Für Vasso, Samis und Fivos

Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.

(Genesis, 1. Buch Mose 1,3)

1

»Das Leben im Grabe, in dem du liegst, o Christus …«

Die Karfreitagsprozession hält am Parlament, kurz vor der Othonos-Straße an. Das Triumvirat der Priester wird von vier Gläubigen begleitet, die den Epitaphios tragen – eine blumengeschmückte Bahre mit einem Stoff‌tuch, das mit der Ikonendarstellung der »Totenklage am Grab« bestickt ist. Auf den Bürgersteigen des Vasilissis-Amalias-Boulevards, sowohl vor dem Denkmal des Unbekannten Soldaten als auch vor dem Abgang zur Metro-Station Syntagma-Platz auf der Seite des Hotels Grande Bretagne, stehen die Gläubigen dicht gedrängt. Die Menschenmenge verfolgt, mit brennenden Kerzen in der Hand, andächtig die Epitaphios-Umzüge der umliegenden Kirchengemeinden. Einige singen den Text der Karfreitagshymnen leise mit.

Am anderen Ende des Syntagma-Platzes ist das Gehupe der Autos bis in die Filellinon-Straße hinein ohrenbetäubend.

»Was ist denn in die Leute gefahren?«, beschwert sich Adriani. »Heute wird doch nicht gefeiert, sondern getrauert. Was soll der Krach?«

»Gehupe ist unisex, es passt immer«, antworte ich, worauf sie mir einen strafenden Blick zuwirft.

Wir sind ganz allein in der Stadt zurückgeblieben, denn Katerina und Fanis sind nach Volos gefahren, um mit Fanis’ Eltern Ostern zu feiern.

So trieb uns die Einsamkeit, aber auch der Wunsch, die Karfreitagsmesse zu besuchen, aus der Wohnung. Ich schlug die nahegelegene Himmelfahrtskirche oder die Lazarus-Kirche vor, doch Adriani bestand darauf, nach vielen Jahren wieder einmal die Epitaphios-Umzüge am Syntagma-Platz zu besuchen. So schlossen wir uns gleich der ersten Prozession an, die in der Katerinenkirche in der Plaka endet.

Es ist ein milder Maiabend, und die Gläubigen, die sich vor der Kirche versammelt haben, hören die Messe über die Lautsprecher und schwatzen miteinander. Andächtig zugehört wird nur im Inneren der Kirche.

Adriani ist jedoch voll auf die Messe konzentriert und singt leise mit. Ich beuge mich zu ihr hinüber, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit zum Abendessen ist. Da in Griechenland die Karfreitagsmesse immer in Tavernen und Restaurants endet, sollten auch wir uns an die Tradition halten. Doch sie legt den Finger an die Lippen und zischt mir ein »Pssst!« entgegen, bevor ich überhaupt den Mund aufmachen kann.

So schlucke ich meinen Vorschlag und auch mein Hungergefühl hinunter. Adriani hat mich während der vierzigtägigen Fastenzeit vor Ostern mit frugaler Küche regelrecht ausgehungert. Normalerweise beschränkt sich das strenge Fasten auf die Karwoche, doch in diesem Jahr verkündete sie, wir würden die ganzen vierzig Tage lang Diät halten. Als ich nach dem Grund fragte, erwähnte sie irgendein Gelübde, ohne es jedoch näher zu erläutern. Als einzige Übertretung der strengen Fastenregeln gestattete sie mir, meine Portion mit Öl zu essen, wohingegen sie mittwochs und freitags nur in Wasser gekochtes Gemüse aß.

Knapp vor Ende der Messe gibt sie jedoch nach. »Komm, lass uns gehen, bevor alle Tische in den Tavernen besetzt sind.«

Sie dirigiert mich ins Platanos, wo man laut Adriani nach einem Besuch der Kirchenprozessionen im Zentrum nach althergebrachter Weise essen geht.

Sie liegt mit ihrer Einschätzung mal wieder goldrichtig: Kaum haben wir an einem der Restauranttische am Zugang zum Innenhof Platz genommen, stürmen auch schon andere Prozessionsteilnehmer gestikulierend und fröhlich palavernd zu den Tischen.

Ich überlasse Adriani die Auswahl des Menüs, und sie bestellt Riesenbohnen, mit Spinat gefüllte Sepia, in Essig eingelegten Oktopus und frittierte Tintenfischringe. Sie besteht darauf, dass wir Retsina trinken, da es die Karfreitagstradition so will, und ich fühle mich ganz in die sechziger Jahre zurückversetzt.

»Heute kommst du nicht darum herum, in Öl gekochte Speisen zu essen«, necke ich sie.

Eins muss ich zugeben: Ich freue mich darüber, dass wir zu zweit auswärts essen gehen. In den letzten Jahren fand das Abendessen immer zu Hause im Familienkreis statt – mit Katerina und Fanis, des Öf‌teren mit Katerinas Kollegin Mania und ihrem Lebensgefährten Uli. Nicht selten stießen auch die Schwiegereltern aus Volos dazu.

Die Krise hatte zwar die Familie zusammengeschweißt, aber wir beide hatten eigentlich kein Eheleben mehr. Unsere gemeinsamen Abende vor dem Fernseher, wo Adriani ihre Sendungen verfolgte und empörte Kommentare abgab und ich im Dimitrakos-Lexikon schmökerte, kamen zu kurz. Kann sein, dass wir dabei nicht viel miteinander reden. Aber angesichts der lebhaften Tischgespräche im erweiterten Familienkreis habe ich unsere schweigsamen Abende zu zweit doch ziemlich vermisst. Daher hebt unser heutiger gemeinsamer Lokalbesuch meine Laune erheblich.

»Nach der Karfreitagsmesse isst man immer Ölgerichte. Also breche ich mein Fasten nicht«, antwortet Adriani.

»Willst du mir nicht verraten, was für ein Gelübde du abgelegt hast?«, frage ich sie mit einem Lächeln, um eventuellen abwehrenden Reaktionen vorzubeugen. Ich merke, dass es ihr nicht leichtfällt, darüber zu sprechen, doch schließlich löst sich ihre Zunge.

»Ich habe der heiligen Jungfrau gelobt, vierzig Tage zu fasten, damit sie uns von der Krise erlöst«, sagt sie. Sie zögert kurz, um zu sehen, ob ich vielleicht etwas dagegen einzuwenden habe, aber ich halte mich zurück, da ich merke, dass sie weiterreden will.

»Speziell im letzten Jahr, Kostas, war ich am Ende meines Lateins«, gesteht sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich wusste nicht mehr weiter. Der tägliche morgendliche Einkauf war eine schreckliche Sache. Das Geld hat hinten und vorne nicht gereicht. Ihr würdet euch wundern, wie oft ihr Reste vom Vortag gegessen habt.«

»Das hat jedenfalls keiner gemerkt«, versichere ich ihr.

