprechen?»

«Nicht der Rede wert.» Er stiess Sophie sanft von sich, stellte sich frontal vor ihr auf. «Lass dich anschauen. Du siehst anders aus.»

«Wie meinst du das?»

Er lachte nur. «Deinen Namen hast du auch geändert. Sophie Mars. Marschall war dir wohl zu lang fürs Buchcover.»

«Marschall Mendez … du vergisst, dass ich die Namen beider Elternteile getragen habe.»

«War das die Idee deines Verlegers?» Lorenz tat so, als striche er etwas von seinem Hosenbein.

«Es war tatsächlich die Idee des Verlegers», sagte Sophie und erinnerte sich an Evers, der sie zu dieser Namensanpassung, wie er es nannte, geradezu gezwungen hatte. Vielleicht hatte Gemma dahintergesteckt. Dass Gemma eigentlich Emma und nicht Gemma hiess, war auch auf ihrem Mist gewachsen. Sophie rieb sich den Nacken. «Machst du auch Ferien hier?»

«Weil ich in diesem Zimmer dort war?» Lorenz zeigte angewidert auf die Tür. «Die Dame hat mich eingeladen. Wie du siehst, ist unser Rendez-vous nicht glimpflich verlaufen. Sie hat wohl zu tief ins Glas geguckt. Hätte ich eigentlich merken sollen. Wenn Frauen trinken, werden sie unausstehlich.»

«Und gewalttätig?» Sophie deutete ein Lächeln an.

Lorenz verzog seinen Mund. Er hatte noch immer schöne Lippen. Dunkel, markant, wie gezeichnet. Wie gern hatte sie diese geküsst. Damals. In einem andern Leben, aus dem sie von einem Tag zum andern geflüchtet war. Und aufgewacht.

«Hast du heute Abend schon etwas vor?»

Klar, die Frage musste kommen. War die logische Folgerung. Warum nicht gleich in ihr Zimmer wechseln? Sophie hatte sich vorgenommen, ein Bad zu nehmen, sich Zeit zu lassen, um danach schön essen zu gehen. Aber das wollte sie allein tun. Sie fühlte sich überrumpelt.

«Wir könnten uns um zehn zu einem Schlummertrunk an der Bar treffen», schlug sie vor. Sie liess Lorenz nicht aus den Augen. «Wohnst du noch in Hospental?»

«Nein, in Andermatt … und stell dir vor, ich bin kaum über die Grenzen hinausgekommen, ausser während meiner Ferien.» Lorenz strich sich die Haare aus dem Gesicht, die schon früher viel zu lang gewesen waren. Damals hatten sie auf Sophie einen grossen Reiz ausgeübt. «Karibik, Malediven, Südamerika …» Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. Eine vertraute Geste. «Aber lass uns heute Abend über unsere Vergangenheit reden. Ich sollte mich etwas frisch machen vorher …» Er grinste, und Sophie spürte, wie sie der Zweideutigkeit der Worte wegen errötete.

Der Kuss auf ihre Wange kam dennoch überraschend, was gleich einen ganzen Hitzeschwall in ihr auslöste. Lorenz drehte sich um und ging, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Sophie sah ihm nach. Auf seinen leicht federnden Gang, das Schlingern seiner Arme, das schon früher seine Lässigkeit unterstrichen hatte. Vertraut wie damals und doch so fremd.

Sie kehrte in ihre Suite zurück, liess dort Wasser in die Wanne laufen und legte ein schwarzes Kleid parat. In Ergänzung mit ein wenig Schmuck würde man dem Teil sein Alter nicht ansehen. Vielleicht hätte sie sich doch eine neue Garderobe anschaffen sollen. Doch dazu hatte die Zeit nicht gereicht.

***

Dezente Musik. Helles Gläserklirren. Gedämpfte Stimmen. Und dieses Licht. Sphärisch, hätte sie den Augenblick beschrieben. Irisierend. Sophie liebte den Abend, die Nacht. Je älter sie wurde, umso mehr. Im künstlich erzeugten Dämmerlicht sah sie immer am frischesten aus. Nach dem Essen war sie in ihre Suite zurückgekehrt, um Make-up und Frisur zu prüfen. Der Spiegel hatte ihr ein ebenmässiges Gesicht präsentiert. Entspannt und zufrieden. Das Alter hatte wenig Spuren hinterlassen. Ab und zu brauchte sie diesen Selbstbetrug. Sie hatte die fünfundvierzig überschritten, ohne ein nennenswertes Fest veranstaltet zu haben. Kaum jemand kannte ihren Geburtstag. Von ihren Eltern kam jedes Jahr der obligate Blumenstrauss, und Cosima schickte ihr eine extralange Mail, die sie jedes Mal zu neuer Hoffnung antrieb, dass die Tochter vielleicht doch noch etwas von Mamas Fähigkeiten geerbt hatte.