»Kann sein, aber für mich war es ein Alptraum. Wäre das rausgekommen, wären Katerina und Fanis doch bestimmt nicht mehr zum Essen gekommen! Als ich eines Tages wieder ein Resteessen zubereitete, sagte ich mir: ›Heilige Muttergottes, erlöse uns von dieser Krise, und ich verspreche, die ganzen vierzig Tage vor Ostern zu fasten.‹«

»Schön, du hast ein Gelübde abgelegt. Aber warum soll auch ich den Kopf dafür hinhalten?«

Sie blickt mich mit einem pfiffigen Lächeln an. »Ich dachte, die Gnadenreiche wird es mir doppelt lohnen, wenn ich auch meinen Mann auf den Weg der Tugend und des Glaubens führe.«

Wir brechen beide in Lachen aus, dann blicke ich mich um. Alle Tische sind mit größeren Gruppen besetzt. Zwei Kellner laufen schwitzend mit ihren Tabletts hin und her, um die Kundschaft zu bedienen.

»Alles ist genau so wie früher«, denke ich mir.

In der Gasse, die zu dem kleinen Platz hinführt, stehen ein Mercedes und zwei Jeeps, ein Cherokee und ein Honda. Die Leute, die auf den Platz wollen, müssen sich an den Autos vorbeidrängeln.

Wir sind gerade beim Essen, als Koula und Papadakis Hand in Hand auf den Platz treten. Auch Adriani sind die beiden nicht entgangen, und sie wirft mir einen fragenden Blick zu.

»Alles Gute und frohe Ostern!«, rufe ich den beiden zu.

Als sie uns erkennen, bleiben sie wie ertappt stehen und lassen gleich mal ihre Hände los. Offensichtlich haben wir sie in große Verlegenheit gebracht.

»Kommt, setzt euch zu uns«, sage ich herzlich, obwohl diese Einladung ihren Preis hat, denn unser eheliches Tête-à-tête findet dadurch ein Ende.

Die beiden verständigen sich ohne Worte und nur durch Blicke auf eine gemeinsame Reaktion. Schließlich macht Koula den ersten Schritt auf uns zu, und Papadakis schließt sich an.

»Wir wollen Sie aber nicht stören«, meint Koula, als sie unseren Tisch erreicht.

»Stören? Aber wieso denn? Doch nicht an so einem Festtag!«, erwidert Adriani an meiner Stelle.

Schließlich versuchen sie, nachdem wir sie in flagranti ertappt haben, das Beste aus der Situation zu machen, und nehmen Platz. Dann folgt die Vorstellungsrunde, denn Adriani kennt nur Koula, Papadakis sieht sie zum ersten Mal.

Selbst als wir gelbes Platterbsenpüree und Artischocken auf Konstantinopler Art bestellt haben, hat das Pärchen seine Verlegenheit immer noch nicht überwunden. Papadakis starrt auf seinen Teller, während Koula sich mit Adriani unterhält und mich geflissentlich zu übersehen versucht.

»Hört mal, ihr seid weder die Ersten noch die Letzten, die auf der Arbeit ihre Liebe finden«, sage ich. »Ihr habt ja keine diesbezügliche Verpflichtungserklärung unterschrieben, und die anderen Kollegen auch nicht. Euer Privatleben geht niemanden etwas an, solange es nicht in Konflikt mit den dienstlichen Aufgaben gerät. Dass ich bis jetzt nichts davon gemerkt habe, bestätigt nur, dass alles in Ordnung ist.«

»Das fehlte noch, dass die Liebe an der Arbeit scheitert!«, lautet Adrianis philosophisches Statement.

Papadakis lacht erleichtert auf. »Auf der Dienststelle konnte man unmöglich etwas merken, Herr Kommissar. Koula hat mir vom ersten Moment an klare Vorgaben gemacht. Nicht mal dienstlich darf ich mich ihr dort nähern.«

»Wissen Sie, was meine Kollegen gesagt hätten: ›Jetzt hat sie Papadakis eingewickelt!‹ Ich möchte aber hinter meinem Rücken keine dummen Männersprüche hören.«

»Ja, aber lange können wir es nicht mehr geheim halten. Wir wollen nämlich heiraten!«, verkündet Papadakis. »Während der Krise haben wir uns nicht getraut, eine Familie zu gründen. Aber jetzt, da es aufwärtsgeht, gibt es keinen Grund mehr, die Hochzeit aufzuschieben.«

»Ja, aber dann muss einer von euch an eine andere Dienststelle versetzt werden. Da stehe ich vor einem ganz schönen Dilemma!«, antworte ich lachend.

»Ganz und gar nicht, denn ich werde meine Versetzung beantragen. Koula bleibt bei Ihnen! Sie war ja schon vor mir da, außerdem möchte ich nicht, dass sie meinetwegen die Stelle wechseln muss.«

»Es bleibt trotzdem ein Dilemma für mich, denn ich will Sie ja auch nicht verlieren.«

Papadakis wendet sich mit einem befriedigten Lächeln an Adriani. »Anfänglich war ich Ihrem Mann etwas suspekt«, erläutert er. »Aber bald konnte ich seine Zweifel ausräumen.«

»So reagiert er immer«, erwidert Adriani. »Harte Schale, weicher Kern.«

Ihre Bemerkung ruft allgemeine Heiterkeit hervor. Koula beugt sich spontan zu Adriani hinüber und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Wenn Ihr Mann uns zu hart rannimmt, sage ich Bescheid«, meint sie.

»Na, dann auf baldige Hochzeit!«, sagt Adriani, und alle stürzen sich gierig auf die leckeren Häppchen.

2

Wann hat der Weihnachtsmann bloß all die Geschenke gebracht? Und woher? Das bleibt unklar, aber es interessiert auch keinen. Hauptsache, alles ist so wie früher, BMWs und Mercedes rollen wieder, man geht jeden Abend aus und gönnt sich ab und zu einen Wochenendtrip.

Alles kam, im wahrsten Sinn des Wortes, aus dem Nichts, oder anders gesagt, über Nacht. Während sich die Griechen gerade auf die Rückkehr zur Drachme vorbereiteten und Adriani sich fragte, ob sie in weiser Voraussicht nicht lieber Vorräte anlegen sollte, war eines Tages ganz Athen mit Plakaten zugeklebt, auf denen die Buchstaben W.W.W. prangten. Darunter stand nur eine kleine Frage: »Was wäre, wenn?«

Es folgten Radio- und TV-Werbespots mit derselben Abkürzung und derselben Frage, ohne weitere Erklärung. Die Griechen fragten sich, was das zu bedeuten habe und wer wohl hinter der Kampagne stecke. Jeder gab lang und breit seine Meinung zum Besten, die Interpretationen reichten von »Quizfrage« bis »Verschwörung ausländischer Mächte«. Keiner konnte sich vorstellen, dass sich eine politische Partei dahinter verbarg. Adriani war felsenfest davon überzeugt, dass es sich um eine PR-Aktion handelte, die das beworbene Produkt erst nach und nach enthüllte. Die Medien schworen Stein und Bein, sie wüssten von nichts. Die Reklamespots würden ihnen von einer PR-Agentur zugeschickt, die sich nicht weiter dazu äußere.

Die Verwunderung war groß, als herauskam, was die Abkürzung W.W.W. bedeutete: Partei für Werte, Wirtschaft und Wohlstand. Darunter stand zum ersten Mal im vollen Wortlaut die Frage: »Was wäre, wenn wir es schaffen? Gebt uns drei Monate Zeit. Schaffen wir es nicht, treten wir ab.« Keiner nahm die Sache ernst, alle hielten es für eine Spaßpartei. Von den Stammtischen bis zu den TV-Morgenmagazinen machten sich alle über W.W.W. lustig, obwohl niemand wusste, wer dahinterstand, da sich die Initianten nicht outeten und sich somit Spott und Hohn entzogen.

Nach einem Monat fand endlich eine erste Pressekonferenz statt. Eine Gruppe von vierzigjährigen Politikern trat vor die Kameras und verkündete die Gründung einer neuen Partei: W.W.W. sei nicht, wie sonst üblich, aus der Abspaltung von einer alten Partei entstanden, sondern es handele sich um einen überparteilichen Zusammenschluss. Die Mittvierziger waren aus ihren Parteien ausgetreten, um einen Neuanfang zu wagen. In der Gründungserklärung hielten sie fest, dass sie alte, obsolet gewordene ideologische Differenzen überbrücken und das Land durch eine gemeinsame Initiative aus der wirtschaftlichen Talsohle führen wollten. Die Mitglieder der neuen Partei waren keine Parlamentarier, sondern es handelte sich um Funktionäre, die vom Intrigenzirkus der politischen Parteien die Schnauze voll hatten.

W.W.W. wartete mit keinem Programm auf, legte sich auf nichts fest und machte keine Versprechungen. Die Parteileitung beschränkte sich auf die Frage »Was wäre, wenn?«, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Und ihre Antwort lautete stets: »Gebt uns drei Monate Zeit. Schaffen wir es nicht, treten wir ab.«

Naturgemäß fielen alle übrigen Parteien über W.W.W. und ihre Mitglieder her. Die Medien mokierten sich lauthals über die Initiative, da sie sie nicht ernst nahmen. Doch die Mittvierziger von W.W.W. erwiesen sich als klüger und besser vorbereitet als ihre Gegner und die Medienmeute.

Wenn ein TV-Journalist mit süffisanter Miene fragte: »Nun, wie gedenken Sie, ohne Wahlprogramm die Wahlen zu gewinnen? Sollten die Bürger nicht wissen, welche Ziele Sie haben?«, brachten sie immer das gleiche entwaffnende Argument vor: »Bis jetzt haben die Bürger ein Wahlprogramm gewählt, das dann gar nicht umgesetzt wurde. Ist es nicht besser, keine Versprechen zu machen, wenn sie nach der Wahl ohnehin nicht eingehalten werden? Ist es nicht besser, wenn der Wähler einer Gruppe junger Politiker sein Vertrauen schenkt, die keiner alten Partei und keiner Ideologie anhängt? Wir schlagen den griechischen Bürgern eine Regierung der nationalen Einheit vor, die sich bereits vor den Wahlen konstituiert hat.«

Damit gebe es nach den Wahlen auch keine zermürbenden Koalitionsverhandlungen, die sich bis zum Jahre Schnee hinzögen.

Und so fand die Frage der W.W.W. »Was wäre, wenn wir es schaffen?« die logische Antwort: »Mit einer Regierung der nationalen Einheit schaffen wir es.« In einem Land, in dem sich alle ständig gegenseitig an die Gurgel springen, glaubte man plötzlich, dass alles möglich ist, wenn nur alle an einem Strick ziehen. Die süße Pille einer Regierung der nationalen Einheit wurde geschluckt: Die W.W.W. gewann die absolute Mehrheit, und die übrigen Parteien rauf‌ten sich die Haare – aber jetzt war es zu spät.

Erwartungsgemäß lauerten alle – die anderen Parteien, deren Wähler sowie die eigenen Gefolgsleute – mit dem Gewehr im Anschlag. Alle waren sicher, dass die W.W.W. ihre eigenen Vorgaben nicht umsetzen würde. Schließlich gehörte die Taktik »Das eine sagen und das andere meinen« zum Grundrepertoire der griechischen Parteien.

Doch die W.W.W. wurde vom Saulus zum Paulus: Plötzlich begann im Land Geld zu fließen, dessen größter Teil aus Privatisierungen stammte, welche die Regierung mit einzigartigem Tempo und verkürzten Verfahren vorantrieb.

Die übrigen Parteien fühlten sich dadurch in die Enge getrieben und schrien: »Sie verscherbeln das Tafelsilber! Das staatliche Eigentum kommt unter den Hammer!« Die W.W.W. erwiderte darauf mit der Stimme der kühlen Vernunft: »Wenn man Schulden und kein Geld mehr hat, dann verkauft man sein Haus, um sie zu bezahlen. Das tun alle Hausbesitzer, so schwer es auch fällt.«

Doch dabei blieb es nicht. Die W.W.W. gründete einen Fonds zur Förderung von Unternehmen, die jungen Menschen Jobs anboten. Gleichzeitig setzten sie in Zusammenarbeit mit dem privaten Versicherungssektor die Reformierung der Sozialversicherung in Gang.

Es passierte genau das, was niemand erwartet hatte. Es zirkulierte wieder Geld auf dem Markt, die Arbeitslosigkeit sank schrittweise, und die Bevölkerung war zufrieden – nicht, weil sie mehr Geld verdiente, sondern weil sie das Wenige, das sie hatte, nicht auch noch verlor. Innerhalb weniger Wochen hatten sich die Griechen selbst aus dem Sumpf gezogen. Verkehrsstaus, begleitet von Gehupe und Geschimpfe, waren wieder an der Tagesordnung, und die Autohändler konnten endlich wieder ihre neuen Modelle unter die Leute bringen.

Dieser Wandel hatte, wie von der W.W.W. versprochen, nur drei Monate beansprucht. Normalerweise verbindet man in Griechenland so einen Zeitraum mit Totengedenktagen, Seelenmessen und der traditionellen Totenspeise nach dem Ableben eines Verwandten oder Bekannten, aber diesmal wurde Hochzeitskonfekt verteilt für die gelungene Vermählung mit der W.W.W.

Das alles geht mir durch den Kopf, während ich auf Adriani warte, um zur Auferstehungsfeier aufzubrechen. Wir haben uns für eine Kirche in unserem Viertel entschieden, um nicht wieder, wie am Karfreitag, ins Zentrum pilgern zu müssen. Denn das wäre an so einem Tag das reinste Martyrium und würde deshalb besser zum Karfreitag passen.

Adriani bringt die Osterkerzen, und wir machen uns zu Fuß auf den Weg. Vor der Kirche erwarten uns Mania und Uli, die am Kardienstag aus Deutschland zurückgekehrt sind, wo sie mit Ulis Eltern Ostern gefeiert haben. Beide halten Osterkerzen in der Hand und begrüßen uns mit einem Lächeln.