Sophie fühlte sich jung. Zumindest heute. Unbeschwert und locker, als hätte sie die zwanzig erst erklommen. Als wären weder die Jahre an ihr vorübergezogen noch hätten die Dramen der Vergangenheit ihre Narben zurückgelassen.

Sie sass auf einem schwindelerregend hohen Hocker an der Bar und strich immer wieder ihr Kleid über die Knie, das sich bei jeder Bewegung nach oben verselbstständigte. Vielleicht hätte sie doch das andere, längere Kleid anziehen sollen. Sie sah an der gegenüberliegenden Wand hoch bis zum obersten Gestell, auf dem eine Anzahl Flaschen stand, und überlegte sich, wie der Barmann es schaffte, diese herunterzuholen, als sie abgelenkt wurde.

«Du darfst deine Beine ruhig zeigen.»

Da stand er. Lorenz. Er hatte von seinem Charme nichts eingebüsst und sich richtig schön herausgeputzt. Jeans, weisses Hemd, schwarze Lederjacke und seine Haare mit Gel gebändigt. Im Hintergrund lief ein Blues. Perfekte Stimmung. Sie hätte aus einem ihrer Romane stammen können. Musik vor dem Grauen. Wie im Film. Sophie schüttelte verwirrt den Kopf.

«Ist etwas nicht in Ordnung?» Lorenz schwang sich neben sie auf den Barhocker.

«Nein, ganz im Gegenteil. Ich freue mich sehr, dich hier zu sehen.» Das war nicht gelogen. Er übte abermals eine grosse Faszination auf sie aus.

Lorenz bestellte einen Wodka Tonic mit viel Zitrone. Offensichtlich hatte er noch immer die gleiche Vorliebe wie früher. Und dasselbe Rasierwasser. Sophie schnüffelte amüsiert. An Muskeln hatte er sichtbar zugelegt. Das war ihr bereits auf dem Flur aufgefallen. Da hatte er allerdings seine Bizepse ohne Hemd präsentiert. Und die heraustretenden Adern am Hals stammten bestimmt vom Gewichtheben.

«Machst du Bodybuilding?»

Lorenz lachte. «Das muss an meinen Tätigkeiten liegen. Im Sommer klettere ich, im Winter bin ich Skilehrer», sagte er, worauf Sophie überlegte, ob er täglich in den Felswänden hangelte oder auf den Skiern eine neue Art des Fahrens erfunden hatte, die gleichzeitig seinen Körper stählte.

«Dann hast du deinen Beruf als Schreiner an den Nagel gehängt?»

«So ist es. Ich bin lieber draussen in der freien Natur, wo ich mein eigener Herr und Meister bin.» Lorenz griff nach dem Glas und prostete ihr zu. «Und nun zu dir. Ich habe gelesen, dass du eine berühmte Schriftstellerin bist. Man hört und sieht so einiges in den Medien über dich. Trotzdem konnte ich es heute kaum fassen, dich hier anzutreffen. Zuerst dachte ich, eine Doppelgängerin hätte sich hierher verirrt …» Wenn er lachte, blitzten weisse Zähne auf. Er legte offenbar grossen Wert auf sein Äusseres.

Verdammt! Warum hatte sie diesen Mann vor fünfundzwanzig Jahren verlassen?

«Woran denkst du?» Seine grünen Augen bohrten sich in ihre. Nur Lorenz hatte solche Augen.

«An nichts.»

«Komm schon, ich sehe es dir an.»

Auch da hatte er sich nicht verändert. Fragen, die fast penetrant auf sie wirkten. Wie damals. Sie hatte sie immer beantwortet, bis es ihr zu bunt wurde. Dann hatte er ihr auf einmal gedroht.