»Haben Sie schon die Ostersuppe vorbereitet, Frau Adriani?«, fragt Uli. Er spricht schon ganz passabel Griechisch, auch wenn er immer wieder eigenwillige Redewendungen kreiert.

»Keine Sorge, Uli!«, beruhigt ihn Adriani. »Ostersuppe und gefärbte Eier stehen parat.«

»Wann zünden wir die Kerze an?«, fragt Uli.

»Erstens ist das keine gewöhnliche Kerze, sondern die ›Lambada‹, die Osterkerze. Und zweitens bist du mittlerweile schlimmer als ein Grieche. Wenn du könntest, würdest du zuerst die Ostersuppe essen und dann zur Auferstehungsfeier gehen«, schilt Mania und sagt dann zu Adriani: »Wissen Sie, dass wir seit Mittwoch fasten, Frau Adriani? Uli wollte es so!«

»Bravo, mein Junge!«, reagiert Adriani begeistert. »Hast du die Hülsenfrüchte auch gut vertragen?«

»Ja, wunderbar.«

»Die haben ja nicht einmal mir geschadet, obwohl ich die ganzen vierzig Tage fasten musste«, werfe ich, halb im Ernst und halb im Scherz, ein.

»Sie haben die komplette Fastenzeit durchgehalten?«, staunt Mania.

»Ich habe ein Gelübde abgelegt«, erläutert Adriani, aber sie kann nicht näher darauf eingehen, da der Priester »Kommt und empfangt das Licht!« singt und den Gläubigen das heilige Licht weiterreicht.

Uli wirft sich sofort in die Menge, und innerhalb kürzester Zeit gelingt es ihm, seine Osterkerze anzuzünden.

»Bravo, Mania«, meint Adriani bewundernd. »Du hast ihn zu einem richtigen Griechen gemacht.«

»Wie lautet noch das Sprichwort für Eheleute, Frau Adriani?«, erwidert Mania vergnügt. »›Besser ein Schuh aus der Heimat, auch wenn er geflickt ist.‹ Uli ist zwar nicht aus meiner Heimat, aber ich habe ihn geflickt.«

Auf dem Nachhauseweg schallt uns überall der Gruß »Christus ist auferstanden« entgegen.

Adriani läuft, sekundiert von Mania, sofort in die Küche. Als Uli und ich im Wohnzimmer Platz nehmen, klingelt das Telefon. Katerina, Fanis und die Schwiegereltern sind am Apparat, die uns allen reihum frohe Ostern wünschen.

Nach dem Telefonat verschwindet Adriani wieder in der Küche. Kurz darauf kommt sie zurück, um die Ostersuppe zu servieren, gefolgt von Mania, die den Salat und die rot gefärbten Eier bringt. Beim »Eiertitschen« gewinnt Adriani gegen mich und Uli gegen Mania.

»Ein Deutscher, wie er im Buche steht«, scherzt Mania. »Er gewinnt immer.«

»Wissen Sie, was Griechen und Deutsche im Hinblick auf die Religion unterscheidet?«, fragt Uli mich.

»Hm … dass die einen orthodox sind und die anderen katholisch oder evangelisch?«

»Ihr seid orthodox, also Teil des Orients. Wir sind Teil des Abendlandes und nehmen alles immer sehr ernst. In der Kirche müssen wir still sein und den Kopf senken. Ihr hingegen findet sogar einen Grund zum Feiern, wenn Jesus Christus zu Grabe getragen wird. Das gefällt mir. Denn es ist scheinheilig, einen Feiertag, dessen Ausgangspunkt so viele Jahre zurückliegt, in gedrückter Stimmung zu begehen. Ihr aber freut euch rückhaltlos am Fest.«

Adriani hat recht, er ist ganz zum Griechen mutiert, denke ich mir, während Uli voller Appetit die Ostersuppe löffelt.

3

Es ist wie in den guten alten Zeiten. Der nachösterliche Verkehr geriet zu einem absoluten Chaos. Die Rückkehrer von der Peloponnes standen ebenso wie die aus Lamia in kilometerlangen Staus, und entlang der Autobahn gab es hef‌tige Auseinandersetzungen, gefolgt von den üblichen Klagen über das Fehlen eines starken Staates. Die Bilanz war eine Reihe von Autounfällen mit zwei Todesopfern und acht Schwerverletzten.

»Hüte dich vor dem Faulen, der plötzlich fleißig wird. Und hüte dich vor dem Griechen, der plötzlich zu Geld kommt«, kommentierte Adriani. »Sobald er ein paar Euro in der Tasche hat, fährt er schon aufs Land und liegt am Strand. Der nächste Schritt ist der Bau einer Villa und eines Wochenendhauses.«

Sie hatte sich schon früh vor den Fernseher gesetzt, um die Meldungen über den Rückreiseverkehr haarklein zu verfolgen – aus Angst, Katerina und Fanis könnte auf der Fahrt von Volos nach Athen etwas zustoßen. Alle naselang rief sie an, um nachzufragen, ob alles glattlief. Wie üblich ging das Katerina irgendwann auf den Keks, und sie schimpf‌te:

»Mama! Rufst du an, um uns mitzuteilen, dass uns einer von Papas Polizeihubschraubern aus dem Stau holt? Wenn nicht, dann lass uns einfach in Ruhe nach Hause fahren. Morgen muss ich früh raus, und ich weiß nicht, wie lange wir noch brauchen.«

Nach Katerinas Reaktion verzichtete Adriani auf eine weitere Verfolgung der Geschehnisse im Straßenverkehr und ging ins Bett.

»Denk an meine Worte: Wir werden uns bald nach der Krise zurücksehnen!«, lautete ihr letzter Spruch, bevor sie sich zurückzog.

Ich selbst blieb wach, bis mich um drei Uhr morgens Katerinas Anruf erlöste, dass sie gut angekommen seien. Das ist der Unterschied zwischen Adriani und mir. Wenn sie sich Sorgen macht, nervt sie die anderen, ruft alle fünf Minuten an und macht sich lautstark Luft, um ihre Angst loszuwerden. Ich hingegen halte den Mund und fresse sie in mich hinein.

 

Heute ist Osterdienstag, und ich bin mit dem Seat zur Dienststelle unterwegs. Adriani bat mich, doch weiterhin den Bus zu nehmen, da wir noch keine Gehaltserhöhung bekommen hätten. Aber ich habe nicht auf sie gehört und den Seat, der in der Garage des Präsidiums auf bessere Zeiten wartete, frühzeitig reaktiviert.

Den ersten Zwischenstopp mache ich in der Cafeteria, um mir meinen Mokka und mein Croissant zu holen, und den zweiten im Büro meiner Assistenten, um allen frohe Ostern zu wünschen. Als ich eintrete, erzählen sie sich gerade gegenseitig von ihren Osterferien.

»Wieso hat es dich als Kreter eigentlich nach Kavala verschlagen?«, will Papadakis von Dermitsakis wissen.

»Meine Mutter stammt von dort. Mein Vater hat sie als junger Leutnant während seines Militärdienstes kennengelernt und sich in sie verliebt. Meine Mutter ist dann zwar nach Kreta gezogen, aber die ganze Familie trifft sich zu Ostern immer in Kavala, um gemeinsam zu feiern«, erklärt Dermitsakis und wendet sich dann an mich: »Und wo haben Sie Ostern verbracht, Herr Kommissar?«

»Zu Hause in der Aristokleous-Straße. Meine Tochter ist mit ihrem Mann zu den Schwiegereltern gefahren. Wir sollten zwar mitkommen, haben uns dann aber für ein geruhsames Fest entschieden.«

»Ich bin auch in Athen geblieben«, erzählt Koula. »Ich verstehe nicht, warum alle so scharf darauf sind wegzufahren. Es ist herrlich, Ostern hier zu verbringen.«

»Ich jedenfalls war in Chania«, meint Papadakis, wobei er mir einen verschwörerischen Blick zuwirft.

Um nicht mitspielen zu müssen, gehe ich nicht weiter darauf ein und wende mich an Vlassopoulos: »Und du?«

»Ich war bei meinen Kindern auf Euböa. Wir haben eine Inselrundfahrt gemacht und Wanderungen unternommen. Am Karfreitag haben wir gleich mehrere Prozessionen besucht und sind fast jeden Tag auswärts essen gegangen.«

»Jahrelang hast du nur gejammert. Wo hast du jetzt das ganze Geld her? Wir haben doch noch gar keine Gehaltserhöhung bekommen«, stichelt Dermitsakis.

»Der Tiefpunkt ist überwunden, bestimmt kommt auch bald die Gehaltserhöhung«, erwidert Vlassopoulos im Brustton der Überzeugung.

»Die Fische schwimmen noch im Meer, und wir verkaufen sie schon!«, bemerkt Koula.

»Jetzt mach uns nicht gleich am ersten Arbeitstag alles wieder madig! Wir sind auf einem guten Weg. Hör auf mit der Schwarzmalerei!«

Bevor Koula etwas entgegnen kann, läutet das Telefon, und sie nimmt ab. »Der Kriminaldirektor will Sie sprechen.«

Ich wäre ohnehin zu ihm hochgegangen, um ihm den Ostergruß »Christus ist auferstanden« zu überbringen. So lautet das ungeschriebene Gesetz. Der Untergebene geht zum Vorgesetzten, um ihm alles Gute zu wünschen. Nur ich lasse es zu, dass mein Chef mir zuvorkommt. Deshalb gelange ich wahrscheinlich auch auf keinen grünen Zweig.

In der fünf‌ten Etage angekommen, begrüße ich zunächst einmal Gikas’ Sekretärin Stella mit meinen Osterwünschen. Er selbst sitzt bei meinem Eintreten am Schreibtisch, erhebt sich aber sofort, um meine Wünsche entgegenzunehmen und mit dem traditionellen »Wahrhaftig auferstanden« zu antworten.

»Behalten Sie noch einen Wunsch in Reserve für unseren neuen Vizepolizeipräsidenten«, meint er.

»Haben wir denn einen neuen?«, wundere ich mich.

»Ja, heute Morgen ist mir die of‌fizielle Ernennungsurkunde zugestellt worden. Die muss der Innenminister am Ostermontag bei sich zu Hause vorbereitet haben.«

Er nimmt das Papier von seinem Schreibtisch und überreicht es mir. Nachdem ich es kurz überflogen habe, bin ich im Bilde: Der neue Vize heißt Kanellos Dimitriadis und wird für alle nationalen Sicherheitsfragen zuständig sein.

»Dann machen Sie sich mal gleich auf das erste Treffen gefasst«, sagt er, sobald ich den Blick von dem Dekret hebe. »Der Minister erwartet uns um elf in seinem Büro.«

Auf den Athener Straßen, die wir in Gikas’ Wagen entlangfahren, tröpfelt der Verkehr so ruhig dahin wie am Ostermontag. Vom Alexandras-Boulevard bis zur Katechaki-Straße brauchen wir gerade mal zehn Minuten.

An der Pförtnerloge schickt man uns in den großen Saal, wo das Meeting stattfinden soll. Dort haben sich Kriminaldirektoren und Inspektoren aus ganz Griechenland sowie Kollegen aus verschiedenen Mordkommissionen versammelt. Einige kenne ich persönlich, andere nur dem Namen nach, und ein paar sehe ich zum ersten Mal.

Wir versuchen, durch regen Informationsaustausch das Profil des neuen Vizepolizeipräsidenten zu erstellen. Jeder trägt sein Scherf‌lein dazu bei. Einige kennen ihn noch aus der Zeit, als er Verbindungsof‌fizier zu Interpol und in der Folge zu Europol war. Dann sei er von der Bildfläche verschwunden. Doch irgendjemand erklärt sein plötzliches Verschwinden mit einer Versetzung nach Italien, was sich kurz darauf als richtig erweist.

Das Gespräch erstirbt schlagartig, als der Minister in Begleitung von Dimitriadis erscheint. In Erwartung der einführenden Worte des Ministers macht sich Schweigen breit.

»Ich habe Sie eingeladen, um Ihnen den neuen zweiten Mann der griechischen Polizei vorzustellen«, beginnt der Minister. »Kanellos Dimitriadis ist ein außerordentlich fähiger Führungsof‌fizier mit großer Erfahrung auf dem internationalen Parkett. Er hat in den griechischen Abteilungen von Interpol und Europol gedient, sein letzter Posten war in Rom als Verbindungsof‌fizier zur italienischen Polizei, wo er für Themen zuständig war, die Flüchtlingsfragen und die Anwendung des Schengener Abkommens betreffen. Kanellos Dimitriadis’ internationale Erfahrung ist in Zeiten der globalisierten Kriminalität besonders wertvoll. Daher bin ich überzeugt, dass seine Berufung auf diesen Posten die richtige Entscheidung ist. Ich hoffe, dass Sie alle mit der neuen Führungsriege der griechischen Polizei in diesen schwierigen Zeiten ef‌fizient und reibungslos kooperieren werden.«

Am Schluss seiner Rede ruft er Dimitriadis zum Rednerpult.

»Liebe Kollegen, ich freue mich ganz besonders, dass ich ab sofort mit Ihnen zusammenarbeiten darf«, beginnt der frisch ernannte Vizepolizeipräsident recht förmlich. »Wir haben uns fest vorgenommen, den Bürgern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Das ist das gemeinsame Ziel von uns allen, vom Streifenpolizisten bis hinauf zum Kriminaldirektor. Ich weiß, dass unsere Aufgabe nicht einfach zu bewältigen ist – in einem Umfeld mit steigender Kriminalität, die sowohl hausgemacht als auch importiert ist. Ich möchte Ihnen versichern, dass ich immer an Ihrer Seite sein werde, nicht nur als Vorgesetzter, sondern vor allem als Kollege. Ich habe für Sie immer ein offenes Ohr.«

Diesen Spruch habe ich ausnahmslos von allen seinen Vorgängern gehört, denke ich mir. Tja, er hat zwar immer ein offenes Ohr, nur umgibt er sich mit einem undurchdringlichen Wall aus Sekretärinnen und Speichelleckern, den man kaum durchbrechen kann.