Sie verkrampfte sich.

Er hatte ihr mit Selbstmord gedroht, sollte sie ihn verlassen.

Sie hatte ihn verlassen.

Er lebte noch.

Fünfundzwanzig Jahre konnten einen Menschen verändern. Lorenz war unbestritten reifer geworden. Zumindest was seine äussere Erscheinung betraf. Aus seinem dunklen Haar wuchsen ein paar Silbersträhnen. Die hatte er ihr voraus. Machte ihn auf eine eigenwillige Weise attraktiv. Wie es in seinem Innern aussah, wusste Sophie nicht. Die Jahre, in denen sie nichts voneinander gehört hatten, schrumpften auf einmal zusammen in diesem Moment.

«Wer war das vorhin im Zimmer?»

Lorenz hob die Augenbrauen. «Immer noch so neugierig wie früher?»

Es fehlte noch, dass er sie bei ihren Gedanken ertappte. «Ich lebe schliesslich davon», verteidigte sie ihre voreilige Frage. Gleichzeitig wurde sie sich ihrer Schreibblockade bewusst. «Es ist mein Lebenselixier und Antrieb für mein Schreiben. Wer also war diese Frau?»

War es wirklich nur Neugier? Oder hatte sich am Ende so etwas wie Eifersucht bei ihr eingenistet?

«Nichts von Bedeutung und schon gar nicht das, was du denkst», sagte Lorenz.

«So, was denke ich denn?» Sophie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Was fiel ihr eigentlich ein! Da traf sie nach vielen Jahren ihre Jugendliebe wieder, und sie masste sich an, Lorenz über eine Frau auszuhorchen, die vielleicht seine Freundin war. Vor allem aber war es nicht ihre Art, sich so infantil zu benehmen. Beschämt griff sie nach ihrem Champagnerglas. Trinken und nichts mehr sagen. Es würde sonst nichts Gescheites aus ihrem Mund kommen.

Lorenz spielte mit den Eiswürfeln, indem er sie mit einem Strohhalm klimpern liess. Sein Blick verlor sich in der Flüssigkeit. «Sie war einmal meine Schülerin.»

«Aha, Lehrer bist du also auch.» Falsche Feststellung. Sophie trank mit blinzelnden Augen.

«Skilehrer, habe ich es dir nicht gesagt?» Lorenz schien seine Gedanken zu durchforsten. Fragte sich wohl, ob er ihr das wirklich erzählt hatte, und winkte schlussendlich ab. «Gaby ist nicht mein Typ.»

Sophie stellte peinlich berührt das Glas ab. Was war nur in sie gefahren? «Sorry, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Muss wohl am Champagner liegen.»

«Ich hoffe, er hat nicht nur negative Auswirkungen auf den Abend.»

Sophie hob die Brauen und stiess Luft aus. Das hätte er besser nicht gesagt. Machte er sich etwa Hoffnungen? Sie verkniff sich eine Bemerkung. Da sass ein anderer Mann. Das war nicht mehr der Lorenz von früher. Sie spürte es.

Aber er reizte sie. Gerade deswegen.

Der Barmann, Typ Bob Marley mit Rastazöpfchen, beugte sich über den Tresen. Er hielt ein iPhone in Augenhöhe, während er Lorenz musterte. «Heissen Sie zufällig Lorenz Gisler?»

«Sie sind neu hier, nicht wahr? Sonst wüssten Sie, wer ich bin.»

Sophie fand den Spruch völlig daneben. Dieses Imponiergehabe verabscheute sie.

«Ich arbeite erst seit einer Woche an der Bar», sagte der Barmann wenig beeindruckt und reichte auf Lorenz’ überraschtes Nicken das iPhone herüber. «Man verlangt nach Ihnen.»

Lorenz sprang vom Barhocker, als hätte ihn eine Wespe gestochen. Er starrte Sophie an, nachdem er schwer schluckend nach dem iPhone gegriffen hatte. «Ja?» Er lauschte, und immer fahler wurde sein Gesicht. «Zur Tür? Ja … klar. Ich komme.» Er legte die Hand über das iPhone und wandte sich erneut an Sophie. «Du, ich muss mal kurz raus. Bitte lauf nicht weg.» Er gab das iPhone dem Barmann zurück und entfernte sich von ihr.