Nachdem wir – händeschüttelnd und frohe Ostern wünschend – zunächst beim Minister und danach beim Vize vorbeidefiliert sind, machen wir uns auf den Rückweg ins Präsidium.

»Was halten Sie von ihm?«, frage ich Gikas, als wir in seinen Wagen steigen.

»Ein Bürokrat«, erwidert er trocken. »Als Verbindungsof‌fizier hat Dimitriadis bisher hauptsächlich Ansuchen entgegengenommen und an die zuständigen Stellen weitergeleitet. Alle seine Kenntnisse über Polizeieinsätze sind theoretischer Art. Das bedeutet, er wird uns gehörig piesacken, bis er begreift, wo es langgeht, und selbst Entscheidungen treffen kann. Dazu kommt noch die Angst des Greenhorns vor Verantwortung. Also, jetzt können Sie sich ein Bild machen.«

Als er meine zurückhaltende Reaktion registriert, wirft er mir einen schrägen Blick zu. »Vielleicht denken Sie jetzt, dass ich das alles nur aus Boshaftigkeit sage, weil ich selbst nicht Vizepolizeipräsident geworden bin.«

»Mit Sicherheit nicht! Ich wollte mir Ihre Worte nur genau einprägen«, antworte ich, obwohl ich in Wirklichkeit genau das denke, was er vermutet.

»Ich habe schon erwartet, dass ich irgendwann Polizeipräsident werde«, gibt er zu. »Aber jetzt gehe ich bald in Rente und bin weder Präsident noch Vize geworden.« Nach einer kleinen Pause fährt er etwas gepresst fort: »Ich muss gestehen, dass mir ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Alle möchten die Karriereleiter hochklettern. Sie dürfen da nicht von sich auf andere schließen. Sie sind ja wie ein demütiger Mönch in solchen Fragen.«

»Kann sein, aber wenigstens bleibt mir kein bitterer Nachgeschmack«, halte ich ihm kühl entgegen.

»Da haben Sie recht, aber Sie müssen zugeben, dass Sie Glück gehabt haben. Hätte ich nicht ständig meine schützende Hand über Sie gehalten, wären Sie schon längst in Teufels Küche.«

»Ich weiß, und das habe ich Ihnen, trotz unserer Auseinandersetzungen, auch immer hoch angerechnet.«

»Auseinandersetzungen sind Teil des Zusammenlebens, sowohl im Beruf als auch im Privatleben«, meint er. »Nur, dass Sie jetzt doppelt vorsichtig sein müssen. Bürokraten weichen kein Jota von Gesetzen und Reglementierungen ab. Das weiß ich haargenau, denn solche Leute habe ich ein Leben lang ertragen müssen. Und am Schluss haben sie mich im Regen stehen lassen. Deshalb rate ich Ihnen: Bleiben Sie in Deckung, denn ich fürchte, dass ich Ihnen sonst auch nicht mehr helfen kann.«

So etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht angesichts von Dimitriadis’ Lebenslauf, aber Gikas’ deutliche Worte machen mir jetzt doch zu schaffen.

Und da ein Unglück selten allein kommt, läutet prompt mein Handy.

»Herr Kommissar, zur Abwechslung mal ein Raubmord!«, höre ich Dermitsakis’ Stimme sagen.

»Wo?«

»In der Salaminos-Straße in Chalandri, in einem zweistöckigen Haus mit Garten, ein gewisser Lalopoulos.«

»Gut, bestellt einen Streifenwagen und informiert die Gerichtsmedizin und die Spurensicherung. Ich bin schon unterwegs.«

»Was gibt’s?«, fragt Gikas, worauf ich es ihm berichte.

»Raub klingt schon mal gut«, bemerkt er. »Ohne Bekennerschreiben müssen wir erst mal nicht von einer Organisation ausgehen. Dann kriegen Sie es auch nicht mit dem neuen Vize zu tun.«

Wie schön, sage ich mir. Bleibt zu hoffen, dass weiterhin kein Bekennerschreiben auf‌taucht und tatsächlich ein paar Wertsachen fehlen, so dass der Raub nicht hinterfragt werden muss.

4

Wir fahren den Kif‌issias-Boulevard entlang, dicht gefolgt vom Transporter der Spurensicherung.

»Selbst hier kann man die Autos an den Fingern einer Hand abzählen«, meint Papadakis.

»Na und?«, stichelt Vlassopoulos. »Du suchst nur einen Grund, um rumzumosern. Über die Hälf‌te der Osterurlauber kommt erst am Dienstagabend zurück. Aber die Zeiten sind vorbei, da wir uns alles vom Mund absparen mussten.«

Wir biegen in die Ajias-Varvaras ein und gelangen über die Ethnikis-Antistasseos in die querlaufende Salaminos. Lalopoulos’ Haus liegt auf der rechten Straßenseite. Wir erkennen es am davor geparkten Streifenwagen.

Der zwischen Wohnblocks eingezwängte zweistöckige Bau erinnert an die Zeit, als in Chalandri noch Bauern lebten, die ihre Felder mit Tomaten und Kopfsalat bepflanzten.

»Das Opfer befindet sich im Erdgeschoss, Herr Kommissar«, sagt ein Kollege aus der Streifenwagenbesatzung. »Wenn Sie reinkommen, das erste Zimmer links.«

»Wer hat ihn gefunden?«, frage ich.

»Wir. Er war seit Gründonnerstag nicht mehr auf seiner Arbeit erschienen und war weder über Festnetz noch auf dem Handy zu erreichen. Seine Kollegen haben sich Sorgen gemacht und uns angerufen. Er hatte ihnen erzählt, dass er über die Feiertage in Athen bleiben wollte. Die Nachbarn und der Kioskbesitzer haben ihn offenbar schon ein paar Tage nicht mehr gesehen, aber alle nahmen an, er sei über Ostern verreist. Schließlich haben wir einen staatsanwaltlichen Durchsuchungsbeschluss beantragt und ihn gefunden.«

»War die Tür schon aufgebrochen?«, fragt Papadakis.

»Nein, sie war unversehrt, ein Schlosser hat sie für uns geöffnet.«

Das Opfer kannte somit entweder die Täter, oder die Täter sind Griechen, denn Ausländern hätte er die Tür nicht geöffnet.

Um zum Leichenfundort zu gelangen, müssen wir erst noch ein paar Treppenstufen hochsteigen, dem Verwesungsgeruch nach.

Das etwa fünfzigjährige Opfer sitzt, die Arme auf dem Rücken gefesselt, auf einem Drehstuhl im Wohnzimmer direkt vor dem Fernseher. Seine Augen sind vor Schreck weit aufgerissen. Es wurde ihm mitten in die Stirn geschossen.