Sophie sah ihm nach, wie er in Richtung Ausgang schritt. Die Lässigkeit war von ihm gewichen. Da war plötzlich etwas, das sie aus der Vergangenheit kannte. Dieses Geheimnisvolle, Undurchschaubare. Er sah noch einmal zurück, auf eine Art verwirrt, fast ängstlich. Etwas musste geschehen sein, was seine gute Laune von einer auf die andere Sekunde gekippt hatte. Sophie legte ihre Zimmerkarte auf den Tresen und rief Rastaman zu sich. «Können Sie mir bitte den Platz frei halten?»

«Ja, Madame, selbstverständlich.» Er schenkte ihr ein Lächeln.

Sophie hatte Lorenz aus den Augen verloren. Er war rechts der Bar in den schmalen Durchgang getreten, an dessen Anfang prominent eine Kuhglocke hing. Als Sophie den Flur erreichte, hatten die verschlungenen Winkel Lorenz bereits verschluckt. Sie ging den direkten Weg zur Rezeption, vorbei an verschiedenen Tischen und Sofas, auf denen Gäste sich verköstigten. Sie hatte sich den Weg gemerkt, als sie zur Bar gelangt war. Ihr fotografisches Gedächtnis kam ihr zu Hilfe. Das Erdgeschoss im «Chedi» wirkte auf sie wie ein Irrgarten.

Lorenz befand sich nicht an der Rezeption, wo Sophie ihn vermutet hatte. Sie vernahm laute Stimmen auf dem Vorplatz. Sie schlich auf den Ausgang zu, stellte sich an den Rand der Tür und erspähte auf der gegenüberliegenden Parkplatzseite einen dunklen Wagen, der mit den Bäumen dahinter zu verschmelzen schien. Lorenz lehnte an der Hecktür. Seine Haltung signalisierte Unterwürfigkeit. Zwei Typen redeten gestikulierend auf ihn ein. Einer von ihnen schlug plötzlich zu. Seine Faust musste ihn mit voller Wucht getroffen haben, denn Lorenz griff sich augenblicklich an den Bauch. Dann noch ein Schlag. Diesmal tiefer. Sophie hörte Lorenz aufstöhnen.

Erschrocken und dabei ertappt, gerade Zeugin einer unzimperlichen Tat gegen Lorenz geworden zu sein, wandte sie sich zum Hotelinnern um. Niemand schien von der Schlägerei draussen Kenntnis genommen zu haben. Sophie ging die verschlungenen Wege zurück zur Bar. Ihre Beine fühlten sich wie Pudding an. Sie liess die Getränke auf ihr Zimmerarrangement schreiben – auch Lorenz’. Dieser würde mit Sicherheit nicht mehr auftauchen.

War sie zu feige gewesen?

Nein, das ging sie nichts an. Was immer Lorenz mit den Typen am Laufen hatte. Es war nicht ihr Problem. Sie hatte ihn seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Das gehörte nicht in ihr Leben. Ihre anfängliche Euphorie, dass wieder etwas zwischen ihnen entstehen könnte, verebbte und machte einer grossen Leere Platz.

Trotzdem ging Sophie in dieser Nacht mit gemischten Gefühlen schlafen. Das Wiedersehen mit Lorenz wollte keine positiven Spuren hinterlassen, wie sie es zuerst vermutet hatte. Auf eine Art bestätigte es ihr nur, dass sie damals richtig gehandelt und einen triftigen Grund gefunden hatte, ihn zu verlassen.

Vor 41 Jahren

Wir hatten ein Haus im Tessin, am Ufer des Lago Maggiore. Mamma sagte immer, auf der falschen Seite des Sees. Im Sommer erreichte die Sonne unseren Garten erst um die Mittagszeit, dafür brannte sie am Abend umso intensiver. Vielleicht war die Sonne an allem schuld. An diesem Leben und wie es sich entwickelte.

Als mir zum ersten Mal bewusst wurde, wie sehr Mamma mich ablehnte, war ich sechs Jahre alt und besuchte die erste Klasse. Am ersten Schultag war ich das einzige Kind gewesen, das von seinem Vater begleitet wurde. Die andern hatten entweder die Mutter oder die Mutter und den Vater dabei. Meine Mamma hatte gefehlt, wie oft in dieser Zeit.

Eigentlich wie immer.