»Das waren zwei bis drei Täter«, meint Dermitsakis. »Einer allein hätte ihn nicht auf diese Weise fesseln können, denn er hat bestimmt Widerstand geleistet.«

Alle schweigen und bestätigen dadurch seine Annahme.

Dimitriou von der Spurensicherung holt Mundschutzmasken aus seiner Tasche. »Wir sollten uns besser vorsehen«, meint er.

Nachdem wir die Masken angelegt haben, sehen wir uns ein wenig um.

Das Wohnzimmer ist klein, wie immer in so alten Häusern. An der Wand steht ein Bücherregal mit zahlreichen Nippesfiguren, aber nur wenigen Büchern. In der Mitte des Regals thront der Fernseher mit seinem dunklen Bildschirm. Die Fernbedienung ist Lalopoulos aus der Hand geglitten und liegt zu seinen Füßen. Am Fenster zur Straße stehen zwei Sessel einem Sofa gegenüber, dazwischen ein niedriger Couchtisch.

»Die Täter müssen nachts gekommen sein«, analysiert Vlassopoulos mit Blick auf die geschlossenen Jalousien.

»Logisch, tagsüber hätte man sie bemerkt«, hält ihm Dermitsakis entgegen.

Das bekräf‌tigt die Annahme, dass Lalopoulos die Täter kannte. Nachts hätte er die Tür niemandem geöffnet, auch keinen Griechen. Offensichtlich sah er gerade fern und schaltete das Gerät aus, als die Besucher eintrafen. Vielleicht haben es aber auch die Täter getan, um in aller Ruhe vorzugehen, aber das ist eher unwahrscheinlich.

Die beiden in das Bücherregal integrierten Schränkchen stehen offen, und der Inhalt liegt auf dem Boden verstreut.

»Man kann sich vorstellen, wie die übrigen Räume aussehen«, bemerkt Dimitriou.

Gleich gegenüber vom Wohnzimmer liegt die Küche, in der außer Kühlschrank und Herd nur noch ein quadratischer Tisch mit zwei Stühlen Platz hat. Obwohl die Schubladen herausgezogen sind und die Schranktüren offen stehen, liegt nichts herum. Offenbar haben die Täter nur kurz einen Blick hineingeworfen und sich, da sie nicht einmal Lebensmittel vorfanden, gleich die nächsten Räume vorgeknöpft.

Die erste Etage erreichen wir über eine Treppe, die zwischen Wohnzimmer und Küche nach oben führt.

Das Obergeschoss ist ähnlich einfach gehalten wie das Erdgeschoss, hier gibt es zwei Räume, die durch ein Bad verbunden sind, der links muss Lalopoulos’ Schlafzimmer gewesen sein. Hier haben die Täter ganze Arbeit geleistet: Der Schrank steht sperrangelweit offen, sämtliche Jacketts und Hosen wurden gefilzt und mit umgestülptem Futteral zu Boden geworfen. Auch Hemden, Pullover, Socken und Unterwäsche sind in alle Winde zerstreut, die Schubladen sind leer. Das Doppelbett wurde durchwühlt, und eine der beiden Matratzen liegt zusammen mit Laken und Decke am anderen Ende des Zimmers.

Der zweite Raum ist ein Kinderzimmer, hier hat man kaum etwas angetastet. Nur der Kleiderschrank wurde flüchtig durchsucht.

»Wenn er eine Familie hatte, wo sind dann Frau und Kind?«, wundert sich Vlassopoulos.

»Möglicherweise sind sie über Ostern verreist und noch nicht zurück«, meint Dermitsakis.

Nachdem Papadakis einen Blick in den Kleiderschrank geworfen hat, geht er kurz aus dem Zimmer. Da er offenbar etwas überprüfen möchte, warten wir ab.

»Sie können nicht verreist sein«, sagt er, als er wiederkommt. »In den anderen Schränken ist weder Frauen- noch Kinderkleidung zu finden. Wenn man in die Ferien fährt, nimmt man nicht die ganze Wäsche mit. Höchstwahrscheinlich leben sie getrennt. Meiner Meinung nach hat ihn seine Frau verlassen.«

Hut ab. Wenn Papadakis nach der Hochzeit mit Koula um seine Versetzung ansucht, wird er mir fehlen, denke ich.

Wir überlassen der Mannschaft der Spurensicherung das Feld und kehren ins Erdgeschoss zurück, wo mittlerweile der Gerichtsmediziner eingetroffen ist. Meine Freude ist groß, als ich anstelle des verkniffenen Stavropoulos seinen Assistenten Ananiadis entdecke.

»Wo ist denn Ihr Chef?«, frage ich.

»Im Osterurlaub. Er kommt erst nächste Woche zurück. Er hat noch ein paar zusätzliche Urlaubstage genommen, um seinen Sohn zu besuchen, der in den USA studiert.«

»Sind Sie fertig?«

»Mit den Voruntersuchungen ja. Alles Weitere weiß ich nach der Obduktion. Was wollen Sie vorab wissen?«

»Die Tötungsart ist ja offensichtlich. Was uns in erster Linie interessiert, ist die Tatzeit.«

»Vom Verwesungsstadium her betrachtet muss er vor circa fünf Tagen ums Leben gekommen sein, das heißt, am Gründonnerstagabend oder am Karfreitagmorgen.«

»Vermutlich ist er abends umgebracht worden, da die Jalousien im Zimmer heruntergelassen waren.«

»Nach der Obduktion kann ich mich genauer festlegen.«

»Wir müssen ihn durchsuchen, bevor Sie ihn in die Gerichtsmedizin mitnehmen«, erläutere ich ihm und bedeute den Mitarbeitern der Spurensicherung, loszulegen.

Doch die Kollegen und Vlassopoulos sind schnell fertig, da der Tote nur Hose, Hemd und eine Jacke ohne viele Taschen trägt.

»Nichts zu finden«, bemerkt Papadakis. »Weder Brief‌tasche noch Autoschlüssel.«

»Auch nicht im Schlafzimmer«, ergänzt Dimitriou.

»Die einfachste Erklärung wäre: Sie haben ihm Brief‌tasche und Schüssel abgenommen und sind mit seinem Auto geflohen«, sage ich.

»Habt ihr einen Computer gefunden?«, fragt Vlassopoulos Dimitriou.

»Weder Handy noch Computer oder Tablet. Wir suchen weiter, aber solche Dinge sind normalerweise nicht irgendwo gebunkert, sondern liegen offen herum.«

Wir lassen ihn mit seinem Team weiterarbeiten und nehmen uns das Wohnviertel vor. Die Fragen, die wir stellen wollen, sind ganz konkret: Was Lalopoulos für ein Mensch war und wo er arbeitete, was mit seiner Familie ist und ob er ein Auto hatte.

Wir teilen uns in zwei Zweiergruppen auf. Vlassopoulos und ich übernehmen die Kurzwarenhandlung, die von einer weißhaarigen Frau um die Sechzig geführt wird.

»Der arme Herr Pavlos!«, ruft sie aus, als sie den Grund unseres Besuchs erfährt. »Wo soll das noch hinführen! Sogar an Ostern dringen sie in unsere Häuser ein und bringen uns um, nur weil sie uns berauben wollen … Die einfachen, anständigen Leute machen die Leiden Christi auf Erden durch.« Sie holt Luft und fährt, an uns gerichtet, fort: »Aber ihr habt uns den Dschihadisten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Von morgens, wenn man seinen Laden öffnet, bis spät abends, wenn man schlafen geht, hat man keine ruhige Minute mehr. Es fehlen einem die Worte! Angesichts einer solchen Polizei sollten wir Bürgerwehren aufstellen.«

»Haben Sie Pavlos Lalopoulos persönlich gekannt?«, frage ich, ohne mich auf eine Diskussion über die Unzulänglichkeit unserer Zunft einzulassen.

»Wer kannte Herrn Pavlos nicht? Er war ein waschechter Chalandriote. Sein Vater besaß einen Gemüsegarten, in dem er Lauchzwiebeln und Kopfsalat anpflanzte. Dann hat er ihn an einen Bauunternehmer verkauft, um seinem Sohn das Studium in England zu ermöglichen. Der kam dann mit einer bleichen Britin, dieser Jenny, zurück, die ihm das Leben zur Hölle gemacht hat. Aber statt sie vor die Tür zu setzen, hat er auch noch ein Kind mit ihr gemacht. Zu guter Letzt hat sie den Jungen mit nach England genommen.«

Redselige Zeugen sind immer wieder ein Segen. Wir müssen überhaupt keine zusätzlichen Fragen mehr stellen, sie hat uns schon alles von sich aus erzählt.

»Leben seine Eltern noch?«, fragt Vlassopoulos.

»Nein, beide sind schon tot. Der jüngere Bruder Charis hatte sich mit dem Vater überworfen und ist nach Kanada ausgewandert. Seitdem hat er jeden Kontakt zur Familie abgebrochen.«

»Was hat Lalopoulos beruf‌lich gemacht?«, fragt Vlassopoulos.

»Er hatte eine leitende Position bei EOT, der Griechischen Fremdenverkehrsbehörde.«

»Wissen Sie, ob er ein Auto hatte?«

»Aber natürlich! Er hatte einen Geländewagen. Welcher Marke weiß ich allerdings nicht.«

Uns reicht die Information, dass es ein Geländewagen war. Ich ziehe das Handy aus der Tasche, um Dimitriou die Anweisung durchzugeben, sich nach dem Wagen umzusehen.

»Ich wollte Sie auch gerade anrufen«, meldet er sich, ohne mich zu Wort kommen zu lassen. »Kommen Sie bitte noch mal her, ich muss Ihnen etwas zeigen.«

Auf dem Rückweg zu Lalopoulos’ Haus sprechen wir noch mit Papadakis und Dermitsakis, dem anderen Zweierteam. Offenbar haben sie genau das Gleiche herausgefunden wie wir.

Dimitriou erwartet uns im Wohnzimmer. Die Leiche ist inzwischen in die Gerichtsmedizin abtransportiert worden.

»Kommen Sie mit, wir haben etwas Interessantes gefunden«, sagt er und geht zur Treppe.

Auf dem Weg nach oben erzähle ich ihm von Lalopoulos’ Geländewagen.

»Wir überprüfen das«, sagt er. »Wenn er nicht hier in der Gegend geparkt wurde, heißt das, die Einbrecher haben ihn als Fluchtfahrzeug benutzt und irgendwo stehen lassen.«

Dimitriou führt uns ins Kinderzimmer, geht direkt auf das offensichtlich von der Spurensicherung durchsuchte Kinderbett zu und dreht die Matratze um. Darin wird ein Schnitt sichtbar, der mit Klebeband überdeckt wurde. Dimitriou löst es ab, zwängt seine Hand in den Spalt und zieht ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Fünfzig-Euro-Scheine heraus.

»Sie müssen nicht nachzählen«, sagt er mit einem Lächeln. »Es sind fünfzigtausend.«

»Schwarzgeld«, kommentiert Dermitsakis das Offensichtliche.

»Schmiergeld«, erwidert Papadakis. »Es fragt sich nur, von wem er geschmiert wurde.«

Ich mische mich nicht in die Unterhaltung ein, da mich andere Fragen beschäf‌tigen. Wie ist es möglich, dass die Einbrecher, die das ganze Haus auf den Kopf gestellt haben, ausgerechnet das Kinderzimmer übergangen haben? Wenn sie am Gründonnerstagabend eingedrungen sind, wurden sie wohl kaum gestört, da alle Welt in der Kirche war. Wieso haben sie nur Portemonnaie, Handy und Computer mitgenommen und nicht weitergesucht?

Aber mir geht noch etwas anderes gegen den Strich. Ertappte Einbrecher töten mit Messern oder schießen blind drauf‌los, weil sie den Zeugen schnell loswerden und ans Diebesgut kommen wollen. Der Schuss mitten in die Stirn ist eher ein Indiz für eine Hinrichtung. Genauso wie die Fünfzigtausend, die unberührt vorgefunden wurden.

Alles deutet darauf hin, dass sich Gikas’ Befürchtung bestätigen könnte und ich es schließlich doch mit dem neuen Vize zu tun bekomme. Da jedoch – auf den ersten Blick zumindest – ein Einbruch zum Mord geführt hat, gebe ich vorläufig lieber dieser These den Vorrang.

5

Ich folge dem weisen Spruch »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste« und erstatte Gikas Bericht, und zwar nicht nur über die Ermittlungen am Tatort, sondern auch über meine Befürchtung, dass die Täter womöglich keine simplen Einbrecher waren, sondern der Polizei nur Sand in die Augen streuen wollten und es in Wirklichkeit um eine Hinrichtung geht.

»Welche Hinweise stützen diese Annahme?«, fragt er.

»Zunächst einmal der Schuss in die Stirn, aber vor allem die Fünfzigtausend, die im Kinderbett gefunden wurden.«

»Warum?«

»Erstens, weil Einbrecher immer auch die Matratzen untersuchen, da sie das klassische Versteck für Bargeld sind. Zweitens deutet dieses Geld darauf hin, dass das Opfer an Schwarzgeldtransaktionen beteiligt war. Ob es sich jetzt um Schmiergeld oder etwas anderes handelt, kann ich nicht sagen, aber wir oder das Amt für Geldwäschebekämpfung finden da bestimmt einen Anhaltspunkt.«

»Ich verstehe«, meint er nach einer kurzen Denkpause. »Trotzdem sollten wir einen Raubmord nicht ausschließen, bis wir genügend Beweise für eine Hinrichtung haben.«

Ich verlasse Gikas’ Büro mit frischem Elan und mache mich auf den Weg zu meinen Assistenten. Vielleicht haben sie etwas über Lalopoulos’ Vergangenheit und seine beruf‌liche Karriere herausgefunden.